Gabriele Reuter

Gabriele Reuter

Gabriele Reuter (* 8. Februar 1859 in Alexandria; † 16. November 1941 in Weimar) war eine deutsche Schriftstellerin.

Gabriele Reuter aufgenommen in München, 1896

Die zu Lebzeiten vielgelesene Autorin wurde bekannt durch ihren Roman Aus guter Familie (1895), der die „Leidensgeschichte eines Mädchens“ (Untertitel), einer typischen „höheren Tochter“ der Wilhelminischen Ära schilderte. Er verkaufte sich bis 1931 in 28 Auflagen. Weitere Bestseller waren etwa ihr Roman Ellen von der Weiden (1900), die Novellensammlung Frauenseelen (1901) oder der Roman Der Amerikaner (1907). Heute ist Gabriele Reuter nahezu vergessen.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Gabriele Reuter wurde am 8. Februar 1859 in Ägypten geboren, wo ihr Vater als internationaler Großkaufmann im Textilhandel tätig war. Sie war eine Urenkelin der Dichterin Philippine Engelhard, der sie in Grüne Ranken um alte Bilder von 1937 ein literarisches Denkmal setzen wollte. Ihre Kindheit verbrachte sie teils bei der Verwandtschaft der Mutter in Dessau (1864–69), teils in Alexandrien (1869–72). Nach der endgültigen Rückkehr der Familie nach Deutschland 1872 starb der Vater. Reuter kam für ein Jahr in ein Mädchenpensionat. Dann aber verlor die Familie durch die allgemeine Rezession und durch einen Betrugsfall bei der Auflösung des väterlichen Geschäfts ihr gesamtes Vermögen und zog in eine kleine Wohnung in Neuhaldensleben.

Gabriele Reuter um 1900

Die Verantwortlichkeit für die jüngeren Brüder und die zunehmend depressive Mutter bedingten eine für die Zeit ungewöhnliche frühe Selbständigkeit Gabriele Reuters. Die finanziellen Sorgen führten außerdem dazu, dass sie schon als junges Mädchen ihr Schreibtalent als eine Verdienstquelle ansah. 1875/76 erschienen erste literarische Publikationen in Lokalblättern. Es folgten konventionell geschriebene Romane mit exotischem Kolorit. Von dem so verdienten Geld finanzierte Reuter 1879 den Umzug der Familie nach Weimar, wo sie sich als junge Schriftstellerin zu etablieren versuchte. Um 1890 unternahm sie erste eigenständige Reisen nach Berlin, Wien und München zu diversen Schriftstellertagungen und machte Bekanntschaft mit anderen Künstlern ihrer Zeit, darunter mit dem Anarchisten und Lyriker John Henry Mackay, mit dem sie eine langjährige Freundschaft verband, und mit Henrik Ibsen.

1890 zog Reuter mit ihrer Mutter nach München in dem Wunsch, sich der dortigen Bohème anzuschließen. Sie besuchte die Gründungsfeier von Michael Georg Conrads „Gesellschaft für modernes Leben“. Laut ihrer Autobiographie Vom Kinde zum Menschen (1921) kam ihr hier die Idee zu ihrem Erfolgsroman Aus guter Familie. 1891 aber erkrankte die Mutter, und Reuter war gezwungen, mit ihr nach Weimar zurückzukehren. Dort erschloss sie sich in den folgenden Jahren einen neuen Freundeskreis – darunter Hans Olden und dessen Frau Grete, Rudolf Steiner und Eduard von der Hellen) – und las die Schriften Friedrich Nietzsches, Arthur Schopenhauers und Ernst Haeckels. Sie knüpfte Kontakte zum Verein Freie Bühne in Berlin und dem Friedrichshagener Dichterkreis und lernte u.a. Gerhart Hauptmann, Otto Erich Hartleben, Ernst von Wolzogen sowie – auf Vermittlung Mackays – den Verleger Samuel Fischer kennen, der Ende 1895 ihren Roman Aus guter Familie veröffentlichte.

