Francisco de Vitoria

Francisco de Vitoria
Francisco de Vitoria, Statue vor San Esteban in Salamanca

Francisco de Vitoria OP (* um 1483 in Burgos; † 12. August 1546 in Salamanca) war ein katholischer Moraltheologe und Naturrechtslehrer sowie Begründer der spanischen Spätscholastik und der Schule von Salamanca. Wegen seiner Konzeption einer „Republik der ganzen Welt“ (res publica totius orbis) wurde Vitoria jüngst als „Begründer der globalpolitischen Philosophie“ bezeichnet.[1]

Inhaltsverzeichnis

Leben und Denken

Francisco de Arcaya y Compludo, wie Vitoria mit bürgerlichem Namen hieß, trat 1505 dem Dominikanerorden in Burgos bei, der gerade eine tiefgreifende Reform erlebt hatte. Diese Reform war Teil eines umfassenden Reformprogramms des spanischen Königs, das die Umgestaltung Spaniens in einen zentralistischen Staat unterstützen sollte und es auch zu einem Zentrum von Theologie und Wissenschaft machte. Der junge Ordensmann wird zum Studium an die renommierte Universität Paris geschickt, wo er Schüler von Pierre Crockaert wurde. Es sind vor allem die Eindrücke dieser Zeit, die sein Denken entscheidend prägten: das Erbe der Scholastik, besonders seines Ordensbruders Thomas von Aquin – Vitoria betätigt sich in Paris u. a. als Mitherausgeber eines Teils von dessen Hauptwerk Summa theologiae –, Nominalismus, Humanismus und konziliaristische bzw. gallikanische Tendenzen, die eine Unterordnung des Papstes unter ein allgemeines Konzil forderten und gerade an der Pariser Universität viele Anhänger fanden.

Nach seiner Rückkehr nach Spanien (1523) lehrte er in Valladolid und seit 1526 an der Universität Salamanca, dem geistigen Zentrum Spaniens. Indem er hier nach dem Pariser Vorbild das bis dahin verwendete Lehrbuch, die Sentenzen des Peter Lombard, durch die Summa theologiae des Thomas von Aquin ersetzte, legte er den Grundstein für die Thomas-Renaissance des 16. Jahrhunderts und begründete die Schule von Salamanca. Zu seinen Schülern zählen u. a. Domingo de Soto, Melchior Cano, Bartolomé de Medina und Domingo Bañez, alle berühmt u.a. für ihre Thomas-Kommentare. Aber auch der Kanonist Diego de Covarrubias y Leyva gehört zu seinen Schülern.

Vitorias Bedeutung liegt darin, dass er ausgehend von der differenzierten scholastischen Tradition des Mittelalters Antworten auf die neuen, zumeist praktischen Fragen seiner Zeit suchte. Besonders hervorzuheben sind dabei die Frage nach einer friedlichen Ordnung unter den frühneuzeitlichen europäischen Staaten, deren Herrscher in der Regel keine Instanz mehr über sich anerkennen, die Sorge um eine Kirchenreform sowie die Frage nach der Legitimität der Präsenz der Europäer in der neuen Welt (Eroberungen, Handel). Er ging dabei sehr umsichtig vor, vermittelte zwischen gegensätzlichen Positionen und legte besonderen Wert auf die theologische und philosophische Grundlegung. Seine gemäßigten, aber fundierten Überlegungen zur Indianerfrage und die damit verbundene Kritik an der spanischen Eroberungspraxis veranlassten Karl V., der Vitoria im übrigen sehr schätzte, zu einer Intervention.

Vitoria war ein bedeutender Vertreter der Theorie des gerechten Krieges am Beginn der Neuzeit und trug mit seiner Konzeption des Rechts der Völker (ius gentium) zur Entwicklung des Völkerrechts bei. Besonders einflussreich für die zukünftige Entwicklung war die Konzeption der einen „Völkergemeinschaft“ und eines alle Staaten verpflichtenden „Völkerrechts“. In seiner politischen Theorie entwickelte er – wenn auch vorsichtig und verdeckt – den Begriff der Volkssouveränität. Auch im Strafrecht ist Vitorias Einfluss zu spüren, indem er hier den zunächst nur für geistliche Strafen geltenden subjektiven Begriff der Schuldstrafe auf alle „Strafen“ im engeren Sinne übertrug.

