- Deutsche Kulturnation
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Der Begriff der Kulturnation beschreibt eine Auffassung, die unter einer Nation eine Gemeinschaft von Menschen versteht, die sich durch Sprache, Traditionen, Kultur und Religion miteinander verbunden fühlen, also durch Zugehörigkeit zu einer Kultur und nicht durch Abstammung. Die gemeinsame Kultur erzeugt im Falle einer Kulturnation ein Nationalgefühl. Sie ist einem Staat gedanklich vorgelagert und von staatlichen Grenzen unabhängig. Eine Kulturnation kann auch dauerhaft ohne den ihr zugeordneten Nationalstaat existieren. Oft, insbesondere im Fall „verspäteter Nationen“, geht das im Begriff der Kulturnation enthaltene Zusammengehörigkeitsgefühl zeitlich der Gründung eines Nationalstaats voraus, so im Falle Deutschlands und Italiens im 19. Jahrhundert.
Inhaltsverzeichnis
Schaffung eines Gefühls der Zusammengehörigkeit und Abgrenzung von anderen Nationen
Der Begriff der Nation hat von vornherein subjektiven Charakter, weil sein zu beschreibender Gegenstand das Selbstverständnis der Menschen ist, er gehört der Wertsphäre an.[1] Man kann streng genommen also die Zugehörigkeit eines Menschen zu einer (Kultur-)Nation nicht „feststellen“, sondern nur subjektiv bewerten.
Basis einer Kulturnation ist ein Volk. Dieser Begriff eines Volkes ist von dem politisch-rechtlichen Begriff des Staatsvolkes, der die Gesamtheit aller Staatsangehörigen eines Staates darstellt, zu unterscheiden. Wenn von Kulturnation gesprochen wird, versteht man unter dem Volk den Träger des Volkstums, unabhängig davon, in welchen Staaten, in welchen Grenzen und unter welcher Herrschaft es lebt. Zentrales Kriterium der (Selbst-)Zuordnung eines Menschen zu einem bestimmten Volk im oben genannten Sinn ist die Muttersprache dieses Menschen.
Dem steht der Begriff der Politischen Nation gegenüber, die sich nicht über ethnische Merkmale definiert, sondern die Verbindung ihrer Menschen über eine Rechtsgemeinschaft festlegt. Weil eine Rechtsgemeinschaft ausschließlich auf dem über den Staat verlautbarten (fingierten) „Willen“ ihrer Mitglieder beruht (Volkssouveränität), spricht man hier von Willensnation oder Staatsnation. Typische Vertreter sind die Schweiz oder die USA.
Betonung der in einem Staat existierenden Hochkultur
Gelegentlich wird der Begriff Kulturnation auch zur Betonung der Ansicht benutzt, dass eine bestimmte Nation eine besonders wertvolle Kultur hervorgebracht habe und ihre Mitglieder besonders gebildet seien. Als besonders schmerzlich empfinden es beispielsweise Anhänger dieser Sichtweise, dass das Konzentrationslager Buchenwald nur wenige Kilometer von den Wirkungsstätten Goethes und Schillers in Weimar entfernt liegt. Den wertenden Aspekt des Begriffs Kulturnation brachte Bundespräsident Horst Köhler am 3. Oktober 2008 mit den Worten: „Kulturlosigkeit öffnet die Tür zur Barbarei“ auf den Punkt.[2]
Der Auffassung, Kultur und Barbarei seien unvereinbare Gegensätze, widerspricht Walter Benjamin: „Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. Und wie es nicht frei ist von Barbarei, so ist es auch der Prozess der Überlieferung nicht, in der es von dem einen an den anderen gefallen ist.“[3]
Im Sinne einer „Staatsnation mit einer hochentwickelten Kultur“ sind auch Länder wie Frankreich Kulturnationen, auf die das Definitionselement der Staatsgrenzen ignorierenden Kulturnation nicht zutrifft.[4]
Im wertenden Sinne zu verstehen ist auch der häufig in politischen Auseinandersetzungen benutzte Topos: „Das ist einer Kulturnation unwürdig.“ (Beispiel: Kommentare zur drastischen Kürzung des Kulturetats 2009 in Italien)[5]
Der Begriff Kulturnation im deutschsprachigen Raum im 19. Jahrhundert
Der Begriff bürgerte sich Ende des 19. Jahrhunderts ein.[6] Er wurde von Befürwortern einer weniger durch Politik und militärische Macht als durch Kulturmerkmale repräsentierten Nationsdefinition wie dem Historiker Friedrich Meinecke verwendet. Meinecke sah in den kulturellen Gemeinsamkeiten neben gemeinsamem „Kulturbesitz“ (z. B. die Weimarer Klassik) vor allem religiöse Gemeinsamkeiten. Von Volkstum ist bei ihm noch nicht die Rede. Damit bekommt der Begriff deutsche Kulturnation einen wertenden, und zwar die Deutschen aufwertenden Unterton (vgl. den Topos von den Deutschen als dem Volk der Dichter und Denker). Wolfgang Thierse schrieb 2005 über die Zeit vor der Gründung des Deutschen Reichs: „Die deutsche Nation entstand, als der deutsche Nationalstaat historisch noch in weiter Ferne lag. Die Deutschen konnten nicht auf feste Grenzen zurückgreifen, wenn sie einen Begriff von sich als Nation entwickeln wollten. Was sie gemeinsam hatten, waren Sprache, Traditionen und Nationalsymbole, die Erinnerung an einige große Köpfe wie Martin Luther oder Johannes Gutenberg oder die Erinnerung an das versunkene Alte Reich.“[7]
Der Begriff der Kulturnation steht im engen Zusammenhang mit dem Aufkommen des Nationalismus. Das Bewusstsein, eine Nation zu sein, bildete sich im 19. Jahrhundert zuerst bei Menschen mit gehobener Formalbildung, nicht bei der Masse der Bevölkerung. Das Bildungsbürgertum, später Burschenschaften und Turnvereine, waren die ersten, die Deutschland als bereits existierende geistig hoch entwickelte Nation betrachteten und angesichts der Fragmentierung Deutschlands in Kleinstaaten den Begriff der Nation als oppositionellen politischen Begriff verstanden. Sie wollten freie Deutsche sein und nicht mehr Untertanen in kleinen Fürstentümern mittelalterlicher Prägung.
