Estnische Literatur

Estnische Literatur

Estnische Literatur ist die in estnischer Sprache verfasste Literatur.

Inhaltsverzeichnis

Die frühesten Texte

Da die Anzahl der Sprecher relativ niedrig ist (heute etwa eine Million Menschen) und das Estnische in den Augen der jeweiligen Machthaber und somit im Schulsystem keinen oder nur geringen Wert hatte, entstand die estnische Literatur relativ spät. Estnische Worte finden sich erstmals in der lateinischen Chronik „Heinrici Chronicon Livoniae“ aus dem 13. Jahrhundert. Das erste Buch in estnischer Sprache erschien vermutlich 1525 mit lutherischen Texten, wurde aber im Lübecker Hafen konfisziert und verbrannt. Das älteste in Teilen erhaltene estnische Buch ist ein zweisprachiger niederdeutsch-estnischer Katechismus, stammt aus dem Jahr 1535 und wurde erst 1929 entdeckt. Diese Bücher und die in den Jahrhunderten darauf folgenden sind fast ausnahmslos von Deutschen, meist Geistlichen, geschrieben worden, denen Estnisch Fremd- oder Zweitsprache war. Das sprachliche Niveau dieser Literatur ist naturgemäß sehr schwankend. In der Mehrzahl der Fälle handelt es sich um religiöse Texte.

Beispiele dafür sind die Gebete (1600–1606) von Georg Müller und das erste estnische Gedicht (1637) von Reiner Brocmann (1609–1647) in den für diese Sprache etwas unhandlichen Alexandrinern.

Langsam etablierte sich eine estnische Schriftsprache: Von Heinrich Stahl, in anderer Namensform als Stahell bekannt, stammt eine Grammatik, von Bengt Gottfried Forselius ein ABC-Buch, also eine Orthographielehre. Anton Thor Helle (1683–1748) veröffentlichte 1739 die erste estnische Bibelübersetzung. Durch sie setzte sich unter Mitarbeit Johann Hornungs (1660–1715) das Nordestnische gegenüber dem Südestnischen als Schriftsprache durch.

Einen Meilenstein estnischer Literatur bildeten die 1875 bis 1999 herausgegebenen Monumenta Estoniae Antiquae.

Zeit des „Nationalen Erwachens“

Als der erste estnische Schriftsteller gilt Kristjan Jaak Peterson (1801–1822), der aber Zeit seines Lebens unbekannt war. Er schrieb eigenständige estnische Lyrik, starb aber sehr jung. Sein Werk wurde erst 1922, zu seinem 100. Todesjahr, veröffentlicht. Sein Geburtstag wird heute als „Tag der estnischen Sprache“ gefeiert.

Das bedeutendste Werk der estnischen Literatur ist der Kalevipoeg, das rekonstruierte Nationalepos der Esten. Es besteht aus rund 20.000 Versen in 20 Gesängen und wurde von Friedrich Robert Fählmann (1799–1851) begonnen und von Friedrich Reinhold Kreutzwald (1803–1882) beendet. Der Kalevipoeg (estnisch Kalevs Sohn) basiert nur auf mündlicher Überlieferung der Sagen rund um den Riesen Kalevipoeg.

Johann Woldemar Jannsen schrieb den Text zur estnischen Nationalhymne Mu isamaa, mu õnn ja rõõm, literaturgeschichtlich wichtiger wurde seine Tochter Lydia Koidula (1843–1886). Sie schrieb patriotische Lyrik und begründete das estnische Drama.

Seit den 1880er Jahren wurde die estnische Kultur unterdrückt und eine Russifizierung setzte ein. Die Lage verbesserte sich nach der Russischen Revolution von 1905, 1918 erklärte Estland seine Unabhängigkeit.) Wichtiger estnischer Schriftsteller dieser Zeit war der Lyriker Juhan Liiv (1864–1913), nach dem heute ein Lyrikpreis benannt ist. Ebenfalls in dieser Zeit wirkte Eduard Vilde (1865–1933), er schrieb realistisch-naturalistische Romane und Dramen.

Von 1905 bis zur Sowjetischen Herrschaft

1905 wurde die Gruppe Junges Estland (Noor-Eesti, wie Jungletten in Anlehnung an Junges Deutschland) gegründet, zu ihren Mitgliedern zählten der Lyriker Gustav Suits (1883–1956) und Friedebert Tuglas (1886–1971) sowie Villem Grünthal-Ridala (1885–1942), Johannes Aavik (1880–1973) und die Lyrikerin Aino Kallas (1878–1956). Die Gruppe strebte eine Erneuerung der estnischen Literatur nach europäischen Vorbildern an.

Daneben verdienen Oskar Luts (1887–1953), populärer Romancier, etwa mit dem Roman Frühling (Kevade) eine Erwähnung sowie der Lyriker Ernst Enno (1875–1934).

Als Gegenstück zum eher intellektuellen „Jungen Estland“ formierte sich die Siuru-Bewegung mit ihren Hauptvertretern Henrik Visnapuu (1890–1951) und Marie Under (1883–1980). Sie schrieben sinnlichere, damals skandalös erotische Gedichte, und mussten beide nach dem Zweiten Weltkrieg ins Exil.

Anton Hansen Tammsaare (1878–1940) schrieb den Romanzyklus Wahrheit und Gerechtigkeit (Tõde ja Õigus, 1926–1933) in psychologischem Realismus, er beschreibt die estnische Gesellschaft der Jahrhundertwende. Aus dem äußerst regen Literaturbetrieb der Zwischenkriegszeit seien noch August Mälk (1900–1987), Karl Ristikivi (1912–1977) mit einer Tallinn-Trilogie und August Gailit erwähnt.

