Distomo

Distomo
Gedenkstätte bei Distomo
Gedenkstätte Distomo

Distomo (griechisch Δίστομο (n. sg.)) ist eine griechische Ortschaft und seit 2011 ein Gemeindebezirk der Gemeinde Distomo-Arachova-Andikyra in der Region Mittelgriechenland. Bis 2010 war Distomo eine eigenständige Gemeinde. Sie liegt am Fuße des Parnass-Gebirges. In der Nähe des Ortes befindet sich das Kloster Hosios Loukas aus byzantinischer Zeit.

Distomo war im Zweiten Weltkrieg Schauplatz einer der grausamsten Vergeltungsmaßnahmen der Wehrmacht.

Inhaltsverzeichnis

Die „Vergeltungsaktion“ vom 10. Juni 1944

Dorf und Umgebung von Distomo

Am 10. Juni 1944 erschossen Angehörige eines Regimentes der 4. SS-Polizei-Panzergrenadier-Division im Zuge einer an den Einwohnern der griechischen Ortschaft Distomo verübten „Vergeltungsaktion“ 218 der - an Partisanenkämpfen unbeteiligten - ca. 1.800 Dorfbewohner. Unter den Opfern befanden sich vor allem alte Menschen, Frauen, 34 Kinder im Alter von einem bis zehn Jahren und vier Säuglinge im Alter von zwei bis sechs Monaten. Das Dorf wurde niedergebrannt. Derselbe SS-Verband hatte beim Blutbad von Klissoura am 5. April 1944 zusammen mit bulgarischer Miliz 215 Männer, Frauen und Kinder niedergeschossen, um Partisanenanschläge auf zwei deutsche Soldaten zu rächen[1].

Anlass zu dem Blutbad war die Erschießung von drei deutschen Soldaten durch Partisanen. Eine deutsche Einheit war bei der Rückkehr von einer erfolglosen Jagd auf Widerständler in einem Nachbardorf in einen Hinterhalt geraten.

Im offiziellen Gefechtsbericht der 2. Kompanie des SS-Polizeigrenadier-Regiments der 4. SS-Polizei-Panzergrenadier-Division vom 10. Juni 1944 heißt es außerdem, dass aus dem Ort mit Granatwerfern, Maschinengewehren und Gewehren auf die deutschen Soldaten geschossen worden sei. „Ich habe daraufhin“, fährt der Bericht des Kompaniechefs Fritz Lautenbach fort, die „Feuereröffnung und den Angriff mit allen zur Verfügung stehenden Waffen auf Distomon befohlen. Nachdem das Dorf gesäubert war, wurden insgesamt 250 bis 300 tote Bandenangehörige und Bandenverdächtige gezählt.“ Die historische Forschung kommt hingegen zu einem anderen Ergebnis, so hat auch das Bonner Landgericht in seinem Urteil vom 23. Juni 1997 festgestellt: „Im Laufe des Vormittags des 10. 6. 1944 erreichten die Truppen von Lewadia aus kommend Distomo, hielten sich dort mehrere Stunden auf und verhörten den Bürgermeister und den Popen bezüglich des Aufenthalts bzw. Durchzugs von Partisanen. Am Tag zuvor waren etwa dreißig Partisanen aus Desfina eingetroffen und nach Stiri weitergezogen. Auf Grund dessen zog eine motorisierte Kolonne in Richtung Stiri aus. Die Kolonne wurde kurz vor Stiri angegriffen und zog sich unter Verlusten zurück. Nach der Rückkunft in Distomo wurden zunächst zwölf Gefangene und anschließend die gesamte im Ort verbliebene Bevölkerung ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht umgebracht, die Häuser wurden systematisch durchsucht und anschließend niedergebrannt. Insgesamt wurden etwa 218 Menschen ermordet.“

Bei der Aktion kam es nach Augenzeugenberichten zu sadistischen Exzessen: „Männer wie Kinder wurden wahllos erschossen, Frauen vergewaltigt und niedergemetzelt, vielen schnitten die Soldaten die Brüste ab. Schwangere Frauen wurden aufgeschlitzt, manche Opfer mit dem Bajonett gemeuchelt. Anderen wurden die Köpfe abgetrennt oder die Augen ausgestochen.“[2]

Während der Vergeltungsaktion befanden sich Angehörige der Geheimen Feldpolizei Gruppe 510 in Distomo und verfassten später einen ähnlichen Bericht über die Geschehnisse.[3]

Die Rechtssache Distomo

Vor griechischen Gerichten

Auf die Klage von Kindern der Opfer von Distomo wurde die Bundesrepublik Deutschland in einem erstinstanzlichen Versäumnisurteil des Landgerichts Livadia im Oktober 1997 zur Zahlung von 37,5 Millionen Euro verurteilt. Ein Revisionsantrag der Bundesrepublik Deutschland wurde im Mai 2000 vom Areopag, dem höchsten griechischen Gericht, zurückgewiesen. Die Zwangsvollstreckung, die in Vermögen der Bundesrepublik Deutschland betrieben wurde, welches in Griechenland gelegen war (unter anderem Pfändung des Goethe-Instituts in Athen), konnte im letzten Moment durch gegen die Vollstreckung eingelegte Rechtsbehelfe abgewendet werden. Die griechische Regierung weigerte sich, die nach griechischem Recht notwendige Einwilligung in die Zwangsvollstreckung zu erteilen. Der dagegen von den Klägern beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eingelegte Antrag wurde abgewiesen (Beschluss vom 12. Dezember 2002, 59021/00 - Kalogeropulou u.a. ./. Griechenland und Deutschland).

