- Die Heilige Johanna der Schlachthöfe
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Die heilige Johanna der Schlachthöfe, kurz Heilige Johanna genannt, ist ein episches Theaterstück von Bertolt Brecht.
Inhaltsverzeichnis
Entstehungsgeschichte
Entstanden ist es 1929/30 während der Weltwirtschaftskrise. Handlungsort sind die Union Stock Yards, die Schlachthöfe von Chicago.
Inspiriert wurde Brecht durch den Roman The Jungle von Upton Sinclair. Dieser beschreibt die unmenschlichen Zustände auf den Schlachthöfen von Chicago. Brecht hat in der Zeit intensive Literaturstudien betrieben, Zusammenhänge aus Das Kapital von Karl Marx wurden für das Stück verarbeitet.
Nach zwei Ansätzen, Joe Fleischhacker in Chicago und Der Brotladen, die Brecht verwarf, begann er 1929 mit den Arbeiten an der Heiligen Johanna. Das Stück wurde 1930[1] unter Mitarbeit von Herrmann Borchardt, Elisabeth Hauptmann und Emil Burri fertiggestellt. Umarbeitungen folgten 1932 und 1937.
Die Person der heiligen Johanna zeigt viele Parallelen zu der historisch-mystischen Figur Jeanne d'Arc, von Brecht „Johanna Dark“ genannt. Warum Brecht die ursprünglich Lillian Holliday genannte Person umbenannte, ist nicht ganz klar. Ihm waren allerdings die Bearbeitungen des Jeanne-d'Arc-Stoffes von Friedrich Schiller (Die Jungfrau von Orleans) und George Bernard Shaw (Die Heilige Johanna) bekannt, auf die der Titel anspielen soll.
Uraufführung
Radio Berlin strahlte Die heilige Johanna der Schlachthöfe am 11. April 1932 in einer gekürzten Hörspielfassung erstmals aus.
Erst am 30. April 1959, also drei Jahre nach Brechts Tod, wurde das Drama am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg auf der Bühne uraufgeführt. Vorher wurde das Theaterstück erst von den Nationalsozialisten verboten und später von der SED-Führung in der DDR als zu revolutionär und nicht dem Sozialistischen Realismus entsprechend abgelehnt.
Handlung
Pierpont Mauler, Chicagos Fleischkönig, verkauft seinen Anteil am gemeinsamen Geschäft an seinen Kompagnon (Cridle), angeblich aus Überdruss an der Tötung von Tieren, tatsächlich aber deshalb, weil seine New Yorker Börsenfreunde ihm in einem Insidertipp zu diesem Schritt geraten haben. Cridle verknüpft mit dem Kauf die Bedingung, dass vorher auch ihr größter Konkurrent (Lennox) bankrott geht, was auch bald geschieht. Die „Schwarzen Strohhüte“, eine Parodie Brechts auf die Heilsarmee, unter dem Kommando von Leutnant Johanna Dark können das durch die Wirtschaftskrise (es ist zu viel Fleisch auf dem Markt, für das es keine Käufer gibt) immer größer werdende Elend der Arbeitslosen nicht mehr mit Suppe, Musik und netten Worten aufhalten. Daher bittet Johanna Mauler um Hilfe für die Armen.
Mauler möchte Johanna beweisen, dass die Arbeiter „schlecht“ seien und daher ihre hoffnungslose Lage selbst verschuldeten. Doch Johanna erkennt auf Maulers Schlachthof auch den Grund für die sogenannte „Schlechtigkeit“ (d.h. das unmoralische Verhalten der Arbeiter): deren Armut. Sie zieht mit ihren „Schwarzen Strohhüten“ in die Viehbörse, um dort für menschliche Verhältnisse zu sorgen. Scheinbar gelingt ihr das, aber in Wirklichkeit hat Mauler den Markt „gerettet“, indem er sich vertraglich verpflichtet, demnächst in großem Stil Fleisch aufzukaufen. Dabei folgt er allerdings einem neuen Insidertipp seiner Börsenfreunde. Kurz darauf kauft er alles Rindfleisch auf, dessen er habhaft werden kann.
Johanna wirft Fleischproduzenten, die den Schwarzen Strohhüten Geld spenden sollen, aus deren Haus. Dadurch verlieren die Heilsarmisten ihre materielle Basis. Johanna wird deshalb fristlos entlassen und wendet sich in ihrer Not an Mauler, der ihr zu helfen verspricht.