1938 wurde unter dem Titel Die Wahrsager bzw. Schamanen (Arbujad) eine Lyrikanthologie herausgegeben, die sechs Dichter werden als die Arbujad-Gruppe bezeichnet, u.a. Betti Alver (1906–1989), Uku Masing (1909–1985) und Bernard Kangro (1910–1994).

Literatur nach 1940

Die folgende Zeit war vom Krieg bestimmt. Viele gingen nach Schweden ins Exil, jene die blieben, wurden entweder in Sowjetische Zwangsarbeitslager verschleppt, wo sie den Tod fanden, oder wurden Repressionen ausgesetzt, mit einem Publikationsverbot belegt oder gingen ins „innere Exil“.

Literatur war nur mehr im Dienst der sowjetischen Propaganda erlaubt, nennenswerte Literatur entstand in dieser Zeit nur im Exil, hauptsächlich in Schweden, wo estnische Zeitungen und eine estnische Schriftstellervereinigung gegründet wurden. Erst in den 1950er und 1960er Jahren kam in Estland selbst eine neue Generation zu Wort. Die sowjetische Literatur forderte ausschließlich sozialistischen Realismus. Als die Zensur zu repressiv wurde, wurde Literatur unter der Hand nach dem Samisdat-Prinzip verbreitet.

Der bekannteste und bedeutendste estnische Schriftsteller der Nachkriegszeit ist Jaan Kross (1920–2007), er schrieb vor allem historische Romane. Weitere erwähnenswerte Schriftsteller sind Artur Alliksaar (1923–1966) und Ain Kaalep (* 1921). Die junge, aktuelle Literaturszene ist in Estland äußerst lebendig, siehe dazu auch den Weblink.

Siehe auch

Weblinks


Wikimedia Foundation.

Игры ⚽ Поможем решить контрольную работу

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • estnische Literatur. — estnische Literatur.   Eine eigenständige estnische Literatur bildete sich erst gegen Mitte des 19. Jahrhunderts heraus. Als erstes gedrucktes Buch in estnischer Sprache war 1535 die Übersetzung eines lutherschen Katechismus erschienen. Die alte… …   Universal-Lexikon

  • Estnische Schriftsteller — A Johannes Aavik (1880–1973) Artur Adson (1889–1977) August Alle (1890–1952) Artur Alliksaar (1923–1966) Betti Alver (1906–1989) August Annist (1899 1972) Ansomardi (1866 1915) Aleksander Antson (1899–1945) Harri Asi (* 1922) Elisabeth Aspe… …   Deutsch Wikipedia

  • Literatur — Bekanntgabe des kommenden Literaturnobelpreisträgers Stockholm, 2008 Literatur ist seit dem 19. Jahrhundert der Bereich aller mündlich (etwa durch Versformen und Rhythmus) oder schriftlich fixierten sprachlichen Zeugnisse. Man spricht in diesem… …   Deutsch Wikipedia

  • Estnische Philologie — ist die wissenschaftliche Disziplin, die sich mit der estnischen Sprache, Literatur und Kultur befasst. Die estnische Philologie ist ein Untergebiet der Fennistik und damit eine Teildisziplin der Finnougristik und der Uralistik. Studium und… …   Deutsch Wikipedia

  • Estnische Botschaft in Berlin — Estnische Botschaft in der Hildebrandstraße Die Estnische Botschaft in Berlin (offiziell Botschaft der Republik Estland, estnisch Eesti Vabariigi Suursaatkond) ist die diplomatische Vertretung Estlands in Deutschland. Das Botschaftsgebäude… …   Deutsch Wikipedia

  • Estnische Sprache und Literatur — Estnische Sprache und Literatur. Die estnische Sprache, ein Zweig der finn. Familie des ural altaischen Sprachstamms, gesprochen von den Esten (s.d.), zerfällt in den Dorpatschen, Revalschen (Schriftsprache) und Pernauischen Dialekt, besitzt… …   Kleines Konversations-Lexikon

  • estnische Kunst. — estnische Kunst.   Älteste Kunstdenkmäler reichen bis ins 3. Jahrtausend v. Chr. zurück. Romanik und Gotik erfuhren insbesondere im Norden eine eigenwillige Ausprägung (glatte Formen, sparsames Dekor). Es entstanden Festungen mit Konventshäusern… …   Universal-Lexikon

  • estnische Sprache — estnische Sprache,   gehört zur ostseefinn. Gruppe der finnougrischen Sprachen und stellt im Vergleich zum Finnischen (finnische Sprache) eine weiterentwickelte Form des Ostseefinnischen dar; verwendet wird die lateinische Schrift. Es gibt zwei… …   Universal-Lexikon

  • Estnische Sprache — Estnisch (eesti keel) Gesprochen in Estland Sprecher 1.100.000 Linguistische Klassifikation Uralische Sprachen Finno ugrische Sprachen Finno permische Sprachen Wolgafinnische Sprachen Finno samische Sprachen …   Deutsch Wikipedia

  • Estnische Verfassung — Flagge und Staatswappen der Republik Estland am Parlamentsgebäude in Tallinn. Das Grundgesetz der Republik Estland (estnisch Eesti Vabariigi põhiseadus) ist seit 1992 die estnische Verfassung. Das Grundgesetz wurde am 28. Juni 1992 durch eine… …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”