Vor deutschen Gerichten

Die von den Klägern in Deutschland betriebene zivilrechtliche Klage blieb vor dem LG Bonn, OLG Köln und schließlich vor dem BGH (Urteil vom 26. Juni 2003, AZ: III ZR 245/98) sowie vor dem Bundesverfassungsgericht (Nichtannahmebeschluss vom 15. Februar 2006, AZ: 2 BvR 1476/03) erfolglos.

Gegen den Kompaniechef und dessen Vertreter war unmittelbar nach dem Massaker ein strafrechtliches Kriegsgerichtsverfahren wegen Missachtung der Weisung des Oberbefehlshabers Süd-Ost eingeleitet worden, nach der nur höhere Truppenführer im Einvernehmen mit den zuständigen Feldkommandanturen Vergeltungsmaßnahmen befehlen durften. Der Kompaniechef und sein Vertreter starben allerdings wenige Monate später an der Front; die Ermittlungen wurden daraufhin eingestellt.

Vor Zivilgerichten in Italien

Das oberste italienische Zivilgericht, der römische Kassationsgerichtshof, entschied 2008, dass die Überlebenden des Massakers von Distomo die in Griechenland erstrittenen Urteile in Italien vollstrecken können. Der Anwalt der Kläger erwirkte die Eintragung einer Hypothek auf das deutsche Kulturinstitut Villa Vigoni, der nun die Zwangsversteigerung droht.[4][5] Die deutsche und die italienische Regierung haben sich jedoch darauf verständigt, eine Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag herbeizuführen.[6] Der Rechtsstreit berührt die Frage der Staatenimmunität, wonach Staaten grundsätzlich der Gerichtsbarkeit anderer Staaten enthoben sind[7]. Über die Klage der Bundesrepublik Deutschland gegen die Italienische Republik wird der IGH vom 12. bis 16. September 2011 verhandeln.[8]

Einzelnachweise

  1. Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hrsg.): Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd.5/2: Organisation und Mobilisierung des deutschen Machtbereiches, Stuttgart 1999, ISBN 3-421-06499-7, S. 162.
  2. Der Spiegel 1998/Nr. 1, S. 43: "Blutbad im Bergstädtchen"
  3. Gernot Biehler: Auswärtige Gewalt. Tübingen 2005, ISBN 3-16-148447-9. S. 311.
  4. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. Juni 2008, S.5
  5. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. November 2008, S.5
  6. Tagesspiegel vom 19. November 2008
  7. ENTSCHÄDIGUNG: Pandoras Büchse. Abgerufen am 30.3.
  8. Pressemitteilung des IGH vom 5. August 2011

Literatur

  • Petros Antaios u. a. (Hrsg.): Schwarzbuch der Besatzung, 2. Aufl. Athen 2006 (griechisch / deutsch) [1].
  • Sigrid Boysen: Kriegsverbrechen im Diskurs nationaler Gerichte. In: AVR 44, 2006, 363 ff.
  • Hagen Fleischer: „Endlösung“ der Kriegsverbrecherfrage. Die verhinderte Ahndung deutscher Kriegsverbrechen in Griechenland. In: Norbert Frei (Hrsg.): Transnationale Vergangenheitspolitik - Der Umgang mit deutschen Kriegsverbrechen in Europa nach dem zweiten Weltkrieg. Wallstein, Göttingen 2006, ISBN 3-89244-940-6, S. 474–535.
  • Dieter Begemann: Distomo 1944. In: Gerd R. Ueberschär (Hrsg): Orte des Grauens. Verbrechen im Zweiten Weltkrieg. Primus Verlag, Darmstadt 2003, ISBN 3-89678-232-0, S. 30–36.

Filme

Der Film beschreibt das Leben von Argyris Sfountouris, der als gerade Vierjähriger bei dem Massaker seine Eltern und 30 weitere Angehörige verlor. Argyris Sfountouris kam ins Kinderdorf Pestalozzi nach Trogen in der Schweiz. Jahre später doktorierte er an der ETH Zürich in Mathematik und Astrophysik. Anschließend unterrichtete er an Zürcher Gymnasien, übersetzte griechische Dichter ins Deutsche und arbeitete später mehrere Jahre, auch mit dem Schweizerischen Katastrophenhilfekorps, als Entwicklungshelfer in Somalia, Nepal und Indonesien. Während der Diktatur der Obristen 1967 bis 1974 unterstützte er den Widerstand und gab die Propyläa - Zeitschrift für Griechenland heraus.

Weblinks

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