Fingierter Verwaltungsakt

Fingierter Verwaltungsakt

Der fiktive Verwaltungsakt (auch fingierter Verwaltungsakt) ist ein Rechtsinstitut im deutschen Verwaltungsrecht. Man versteht darunter die gesetzliche Fiktion eines Verwaltungsaktes, die in der Regel durch das Schweigen oder Nichtreagieren einer Behörde ausgelöst wird.

Inhaltsverzeichnis

Anwendungsbeispiele

Musterbeispiel für den Einsatz eines fiktiven Verwaltungsakts war die inzwischen abgeschaffte[1] Teilungsgenehmigung gemäß § 19 Abs. 3 BauGB a. F. (vormals Bodenverkehrsgenehmigung, § 19 Abs. 4 BBauG); in der Vorschrift hieß es:

„Über die Genehmigung ist innerhalb eines Monats nach Eingang des Antrags bei der Gemeinde zu entscheiden. [...] Die Genehmigung gilt als erteilt, wenn sie nicht innerhalb der Frist versagt wird.“

Weitere Anwendungsbeispiele sind die Genehmigung von Tierversuchen (§ 8 Abs. 5a Satz 1 TierSchG), die Zustimmung zur Errichtung und zum Betrieb einer gentechnischen Anlage der Sicherheitsstufe 1 (§ 12 Abs. 5 GenTG), die Zustimmung zu Änderungen einer nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz genehmigungsbedürftigen Anlage (§ 15 Abs. 2 Satz 2 BImSchG) sowie die Erteilung eines Aufenthaltstitels (§ 81 Abs. 3, 4 AufenthG).

Begriff

Damit in den gesetzlich vorgesehen Fällen ein fiktiver Verwaltungsakt zustande kommt, ist zunächst eine Antragstellung notwendig. Die Behörde ist daraufhin verpflichtet, über den Antrag innerhalb einer bestimmten Frist zu entscheiden und einen Verwaltungsakt zu erlassen. Lässt die Behörde diese Frist verstreichen, fingiert das Gesetz einen Verwaltungsakt, das heißt, der Antragsteller wird so gestellt, als hätte ihm die Behörde seinen Antrag positiv beschieden.

Zu unterscheiden sind die fiktiven Verwaltungsakte damit von den konkludenten Verwaltungsakten. Anders als beim fiktiven Verwaltungsakt schweigt eine Behörde beim Erlass des konkludenten Verwaltungsakts nicht bloß, sondern sie trifft eine Maßnahme und erklärt ihren Willen. Diese Willenserklärung geschieht nicht ausdrücklich – also nicht schriftlich, elektronisch oder mündlich –, sondern gemäß § 37 Abs. 2 Satz 1 VwVfG „in anderer Weise“.[2]

Das Eintreten der Fiktion ist jedoch nicht stets an das Verstreichenlassen einer Frist gebunden. So sieht etwa § 81 Abs. 3 AufenthG vom Zeitpunkt der Beantragung eines Aufenthaltstitels bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde eine Fiktion der Erteilung desselben vor.

Verwaltungsaktqualität und Rechtsfolgen

Der fiktive Verwaltungsakt ist – trotz seiner Bezeichnung – kein Verwaltungsakt im Sinne des § 35 VwVfG.[3] Ein Verwaltungsakt ist eine Maßnahme, mit der ein Einzelfall geregelt wird. Maßnahme ist dabei jede Handlung, die einen Erklärungsgehalt aufweist. Bei einem fingierten Verwaltungsakt gibt die Behörde jedoch keine Erklärung ab, sondern handelt nicht. Auf den Willen der Behörde kommt es nicht an.

Da es sich bei einem fiktiven Verwaltungsakt nicht um einen Verwaltungsakt im Sinne des § 35 VwVfG handelt und da in den einzelnen Vorschriften auch nicht auf die §§ 35 VwVfG verwiesen wird, können diese auch nicht direkt angewendet werden.[4] Jedoch kann man die Vorschriften über den Verwaltungsakt, soweit möglich, analog anwenden. Insbesondere sind die Regelungen zur Nichtigkeit von Verwaltungsakten (§ 44 VwVfG), zur Rücknahme rechtswidriger Verwaltungsakte (§ 48 VwVfG), zum Widerruf rechtmäßiger Verwaltungsakte (§ 49 VwVfG) sowie zur Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 VwGO) entsprechend anwendbar. Vorschriften, die auf einen real erlassenen Verwaltungsakt zugeschnitten sind, wie etwa diejenigen über die Bekanntgabe des Verwaltungsakts (§ 41 Abs. 1 VwVfG), scheiden dagegen aus.[5]

Varianten

Untergliedern kann man die fiktiven Verwaltungsakte in Genehmigungen und Zustimmungen, wobei bei letzteren wiederum die Zustimmungen mit materiell-rechtlichem Gehalt und die verfahrenszuweisenden Zustimmungen zu unterscheiden sind.[6]

Genehmigungen

Genehmigungsverfahren sind Verwaltungsverfahren, die die Erteilung einer Genehmigung zum Ziel haben.[7] Beispiel hierfür ist die Genehmigung für Versuche an Wirbeltieren gemäß § 8 TierSchG. Seit der Novellierung des Gesetzes im Jahr 1998 gilt diese Genehmigung als erteilt, wenn über den Antrag nicht innerhalb von zwei bzw. drei Monaten entschieden wird (Genehmigungsfiktion in § 8 Abs. 5a Satz 1 TierSchG).

