Strahlentherapie bei gutartigen Erkrankungen

Strahlentherapie bei gutartigen Erkrankungen
Strahlentherapie eines Fersenspornes am Linac

Die Strahlentherapie bei gutartigen Erkrankungen ist eine Form der Strahlentherapie, eine medizinische Anwendung von ionisierenden Strahlen (Röntgen- und Gammastrahlen) zur Behandlung von nicht malignen Erkrankungen, meist von Verschleißerscheinungen und Entzündungen der Gelenke. Synonym werden die Bezeichnungen Reizbestrahlung und Röntgentiefenbestrahlung gebraucht.

Inhaltsverzeichnis

Geschichte

Bereits 1896, ein Jahr nach ihrer Entdeckung, verwendete der Wiener Hautarzt Leopold Freund die Röntgenstrahlung erstmals für eine Krankenbehandlung. Er bestrahlte mit Erfolg den behaarten Naevus eines jungen Mädchens. 1897 veröffentlichte Hermann Gocht die Strahlenbehandlung bei Trigeminusneuralgie, und A. Sokolow schrieb in den RöFo über die Strahlentherapie gegen Gelenkentzündungen. Der Freiburger Radiologe Günther von Pannewitz (1900-66) perfektionierte die von ihm so genannte "Röntgenreizbestrahlung" bei degenerativen Erkrankungen in den 1930er Jahren. Mit der zunehmenden Verbreitung leistungsfähigerer Röntgenröhren und von Telekobalt-Geräten konnten die Therapien auch tiefgelegenerer Körperschichten angegangen werden. Vorübergehend gab es ein breites Spektrum gutartiger Erkrankungen, die man bestrahlte: Ekzeme, Eiterungen, Rheuma, Keloide, Fisteln und viele andere. Mit dieser im Nachhinein zu unkritischen Ausweitung der Methode kam es zu Nebenwirkungen, vor allem zu einer besorgniserregenden Häufung von Krebserkrankungen bei den oft noch jungen Patienten. 1959 erschien ein Bericht der britischen Gesundheitsbehörden mit einer alarmierend erhöhten Leukämierate unter Patienten, die eine Strahlentherapie der Wirbelsäule gegen den Morbus Bechterew erhalten hatten. Daraufhin wurde die Strahlentherapie gutartiger Erkrankungen in den westlichen Staaten fast völlig eingestellt [1]. In den ehemaligen Warschauer Pakt-Staaten, die schlechter mit Alternativverfahren wie z.B. modernen entzündungshemmenden Medikamenten versorgt waren, verlor sie weniger stark an Boden. Mittlerweile gibt es Bestrebungen, die Methode mit einem eingeschränkten Indikationsspektrum und bei ausschließlich älteren Patienten wieder zu etablieren. Gegenwärtig werden in Deutschland wieder ca. 40 000 Strahlentherapien bei gutartigen Erkrankungen im Jahr durchgeführt [2].

Wirkungsweise

Im Tierversuch hatte die niedrig dosierte Strahlentherapie Auswirkungen auf die zelluläre Immunreaktion (Apoptose von Lymphozyten, verminderte Aktivität von entzündlich aktivierten Makrophagen und Endothelzellen). Ab ca. 12 Gy wurde auch die Aktivität von Fibroblasten gebremst, was die Hemmung von überschiessender Narbenbildung erklären könnte. Kurz vor oder nach einer Operation gegebene Strahlung hemmte außerdem die Differenzierung mesenchymaler Stammzellen zu Osteoblasten; damit kann die Neubildung von krankhaften Verknöcherungen im Wundgebiet verhindert werden. Am Menschen wurden bislang fast ausschließlich retrospektive Daten erhoben; aktuelle kontrolliert-randomisierte Studien liegen nicht vor und sind bei der insgesamt geringen Patientenzahl einzelner Einrichtungen auch kaum noch zu erwarten. Immerhin arbeiten neuere Studien oft mit objektivierbaren Scores zusätzlich zur einfachen Selbsteinschätzung der Patienten. Die Erfolgsrate in den vorliegenden Studien schwankt zwischen 50% und 80%; die besten Ergebnisse wurden bei Behandlung von Schulter, Ellbogen und Fersensporn erzielt.[3]

Indikationen und Dosierungen

Nach dem Stand aktueller Lehrbücher sind die folgenden gutartigen Erkrankungen der Strahlentherapie zugänglich, wobei jeweils gegen die Erfolgsraten und Risiken konkurrierender Verfahren (Nichtsteroid-Antiphlogistika, Operationen) abzuwägen ist:

  • Akute Entzündungen (Furunkel, Hidradenitis, Panaritium, Paronychie, Ekzeme, Psoriasis) können mit sehr niedrigen Gesamtdosen (0.5 - 2.0 Gy) behandelt werden;
  • Chronische Entzündungen (Insertionstendinopathien wie PHS, Epicondylopathia humeri, Calcaneodynie, aktivierte Arthrose, Endokrine Orbitopathie) benötigen etwas höhere Dosierungen, ca. 6-12 Gy;
  • Gutartige Wucherungen (Morbus Dupuytren, Morbus Ledderhose, Morbus Peyronie, Keloide, Verknöcherungen, Pterygium) müssen vorbeugend oder im Frühstadium bestrahlt werden, in der Regel mit 12-24 Gy.
  • Zeitweise gab es Geräte zur Bestrahlung der Herzkrankgefäße nach gefäßerweiternden Eingriffen, um dort die Entstehung von Narbengewebe zu verhindern. Durch neu entwickelte Stents ist diese Indikation in den letzten Jahren obsolet geworden.

Zum Vergleich: die Strahlentherapie bei Krebserkrankungen verwendet bei konventioneller Auftreilung auf kleine Einzeldosen in der Regel mindestens 45-70 Gy.

Aktuelle Behandlungsprinzipien fordern eine interdisziplinäre Indikationsstellung (d.h. gemeinsam mit Orthopäden und Chirurgen), eine Nutzen-Risiko-Analyse und dementsprechende Information des Betroffenen, die Ausschöpfung der Strahlenschutzmaßnahmen und die Dosisberechnung und Dokumentation entsprechend gültiger Regelungen (ICRU-50, StrSchVO). Verwendet werden zumeist Linearbeschleuniger; bei Verfügbarkeit auch noch die älteren Röntgeneinrichtungen zur Strahlentherapie. Die Patienten sollen durch den Strahlentherapeuten wenigstens sechs Monate lang nachuntersucht werden.

Risiken

Wie bei allen Strahlentherapien hängt das Risiko sehr von der genauen Lage und Anordnung der Strahleneintrittsfelder und vom Alter des Patienten ab. Besonders gefürchtet ist die Karzinogenese (Krebsentstehung) durch ionisierende Strahlen. Sogenannte kritische Organe (engl. organs at risk) hierfür sind vor allem die Schilddrüse, die weibliche Brust, die Gonaden, und das Knochenmark. Bei Schonung dieser Organe und bei Beschränkung der Therapie auf Patienten über 45 Jahre bleibt das Risiko in der Größenordnung von 1:10000. In der Praxis wichtiger als die Karzinogenese sind Funktionsstörungen von besonders strahlenempfindlichen Organen: Das Herz, die Gonaden, die Augenlinse und kindliche Wachstumsfugen am Skelett dürfen jeweils nur mit sehr kleinen Dosen belastet werden, um Schäden sicher zu vermeiden.

Zum Vergleich: Das Risiko einer potentiell tödlichen Darmblutung bei langdauernder Einnahme von NSAID (Schmerzmittel vom Aspirintyp) beträgt 70% [4].

Einzelnachweise

  1. Smith P: The 1957 MRC report on leukaemia and aplastic anaemia in patients irradiated for ankylosing spondylitis. J. Radiol. Prot. 27 B3-B14. doi:10.1088/0952-4746/27/4B/R01
  2. Seegenschmiedt MH, Micke O, Willich N: Radiation therapy for nonmalignant diseases in Germany. Current concepts and future perspectives. Strahlenther Onkol. 2004 Nov;180(11):718-30. PMID 15549190
  3. http://www.radiologen-konstanz.de/uploads/media/Benigne-Erkrankungen.pdf
  4. The Medical News 4. Januar 2005: Chronic users NSAIDs have greater risk of bleeding and visible damage to their small intestine

Literatur

  • Seegenschmiedt H, Makoski H, Trott K, Brady L (Herausgeber): Radiotherapy for Non-Malignant Disorders: Contemporary Concepts and Clinical Results. Springer, 2007. ISBN 354062550X
  • Order S, Donaldson S: Radiation Therapy of Benign Diseases: A Clinical Guide. Springer, 2003. ISBN 3540005757
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