Der Roman war ein enormer Erfolg, löste in Literaturzeitschriften und feministischen Blättern eine erregte Debatte aus und machte Reuter über Nacht berühmt. Im selben Jahr zog sie mit ihrer Mutter wieder nach München, da sich inzwischen einer ihrer Brüder als Arzt dort niedergelassen hatte. Am 28. Oktober 1897 gebar sie in Erbach (bei Ulm) ihre uneheliche Tochter Lili (der Vater blieb unbekannt).

Auflagenentwicklung der wichtigsten Werke (1 Auflage = 1.000 Exemplare)

1899 zog Reuter nach Berlin um. In den dreißig Jahren, die sie dort lebte, erschienen zahlreiche Romane, Novellen, Jugendbücher und Essays, die immer wieder das Thema des Geschlechter- und Generationenkonflikts aufgriffen. Gabriele Reuter wurde gerühmt für ihre feine psychologische Ausgestaltung und galt als „Dichterin der weiblichen Seele“. Einen Skandal verursachte noch einmal ihr Roman Das Tränenhaus (1908), in dem sie auf recht drastische Weise die Zustände in einem Haus für ledig Gebärende schilderte. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs arbeitete sie außerdem als Kolumnistin für die Wiener Neue Freie Presse und in den letzten Lebensjahren als Rezensentin für die New York Times. 1929 kehrte die Siebzigjährige zurück nach Weimar, wo sie am 16. November 1941 verstarb.

Der Nachlass von Gabriele Reuter befindet sich im Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar.

Schaffen

Reuters Erfolgsroman Aus guter Familie ist eines der ersten Werke aus weiblicher Feder, das sich nach den innovativen literarischen Strömungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts, dem konsequenten Realismus bzw. Naturalismus, ausrichtete. Zusammen mit Helene Böhlaus Roman Der Rangierbahnhof (1896) gab er das Muster ab für zahlreiche weitere weibliche Bekenntnis- oder Selbstfindungsromane der Epoche. Die Debatte um den Roman kreiste zunächst vor allem um die Frage, ob das Werk ein Tendenzroman sei oder nicht.

Reuters Haltung zur zeitgenössischen Frauenbewegung war zwiespältig, wenn nicht distanziert: Die frauenrechtlerische Publizistin Helene Stöcker würdigte das Werk Reuters trotzdem mehrfach, Hedwig Dohm äußerte sich anlässlich des Erscheinens von Das Tränenhaus eher skeptisch. Antifeministen warfen Reuter dagegen eine zu einseitig weibliche Perspektive vor. Reuter ließ sich weder von der einen noch von der anderen Seite vereinnahmen. Aus guter Familie wurde wegen der sozialen Repräsentativität der Protagonistin außerdem vielfach mit Goethes Werther verglichen. Thomas Mann interpretierte den Roman nach dem Muster des zeitgenössischen Künstlerromans.

Werke

Romane

  • Glück und Geld. Roman aus dem heutigen Egypten. Friedrich, Leipzig 1888
  • Kolonistenvolk. Roman aus Argentinien. Friedrich, Leipzig 1891; Enßlin & Laiblin, Reutlingen 1926
  • Aus guter Familie. Leidensgeschichte eines Mädchens. Fischer, Berlin 1895
    • Neuausgabe: Aus guter Familie. Leidensgeschichte eines Mädchens. Studienausgabe mit Dokumenten. 2 Bände. TransMIT, Marburg 2006, ISBN 3-936134-19-7 (Text) und ISBN 3-936134-20-0 (Dokumente)
  • Frau Bürgelin und ihre Söhne. Fischer, Berlin 1899
  • Ellen von der Weiden. Ein Tagebuch. Geyer, Wien 1900; Fischer, Berlin 1901
    • Neuausgabe: Ellen von der Weiden. Ein Tagebuch. Ullstein, Berlin 1997, ISBN 3-548-24167-0
  • Margaretes Mission. 2 Bände. DVA, Stuttgart 1904
  • Liselotte von Reckling. Fischer, Berlin 1903
  • Der Amerikaner. Fischer, Berlin 1907
  • Das Tränenhaus. Fischer, Berlin 1908; Neubearbeitung 1926
  • Frühlingstaumel. Fischer, Berlin 1911
  • Ins neue Land. Ullstein, Berlin 1916
  • Die Jugend eines Idealisten. Fischer, Berlin 1917
  • Die Herrin. Ullstein, Berlin 1918
  • Benedikta. Seyfert, Dresden 1923
  • Töchter. Der Roman zweier Generationen. Ullstein, Berlin 1927
  • Irmgard und ihr Bruder. Deutsche Buch-Gemeinschaft, Berlin 1930
  • Vom Mädchen, das nicht lieben konnte. Ullstein, Berlin 1933