Zustimmungen

Beim Anmelde- oder Anzeigeverfahren ist grundsätzlich keine Zustimmung der Behörde für ein Vorhaben erforderlich. Es besteht lediglich die Pflicht, der Behörde rechtzeitig das Vorhaben anzukündigen. Verstreicht die Frist ohne Reaktion der Behörde, darf mit dem Vorhaben begonnen werden; eine Zustimmung ist nicht erforderlich. Dagegen gibt es Sonderfälle, in denen der Vorhabenträger die Zustimmung der Behörde abwarten muss. Diese Zustimmung kann zum einen einen materiell-rechtlichen Gehalt aufweisen, zum anderen kann die Zustimmung lediglich der Verfahrenszuweisung dienen.

Eine Zustimmung mit materiell-rechtlichen Gehalt wird zum Beispiel für gentechnische Arbeiten der Sichterheitsstufe 1[8] benötigt. Die Errichtung und der Betrieb einer solchen Anlage muss gemäß § 8 Abs. 2 Satz 1 GenTG angemeldet werden. In der alten Fassung des Gentechnikgesetzes war die Behörde noch ausdrücklich zu einer Entscheidung über den Antrag verpflichtet.[9] In der neuen Fassung darf gemäß § 12 Abs. 5 Satz 1 GenTG mit dem Vorhaben begonnen, wenn eine Frist von 30 Tagen nach Eingang der Anmeldung abgelaufen ist – eine vorherige Zustimmung ist jedoch weiterhin möglich. Der Ablauf der Frist wird vom Gesetz (§ 12 Abs. 5 Satz 2 GenTG) als „Zustimmung zur Errichtung und zum Betrieb der gentechnischen Anlage und zur Durchführung der gentechnischen Arbeit“ fingiert, also als ein fiktiver Verwaltungsakt, der die Rechtmäßigkeit des Vorhabens zum Inhalt hat.

Eine verfahrenszuweisende Wirkung hat beispielsweise die Zustimmung zur Änderung einer genehmigungsbedürftigen Anlage gemäß § 15 BImSchG. Die Behörde ist gemäß § 15 Abs. 2 Satz 1 BImSchG verpflichtet, unverzüglich, spätestens aber einen Monat nach Eingang der Anzeige und der notwendigen Unterlagen, zu überprüfen, ob die geplante Änderung einer Genehmigung bedarf. Äußert sich die Behörde nicht, tritt gemäß § 15 Abs. 2 Satz 2 BImSchG eine Freistellungsfiktion ein, das heißt, die Negativmitteilung darüber, dass die Änderung nicht einer Genehmigung gemäß § 16 Abs. 1 BImSchG bedarf, wird fingiert.

Abgrenzung

Der Ausdruck fiktiver Verwaltungsakt wird homonym auch für Situationen gebraucht, in denen der Anordnung von Zwangsmitteln gesetzlich Verwaltungsaktqualität verliehen wird.[10] Eine solche Fiktion wurde bereits im 19. Jahrhundert durch Richterrecht entwickelt und 1931 in § 44 Abs. 1 Satz 2 des Preußischen Polizeiverwaltungsgesetzes kodifiziert.[11] Eine ähnliche Regelung findet sich beispielsweise in § 18 Abs. 1 Satz 1 VwVG. Sinn dieser Vorschriften ist es jedoch nicht, das Schweigen einer Behörde an eine bestimmte Rechtsfolge zu knüpfen. Stattdessen sollen dem Bürger die gleichen Rechtsbehelfsmöglichkeiten eröffnet werden, die ihm bei dem Erlass eines Verwaltungsaktes zustünden.

Literatur

  • Franz-Joseph Peine: Allgemeines Verwaltungsrecht. C.F. Müller, Heidelberg 2006. Rn. 490 ff. ISBN 978-3-8114-8007-0
  • Johannes Caspar: Der fiktive Verwaltungsakt – Zur Systematisierung eines aktuellen verwaltungsrechtlichen Instituts. In: Archiv des öffentlichen Rechts. Jg. 2000, S. 131 ff.
  • Martin Oldiges: Der fiktive Verwaltungsakt – Bemerkungen auch zu § 15 Abs. 2 BImSchG. In: Umwelt- und Technikrecht. Jg. 2000, S. 41 ff.

Fußnoten

  1. Gesetz zur Anpassung des Baugesetzbuchs an EU-Richtlinien (BGBl. I. 2004 S. 1359)
  2. Paul Stelkens, Heinz Joachim Bonk, Michael Sachs: Verwaltungsverfahrensgesetz. 6. Auflage 2001. § 35 Rn. 49 ff.
  3. Caspar, S. 138 f.
  4. Caspar, S. 139 f.
  5. Oldiges, S. 55
  6. Caspar, S. 133 ff.
  7. Legaldefinition in § 71a VwVfG
  8. § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 GenTG
  9. § 12 Abs. 7 Satz 1 GenTG a. F. verpflichtete die Behörde zu einer unverzüglichen Entscheidung über die Anmeldung, spätestens jedoch nach Ablauf einer Frist von einem Monat. Nach Ablauf einer Frist von drei Monaten trat gemäß § 12 Abs. 7 Satz 3 GenTG a. F eine Gesetzesfiktion ein.
  10. Rainer Pietzner: Die unmittelbare Ausführung als fiktiver Verwaltungsakt. In: VerwArchiv 1991, S. 291 ff.
  11. Oldiges, S. 41 f.

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