Im Zuge der konfessionellen Auseinandersetzungen des 16. und 17. Jahrhunderts geriet Vitoria fast vollständig in Vergessenheit und wurde erst im 19. Jahrhundert wiederentdeckt.

Schriften

Francisco de Vitoria, Statue in Vitoria

Da Vitoria zu seinen Lebzeiten so gut wie nichts veröffentlicht hat, erlangte er vor allem durch seine universitätsöffentlichen Festvorlesungen (relectiones) Berühmtheit. Diese sind nur als Mitschriften seiner Studenten erhalten und erstmalig postum Lyon 1557, dann 1565 Salamanca unter dem Titel Relectiones theologicae publiziert worden. Die ebenfalls nur in Mitschriften erhaltenen regulären Vorlesungen (lecturae) wurden erst im 20. Jh. ediert und publiziert. Die Festvorlesungen sind zweisprachig enthalten in:

  • Francisco de Vitoria: Vorlesungen (Relectiones) Völkerrecht, Politik, Kirche. 2 Bände. Hrsg. von Ulrich Horst, Heinz-Gerhard Justenhoven, Joachim Stüben (Theologie und Frieden. 7/8). Stuttgart 1995/1997:
    • De potestate civili / Über die politische Gewalt (1528) - lat.-dtsch.: Vorlesungen (s.o.), Bd. I, S. 114-161
    • De homicidio / Über die Menschentötung (11. Juni 1529 oder 1530) - lat.-dtsch.: Vorlesungen (s.o.), Bd. I, S. 436-501
    • De matrimonio / Über die Ehe (25. Januar 1531) - lat.-dtsch.: Vorlesungen (s.o.), Bd. I, S. 502-579
    • De potestate ecclesiae I & II / Erste (Ende 1532) und zweite Vorlesung über die Gewalt der Kirche - lat.-dtsch.: Vorlesungen (s.o.), Bd. I, S. 162-277. 278-351
    • De Indis/ Über die Indianer (1532) - lat.-dtsch.: Vorlesungen (s.o.), Bd. II, S. 370-541
    • De jure belli / Über das Kriegrecht (1532) - lat.-dtsch.: Vorlesungen (s.o.), Bd. II, S. 542-605
    • De potestate papae et concilii / Über die Gewalt des Papstes und des Konzils (1534) - lat.-dtsch.: Vorlesungen (s.o.), Bd. I, S. 352-435
    • De augmento caritatis et diminutione / Über das Anwachsen und Abnehmen der Liebe (11. April 1535) - lat.-dtsch.: Vorlesungen (s.o.), Bd. II, S. 38-91
    • De eo, quod tenetur homo, cum primum venit ad usum rationis / Über das, wozu der Mensch verpflichtet ist, sobald er den Gebrauch der Vernunft erreicht hat (Juni 1535) - lat.-dtsch.: Vorlesungen (s.o.), Bd. II, S. 92-187
    • De simonia / Über die Simonie (Ende Mai oder Anfang Juni 1536) - lat.-dtsch.: Vorlesungen (s.o.), Bd. II, S. 188-307
    • De temperantia / Über das Maßhalten bzw. richtiger: De usu ciborum / Über den Gebrauch der Speisen (Ende 1537) - lat.-dtsch.: Vorlesungen (s.o.), Bd. II, S. 308-369 - Vitoria diskutiert dort das durch die Eroberungen in der Neuen Welt virulent gewordene Problem des Kannibalismus und der Menschenopfer!
    • De arte magica / Über die Kunst der Magie (18. Juli 1540) - lat.-dtsch.: Vorlesungen (s.o.), Bd. II, S. 606-687
    • De regno Christi / Über die Königsherrschaft Christi (um 1528) - lat.-dtsch.: Vorlesungen (s.o.), Bd. II, S. 688-701

