Ossietzky-Affäre

Ossietzky-Affäre
Haupteingang der EOS "Carl von Ossietzky" (1987)

Die Ossietzky-Affäre bezeichnet die Vorgänge an der Ostberliner Carl-von-Ossietzky-Oberschule im Herbst 1988. Am 30. September 1988 wurden Schüler von der Schule geworfen, weil sie sich offen für die Opposition in Polen und gegen Militärparaden und Rechtsextremismus in der DDR ausgesprochen hatten. Das Vorgehen der offiziellen Stellen gegen die Schüler löste in Ost und West Proteste aus.

Inhaltsverzeichnis

Vorgeschichte

Auf Wunsch der FDJ-Grundorganisation erteilte der Direktor der EOSCarl von Ossietzky“ zu Beginn des Schuljahres 1988/89 die Genehmigung, eine „Speaker’s Corner“ einzurichten. Hier sollten die Schülerinnen und Schüler offen und unzensiert Stellung zu den sie bewegenden Themen nehmen.[1]

Die Kritik der Schüler

Einige Schüler der Schule waren dem MfS bereits zuvor aufgefallen. Zu der „Gedenkkundgebung zur Ehrung der Opfer des Faschismus“ am 11. September 1988 waren sie mit selbstangefertigten Transparenten gegen faschistische Tendenzen und Neonazis in der DDR erschienen. Nur einen Tag darauf hefteten zwei von ihnen den kritischen Artikel „So sehen wir das. Anmerkungen zur derzeitigen Situation in der VR Polen“ an die Wandzeitung der Schule. Dieser endete mit der Aufforderung zu Reformen und einer Machtbeteiligung der Solidarność und anderer oppositioneller Gruppen. Dieser wurde noch am selben Tag von ihrem Mitschüler Karsten Krenz, Sohn des späteren SED-Generalsekretärs Egon Krenz, entfernt und am Tag darauf mit einem kritischen Kommentar wieder angebracht. Somit hatte die Parteiführung von Anfang an Einblick in die Vorgänge.[1]

Am 14. September wurde ein weiterer Artikel angebracht, der die Notwendigkeit von Militärparaden anlässlich des Jahrestages der DDR bezweifelte und zu einem Verzicht auf selbige aufforderte. Dieser war mit einer Unterschriftenliste versehen, auf der sich 38 der rund 160 Schüler eintrugen, bis die Aktion durch den Stadtbezirksschulrat gestoppt wurde. Zugleich setzten scharfe Attacken gegen Schule und Schüler ein. Die Schüler beantworteten diese mit einem Lobgedicht auf die Kalaschnikow aus der Zeitung „Die Volksarmee“, welches mit einem ironischen Kommentar versehen wurde.[1]

Die Reaktion der Schulleitung und anderer offizieller Stellen

Die Vorgänge alarmierten die MfS-Kreisdienststelle Pankow, welche umgehend die inoffizielle Mitarbeiterin (IM) „Ilona“ für Spitzeldienste gegen Schüler und einzelne Lehrer in Stellung brachte.[2] Unter den beteiligten Schülern war unter anderem Philipp Lengsfeld, Sohn der kurz zuvor ausgebürgerten Oppositionellen Vera Lengsfeld.

Ab dem 22. September begannen an der Schule Diffamierungen, Verhöre und tribunalähnliche Versammlungen. Auf Druck der Schule wurden von den 38 Unterschriften 30 zurückgezogen. Lediglich Kai Feller, Katja Ihle, Philipp Lengsfeld, Benjamin Lindner, Georgia von Chamier, Shenja-Paul Wiens und zwei weitere Schüler blieben bei ihrer Aussage.[1] Auf Druck der FDJ-Grundorganisationsleitung wurden in den Klassen Abstimmungen zum Ausschluss der Schüler aus ihren FDJ-Gruppen abgehalten.[2] Die Vorwürfe lauteten „antisozialistisches Verhalten“, „verräterische Gruppenbildung“ und „Gründung einer pazifistischen Plattform“.[3] Am 30. September inszenierte die Schulleitung die Relegierung der beteiligten Schüler. Diese mussten in der Aula vortreten und wurden ohne Möglichkeit auf eine eigene Stellungnahme vor der versammelten Schule der Aula verwiesen. Hierbei solidarisierten sich Teile der Schülerschaft mit den vom Ausschluss bedrohten Schülern. Der Protest einzelner Schüler, die zwar den FDJ-Ausschluss befürwortet hatten, einen Ausschluss von der Schule aber ablehnten, änderte jedoch nichts. Feller, Ihle, Lengsfeld und Lindner wurden von der Schule relegiert, von Chamier und Wiens auf andere Schulen strafversetzt. Die anderen beiden erhielten einen schriftlichen Verweis.[2]