Kurzprosa, Novellen und Erzählungen

  • Episode Hopkins. Zu spät. Zwei Studien. Pierson, Dresden 1889
    • Neuausgabe als: Episode Hopkins. Zwei Novellen. Fischer, Berlin 1897
  • Der Lebenskünstler. Novellen. Fischer, Berlin 1897
  • Frauenseelen. Novellen. Fischer, Berlin 1901
  • Gunhild Kersten. Novelle. DVA, Stuttgart 1904
  • Wunderliche Liebe. Novellen. Fischer, Berlin 1905
  • Eines Toten Wiederkehr und andere Novellen. Reclam, Leipzig 1908
  • Im Sonnenland. Erzählung aus Alexandrien. Hillger, Berlin 1914
  • Vom weiblichen Herzen. Novellen. Hillger, Berlin 1917

Essayistisches und Autobiographisches

  • John Henry Mackay. Eine litterarische Studie, in: Die Gesellschaft 7 (1891), 1304–1314
  • Marie von Ebner-Eschenbach. Schuster & Loeffler, Berlin 1904
  • Annette von Droste-Hülshoff. Marquardt, Berlin 1906
  • Die Probleme der Ehe, 1907
  • Liebe und Stimmrecht. Fischer, Berlin 1914; in Auszügen wiederabgedruckt in: Emanzipation und Literatur. Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 1984, ISBN 3-596-23747-5, S. 204–210
  • Der Krieg und die Mädchen. In: Scherls Jungmädchenbuch. Scherl, Berlin o.J. [1914], S. XI–XX
  • Vom Kinde zum Menschen. Die Geschichte meiner Jugend. Fischer, Berlin 1921
  • Grüne Ranken um alte Bilder. Ein deutscher Familienroman. Grote, Berlin 1937

Dramen

  • Ikas Bild (Lustspiel), 1894
  • Das böse Prinzeßchen. Ein Märchenspiel für Kinder in drei Aufzügen. Fischer, Berlin 1905

Kinder- und Jugendbücher

  • Sanfte Herzen. Ein Buch für junge Mädchen. Fischer, Berlin 1909
  • Was Helmut in Deutschland erlebte. Eine Jugendgeschichte. Perthes, Gotha 1917
  • Großstadtmädel. Jugendgeschichten. Ullstein, Berlin 1920
  • Das Haus in der Antoniuskirchstraße. Abel & Müller, Leipzig 1927
  • Grete fährt ins Glück. Weise, Berlin 1935

Literatur

  • Faranak Alimadad-Mensch: Gabriele Reuter. Porträt einer Schriftstellerin. Lang, Bern 1984, ISBN 3-261-03418-1
  • Gisela Brinker-Gabler: Perspektiven des Übergangs. Weibliches Bewußtsein und frühe Moderne. In: Deutsche Literatur von Frauen. Beck, München 1988, ISBN 3-406-33021-5 (Band 2), S. 169–205
  • Ludmila Kaloyanova-Slavova: Übergangsgeschöpfe. Gabriele Reuter, Hedwig Dohm, Helene Böhlau und Franziska von Reventlow. Lang, New York 1998, ISBN 0-8204-3962-2
  • Annette Kliewer: Gabriele Reuter. In: Britta Jürgs (Hg.): Denn da ist nichts mehr, wie es die Natur gewollt. Portraits von Künstlerinnen und Schriftstellerinnen um 1900. AvivA Verlag, Berlin, 2001, ISBN 3-932338-13-8; S.12-140
  • Cornelia Pechota Vuilleumier: „O Vater, laß uns ziehn!“ Literarische Vater-Töchter um 1900. Gabriele Reuter, Hedwig Dohm, Lou Andreas-Salomé. Olms, Hildesheim 2005, ISBN 3-487-12873-X

Weblinks


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