Von Bedeutung ist auch sein umfangreicher, ebenfalls nur durch Mitschriften der regulären Vorlesungen (lecturae) erhaltener und erst teilweise edierter Thomas-Kommentar:

  • Comentarios a la Secunda secundae de Santo Tomás, ed. V. Beltrán de Heredia (6 Bde.). Salamanca 1932-1952
  • Textos inéditos de F. de V. In: Friedrich Stegmüller: Francisco de Vitoria y la doctrina de la gracia en la Escuela salmantina. Barcelona 1934, S. 166-482
  • De Indis recenter inventis et de jure belli Hispanorum in barbaros. Relectiones: Vorlesungen über die kürzlich entdeckten Inder und das Recht der Spanier zum Kriege gegen die Barbaren, 1539, Lateinischer Text nebst deutscher Übersetzung, hrsg. von Walter Schätzel. Einleitung von Paul Hadrossek, Mohr/Siebeck, Tübingen 1952
  • De lege. Über das Gesetz, ed. v. Joachim Stüben. Stuttgart-Bad Cannstatt 2010

Als drittes wichtiges Werk muss schließlich sein Sentenzenkommentar genannt werden, der ab 1560 zahlreiche Auflagen erfahren hat:

  • Summa sacramentorum Ecclesiae ex doctrina Fratris Francisci de Vitoria, ed. Thomas de Chaves. Valladolid 1560

Literatur

  • Daniel Deckers: Gerechtigkeit und Recht. Eine historisch-kritische Untersuchung der Gerechtigkeitslehre des Francisco de Vitoria, Academic Press, Fribourg 1991
  • Fernando Domínguez: Francisco de Vitoria OP. In: LThK3 Bd. 10 (2001), Sp. 830–831.
  • Rolf Grawert: Francisco de Vitoria. Naturrecht – Herrschaftsordnung – Völkerrecht. In: Der Staat. Zeitschrift für Staatslehre, Öffentliches Recht und Verfassungsgeschichte. 39. Bd., 2000, S. 110–125.
  • Ulrich Horst: Leben und Werke Francisco de Vitorias. In: Francisco de Vitoria: Vorlesungen (Relectiones) Völkerrecht, Politik, Kirche. Hrsg. von Ulrich Horst, Heinz-Gerhard Justenhoven, Joachim Stüben (Theologie und Frieden. 7/8, hrsg. vom Institut für Theologie und Frieden Hamburg). Stuttgart 1995/1997, Bd. I (1995), S. 13–99.
  • Heinz-Gerhard Justenhoven: Francisco de Vitoria zu Krieg und Frieden. Stuttgart 1991 (Theologie und Frieden. 5).
  • Harald Maihold: Strafe für fremde Schuld? Die Systematisierung des Strafbegriffs in der Spanischen Spätscholastik und Naturrechtslehre. Köln u.a. 2005, S. 174ff.
  • Harald Maihold: Die Tötung des Unschuldigen, insbesondere im Krieg. Schuld und Nutzenargumente in der thomistischen Morallehre des 16. Jahrhunderts. In: Ancilla Iuris, Artikel vom 14. August 2007.
  • Michael Sievernich: Toleranz und Kommunikation. Das Recht auf Mission bei Francisco de Vitoria. In: Frank Grunert, Kurt Seelmann (Hrsg.): Die Ordnung der Praxis. Neue Studien zur Spanischen Spätscholastik. Tübingen 2001, S. 183–203.
  • Johannes Thumfart: Die Begründung der globalpolitischen Philosophie. Zu Francisco de Vitorias „relectio de indis recenter inventis“ von 1539. Berlin 2009.
  • Kirstin Bunge, Anselm Spindler, Andreas Wagner (Hrsg.): Die Normativität des Rechts bei Francisco de Vitoria. Stuttgart-Bad Cannstatt 2011.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Johannes Thumfart: Die Begründung der globalpolitischen Philosophie. Zu Francisco de Vitorias „relectio de indis recenter inventis“ von 1539. Berlin 2009.

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