Solidarität mit den Schülern

Die Vorgänge lösten in der Gesellschaft Bestürzungen aus, da viele sich an die politische Repression und das kompromisslose Vorgehen gegen Oppositionelle an DDR-Schulen in den fünfziger Jahren erinnert sahen. Eine ungeahnte Welle der Solidarität mit den acht Schülern entstand. So wurde das Schulgebäude Anfang November mit der Parole „Weiterfragen!“ versehen.[2] Schon am 16. Oktober berichteten die Umweltblätter der Berliner Umwelt-Bibliothek über die Vorgänge. Unter dem Titel „Was geschieht an unseren Schulen?“ verbreitete Wolfgang Rüddenklau die Einladung zu einer Strategiekonferenz in der Berliner Zionskirche. Unter dem Titel „Das Risiko eine eigene Meinung zu haben“ berichteten die Umweltblätter im Dezember noch ausführlicher über den Fall. Zudem stellten sie 3000 Flugblätter her, die über die Vorkommnisse aufklären sollten.[4] Auch zahlreiche Kirchen beteiligten sich mit Informations- und Solidaritätsgottesdiensten an den Protesten. Die Durchführung von kirchlichen Aktionswochen wurde durch den Generalsuperintendenten Günter Krusche behindert, der in Abstimmung mit dem Berliner Superintendenten Manfred Stolpe den Kirchen nahe legte „derartige Veranstaltungen in den Kirchen und Gemeindehäusern nicht zuzulassen“.[4] Unterstützung erfahren die Schüler auch aus der Bundesrepublik. Lehrer Westberliner Schulen richteten einen öffentlichen Appell an die Regierung der DDR um somit gegen die Repressalien zu protestieren. Auch die Internationale Vereinigung der Ärzte gegen Atomkrieg (IPPNW) verurteilte die staatlichen Maßnahmen in einem öffentlichen Brief in ihrer Zeitschrift.[3]

Fazit

All die Proteste halfen nichts, die Urteile blieben zunächst bestehen. Zudem stand die Schule fortan unter besonderer Kontrolle der Stasi. Erst im November 1989 nach der Wende in der DDR tilgte das Volksbildungsministerium die Schulstrafen, sodass die vier der Schule verwiesenen Schüler ihr Abitur nachholen konnten. Heute besitzen alle bestraften Schüler ein Abitur. Trotz alledem waren die Vorgänge die Bestätigung dafür, dass auch unter dem von Margot Honecker geführten, autoritären Bildungssystem Jugendliche heranwuchsen, die trotz aller Repression von ihrem per Verfassung verbrieften Recht auf Meinungsäußerung Gebrauch machen wollten. Der DDR-Bürgerrechtler Jens Reich sah die acht Schüler somit als „Pioniere der revolutionären Bewegung“.[3]

Literatur

  • Kalkbrenner, Jörn: Margot Honecker gegen Ossietzky-Schüler. Urteil ohne Prozess, Berlin 1990.

Weblinks

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. a b c d Vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk: Die Ossietzky-Äffäre 1988, in: Hans-Joachim Veen/Hubertus Knabe/Peter Eisenfeld/Manfred Wilke u. a. (Hrsg.): Lexikon Opposition und Widerstand in der SED-Diktatur, Berlin 2000, S. 274.
  2. a b c d Vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk: „Rausgeschmissen“ – Die Relegation von Schülern der Carl-von-Ossietzky-Schule, eingesehen am 19. Juli 2011.
  3. a b c Vgl. Jugendopposition in der DDR: Die Ereignisse an der Berliner Ossietzky-Schule, [1].
  4. a b Vgl. Neubert, Ehrhart: Geschichte der Opposition in der DDR 1949-1989, Bonn 2000, S. 774f.

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