Johanna begreift zu spät, dass Maulers erneute Monopolstellung, diesmal als Eigentümer der Rinder, die Not durch den Verdrängungswettbewerb gegen Maulers Konkurrenten und den Ruin des Systems, den er verursacht, sehr schnell wieder vergrößern wird. Nun bietet sie den Kommunisten ihre volle Unterstützung an. Doch als zum Generalstreik aufgerufen wird, verrät sie ihre Verbündeten, da sie den irreführenden Meldungen der Medien glaubt und noch Skrupel gegenüber der Gewalt hat, zu der in einem Schreiben aufgefordert wird, das sie weiterleiten soll.
Der Streik wird durch Johannas Schuld niedergeschlagen, und das System kann gerade noch einmal stabilisiert werden: Zwei Drittel der Arbeiter erhalten zwei Drittel ihres alten Lohnes, die übrigen Arbeiter bleiben arbeitslos; der Fleischmarkt wird durch Reduzierung des Angebots an Rindfleisch gefestigt; die Banken und der Staat unterstützen diese „Reform“. Entkräftet bricht Johanna zusammen. Um die Verbreitung ihrer Erfahrungen und Ansichten zu verhindern, beschließen die Fleischhändler, sie heilig zu sprechen als Märtyrerin der Mildtätigkeit. Ihre Ausrufe, die jetzt zur gewaltsamen Änderung der Gesellschaft aufrufen und Brechts Lehre enthalten, gehen sogleich in einem Wirrwarr von Lobreden, Gesang und Musik unter.
Interpretationen
Brecht und Schiller
Zunächst scheint es so, dass die Handlung des Stückes weder mit der historischen Jeanne d'Arc noch mit Schillers „Jungfrau von Orléans“ etwas zu tun habe. Bei näherem Hinsehen erweist sich dieser Eindruck allerdings als falsch:
Gleich in der ersten Szene parodiert Brecht Schiller, indem er den von ihm verwendeten Sprachgestus im Gespräch zwischen Mauler und Cridle nachahmt: Die Figuren sprechen auffallend „gestelzt“, indem sie „erlesene“ sprachliche Mittel wie den Blankvers und einen mit rhetorischen Figuren gespickten pathetischen Stil verwenden. Damit will Brecht die „schön Redenden“ als „Schönredner“ entlarven, denn die Wahrheit erfahren die Zuschauer in Form der (in Prosa, also im „Klartext“ vorgetragenen) Mitteilung der Leute von der Wall Street an Mauler, die dieser monologartig vorliest. Die Kritik, wonach schönes Reden unter dem Verdacht stehe, es werde damit „Schönrednerei“ in apologetischer Absicht betrieben, soll auch Schiller treffen. In den Augen Brechts stehen die idealistischen Äußerungen von Schillers Johanna unter Ideologie-Verdacht.
Letztlich ist Brechts Johanna Dark am Anfang Schillers Johanna nicht unähnlich: Voller Idealismus will sie die Menschen zu dem hinführen, was sie für „Gottes Willen“ hält. Dabei ist Brechts Johanna allerdings pazifistisch eingestellt (sie verabscheut Gewalt), während Schillers Johanna zu einer Art „Heiligen Krieg“ aufruft.
Brechts Johanna nähert sich einerseits Schillers Johanna an, andererseits entfernt sie sich aber auch von ihr: Einerseits erkennt auch Brechts Johanna, dass die Lage nicht ohne Gewalt gelöst werden kann, andererseits aber hat sie ihre Illusionen über die Religion verloren: Wie sie am eigenen Leib erlebt, dient diese letztlich nur dazu, die Menschen zu manipulieren und sie vom Kampf abzubringen, indem die Menschen auf eine „Gerechte Welt nach dem Tode“ vertröstet werden sollen. Die Schlussszene in Brechts Stück parodiert so Johannas Apotheose in Schillers „romantischer Tragödie“.
Theoretisch grenzt sich Brecht in seiner Schrift „Ist das epische Theater etwa eine ‚moralische Anstalt‘?“ von Schiller ab und bezieht sich dabei ausdrücklich auf dessen Schrift „Was kann eine gut stehende Schaubühne eigentlich wirken? (Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet)“. Schiller habe zu einer Zeit gelebt, in der das Bürgertum noch voller Idealismus habe Forderungen stellen können. Bereits hundert Jahre später seien jedoch die Bourgeois in die Lage geraten, nicht mehr Fordernde zu sein, sondern mit Forderungen Konfrontierte, und das sei alles andere als vergnüglich. Theater solle nicht mehr moralische Anstalt sein, was Schiller meinte, sondern zentrale Institution zur Veränderung der Gesellschaft und damit des Menschen. [2]
Das epische Theater
Auch „Die Heilige Johanna der Schlachthöfe“ stellt eine Umsetzung von Brechts Konzeption des epischen Theaters dar.