Dabei stand das ethnische Element noch nicht im Vordergrund: Als 1848 in der Frankfurter Paulskirche die Grundrechte diskutiert wurden, wurde festgelegt:
- Jeder ist ein Deutscher, der auf dem deutschen Gebiet wohnt […] die Nationalität ist nicht mehr bestimmt durch die Abstammung und die Sprache, sondern ganz einfach bestimmt durch den politischen Organismus, durch den Staat […] das Wort „Deutschland“ wird fortan ein politischer Begriff.
Die gescheiterte deutsche Revolution von 1848 verstand also Deutschland als politische Nation, nicht als ethnisch fundierte Gemeinschaft.
Das schließlich nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 gegründete Deutsche Reich definierte die Nation zunächst nicht neu. Das alte Staatsbürgerschaftsrecht seiner Gliedstaaten blieb bestehen. Das preußische Staatsbürgerrecht von 1842 war nicht ethnisch gewesen, es musste von der Realität des Zweivölkerstaates ausgehen, da Preußen gemeinsam mit Russland und Österreich-Ungarn Polen aufgeteilt hatte und deshalb viele ethnische Polen in Preußen lebten. Erst die Völkische Bewegung schuf die geistigen Grundlagen, die dem Begriff der Nation eine ethnische Bedeutung verliehen. 1913 wurde das ius sanguinis, das Abstammungsrecht, bei der Festlegung der deutschen Staatsangehörigkeit gesetzlich festgelegt. Die nationale Identität wurde damit von oben verordnet, es wurde nun einheitlich festgelegt, wer zum deutschen Volk gehörte und wer nicht, wer aus dem „Volkskörper“ auszugrenzen war. Als „Schädlinge im deutschen Volkskörper“ wurden dabei von Nationalsozialisten die Juden identifiziert, ungeachtet ihrer Verdienste für die deutsche Kulturnation. Die Vorstellung einer bereits damals ethnisch verstandenen Kulturnation auf völkischer Grundlage hatte bereits am Vorabend des Ersten Weltkriegs zur inneren Einigung beigetragen.
Im historischen Rückblick ist die Bilanz negativ. Die deutsche Kulturnation ist nicht Staatsnation geworden. Dem stand geographisch die Option für „Kleindeutschland“ entgegen. Und es mangelte bis 1945 zumeist an Freiheit. Nach 1945 wurde Deutschland mit der Übertragung der Kulturhoheit auf die Länder in die Zeit vor der Reichsgründung (1871) und der Weimarer Republik (1919) zurückversetzt.[8]
Der Begriff in Deutschland heute
Im positiven Recht der Bundesrepublik Deutschland wird die Idee der Kulturnation aufgegriffen. So wird der Begriff der deutschen Volkszugehörigkeit im § 6 Bundesvertriebenengesetz auch über die Kultur definiert: „Deutscher Volkszugehöriger im Sinne dieses Gesetzes ist, wer sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigt wird.“ Diese Definition zeigt, dass der Begriff deutsche Volkszugehörige in Art. 116 GG auch im Sinne der Konzeption einer Kulturnation zu verstehen ist.
Literatur
- Georg Schmidt: Friedrich Meineckes Kulturnation. Zum historischen Kontext nationaler Ideen in Weimar-Jena um 1800. In: Historische Zeitschrift 284, 2007, S. 597–622.
Einzelnachweise
- ↑ Wilhelm Bleek/Christian Bala: Nation. Bundeszentrale für politische Bildung, 2003.
- ↑ http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Bulletin/2008/10/103-1-bpr.html
- ↑ Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: ders.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften. Frankfurt/Main 1974. Bd.1. S.253f.
- ↑ Kulturnation Frankreich, frankreichkontakte.de
- ↑ Gerhard Murmelter: Berlusconis „Haushaltsmassaker“ – Eine Kulturnation dankt ab. In: Der Spiegel vom 7. August 2008.
- ↑ Landesbildungsserver Baden-Württemberg: Kulturnation in Deutschland und Italien.
- ↑ Wolfgang Thierse: Die Kulturnation – „Von Schiller lernen?“. Deutschlandradio vom 3. April 2005.
- ↑ Thilo Ramm: Die Deutschen – eine Nation? In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Heft 39/2004.
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