Zwar fehlt in dem Stück das „Umschalten“ vom dramatischen Modus (dem Spiel auf der Bühne) in den epischen Modus (ausdrückliche Erläuterungen und Kommentare von Schauspielern, die sich dabei direkt an das Publikum wenden), aber andere Aspekte werden voll umgesetzt. So gibt es in dem Stück
- Appelle und Reden, die nicht nur an die Figuren auf der Bühne gerichtet sind, sondern auch an das Publikum (insbesondere Johannas Schlussworte)
- Verfremdungseffekte (insbesondere die „förmliche“ Sprache im Kontrast zu den banalen Sachverhalten, um die es geht)
- choreographische Elemente in den Massenszenen mit einer an den Instrumenteneinsatz in der Musik erinnernden Sprechtechnik in den Massenszenen
- den für Brecht typischen „pädagogischen“ Ansatz: Der Zuschauer wird „da abgeholt, wo er ist“, nämlich bei einer moralisierenden Haltung („die Welt ist schlecht, weil der Mensch schlecht ist“); mit der Protagonistin gemeinsam soll er einen Lernprozess vollziehen und als „Lernziel“ erkennen, dass umgekehrt „der Mensch schlecht ist, weil die Gesellschaft ihm das Gutsein unmöglich macht“, dass es also gilt, die Gesellschaft zu ändern.
Zu diesem Zweck soll „das Natürliche auffällig gemacht werden“. Das heißt konkret: Die Religion im Allgemeinen und die Heiligenverehrung im Besonderen sollen nach Brecht als Instrumente erkannt werden, von den wahren Problemen der Menschen und deren Lösung im Diesseits abzulenken. Der Kapitalismus soll ihm zufolge als Quelle von Elend und Unterdrückung erkannt und bekämpft werden.
Brecht und die Religion
In ihrer Schlussrede sagt Johanna Dark:
- „Darum, wer unten sagt, daß es einen Gott gibt
- Und kann sein unsichtbar und hülfe doch nicht
- Den soll man mit dem Kopf aufs Pflaster schlagen
- Bis er verreckt ist.“
Bertolt Brecht legt in seinen „Anmerkungen zu ‚Die heilige Johanna der Schlachthöfe‘“ [3] Wert auf die Feststellung, dass Johanna „keineswegs über Gott spricht, sondern über das Reden über Gott. […] Der Glaube, der hier anempfohlen wird, ist ein folgenloser, was die Umwelt betrifft, und ihn anzuempfehlen nennt die Johanna ein soziales Verbrechen.“ Die „Existenz Gottes“, „der Glaube“ stünden in dem Stück gar nicht zur Diskussion, so Brecht.
Rezeption
In der Spielzeit 2007/2008 wurde das Stück am Bremer „Theater am Goetheplatz“ mit Unterstützung eines Dutzends arbeitsloser Schauspielern aufgeführt. [4] Regisseur Frank-Patrick Steckel meint zu dem Stück: „Man würde den Text am liebsten zu den Akten legen, doch die Zeiten sind so, dass das nicht nur nicht geht, sondern man es immer wieder hervorholen muss, gleichzeitig hat man das Gefühl, das Theater muss auf diese Dinge reagieren, und wie soll es das tun als mit Stücken, die über diese Dinge sprechen.“
Literatur
- Die heilige Johanna der Schlachthöfe; Suhrkamp Verlag (ISBN 3-518-10113-7)
- Die heilige Johanna der Schlachthöfe; Text und Kommentar; Suhrkamp Verlag (ISBN 3-518-18857-7)
- Blickpunkt, Text im Unterricht; Johann Wolfgang von Goethe – Iphigenie auf Tauris und Bertolt Brecht – Die heilige Johanna der Schlachthöfe; Meyer Verlag (ISBN 3-88805-516-4)
- Rudolf Hickel: Nokia und die „Heilige Johanna der Schlachthöfe“. [1]
Einzelnachweise
- ↑ Ana Kugli, Michael Opitz (Hrsg): Brecht Lexikon. Stuttgart und Weimar 2006, S.83
- ↑ Paul Hühnerfeld: Vom reichen Bert Brecht. in: Die Zeit vom 24.04.1958. http://www.zeit.de/1958/17/Vom-reichen-Bert-Brecht?page=4
- ↑ in: Bertolt Brecht: Gesammelte Werke in 20 Bänden Suhrkamp. Frankfurt/Main 1967. Band 17: Schriften zum Theater 3. S.1021
- ↑ http://www.radiobremen.de/magazin/kultur/theater/johanna/index.html
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