Gesetzliche Vermutung

Gesetzliche Vermutung

In der Rechtswissenschaft kann eine Vermutung den Beweis gestützt auf Erfahrungen ermöglichen (tatsächliche Vermutung), die Beweislast von Gesetzes wegen verschieben (widerlegliche gesetzliche Vermutung) oder ein Beweiserfordernis ganz beseitigen (unwiderlegliche gesetzliche Vermutung).

Inhaltsverzeichnis

Tatsächliche Vermutung

Eine tatsächliche Vermutung (eigentlich besser Vermutung über Tatsachen) liegt vor, wenn ein Gericht gestützt auf eigene oder Expertenerfahrungen von bewiesenen Tatsachen (Indizien) auf nicht bewiesene Tatsachen schließen kann. So kann beispielsweise aus dem Indiz, dass die Temperatur zu einem bestimmten Zeitpunkt deutlich über dem Nullpunkt lag, aufgrund der allgemeinen Erfahrung über die Eigenschaften von Wasser geschlossen werden, dass eine bestimmte Person zu diesem Zeitpunkt nicht auf Glatteis ausgerutscht sein kann. Man sagt diesfalls, es bestünde eine tatsächliche Vermutung dafür, dass es am fraglichen Ort kein Glatteis gegeben habe.

Hinweis: Die folgende Darstellung folgt der so genannten Beweismaßtheorie, die anhand des geforderten Beweismaßes zwischen Anscheinsbeweis und tatsächlicher Vermutung unterscheidet. Die Beweismaßtheorie hat in der Literatur in letzter Zeit mehr und mehr Niederschlag gefunden. Es gibt indessen auch abweichende Lehrmeinungen, insbesondere wird auch in der Rechtsprechung diese Unterscheidung teilweise nicht klar durchgezogen. Für die unterschiedlichen Theorien zu dieser Unterscheidung vergleiche den Artikel zum Anscheinsbeweis.

Tatsächliche Vermutung als Fall des mittelbaren Beweises

Eine tatsächliche Vermutung ist Bestandteil jedes mittelbaren Beweises, der zur vollen Überzeugung des Gerichts führt. Ein mittelbarer Beweis liegt dann vor, wenn ein Gericht sich wie beschrieben nicht unmittelbar, sondern nur gestützt auf Indizien und Erfahrungen (in der juristischen Terminologie Erfahrungssätze) von einer Tatsache überzeugen kann. Weil mittelbare Beweise eher die Regel als die Ausnahme sind, sind tatsächliche Vermutungen - auch wenn sie oft nicht explizit als solche bezeichnet werden - in der Rechtswirklichkeit häufig.

Die Beweiswürdigung erfolgt beim mittelbaren Beweis mit Hilfe eines Induktionsschlusses, der schon aus der Perspektive der Logik niemals absolute Sicherheit vermitteln kann, sondern nur zu einer Hypothese über den zu beweisenden Sachverhalt führt (vgl. den Abschnitt Induktionsproblem im Artikel zum Induktionsschluss).

Beweiswürdigung und Beweismaß

Ob von einer tatsächlichen Vermutung ausgegangen werden kann oder nicht, ist eine Frage der richterlichen Beweiswürdigung. Eine tatsächliche Vermutung liegt wie gesagt dann vor, wenn Indiz und Erfahrungssatz zusammen die volle Überzeugung des Gerichts vom zu beweisenden Sachverhalt zu begründen vermögen. Ob diese volle Überzeugung vorliegt, entscheidet das Gericht selbst (dies nach dem Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung, der den europäischen Rechtsordnungen gemein ist).

Teilweise wird auch die Auffassung vertreten, dass allein in der Berücksichtigung einer tatsächlichen Vermutung eine Reduktion des Beweismaßes liege (bloßes Glaubhaftmachen anstelle der vollen Überzeugung). Dies schlösse die Anwendung einer tatsächlichen Vermutung in all jenen Fällen aus, in denen das Beweismaß der vollen Überzeugung des Gerichts gefordert ist, also in sehr vielen Fällen im Zivilprozess. Vermögen Indiz und Erfahrungssatz das Gericht im Rahmen der freien richterlichen Beweiswürdigung indessen von einer Tatsache voll zu überzeugen (dies ist vor allem bei sehr sicheren Erfahrungssätzen wie dem eingangs geschilderten Beispiel des Gefrierpunkts von Wasser der Fall), so ist gegen deren Berücksichtigung auch dann nichts einzuwenden, wenn das volle Beweismaß gefordert wird. In der Tatsache allein jedenfalls, dass ein Gericht eine bloße Hypothese über den Sachverhalt akzeptiert, liegt noch keine Reduktion des Beweismaßes.

Akzeptiert das Gericht Indiz und Erfahrungssatz als für den Beweis ausreichend, obwohl es nicht voll vom zu beweisenden Sachverhalt überzeugt ist und das Gesetz eigentlich volle Überzeugung fordert, liegt eine Reduktion des Beweismaßes und damit ein Anscheinsbeweis vor.

Widerlegung einer tatsächlichen Vermutung

Wird das Vorliegen einer tatsächlichen Vermutung bejaht, so führt dies zu einer Umkehr der Beweisführungslast: Es liegt am Beweisgegner, die Überzeugung des Gerichts wieder zu zerstören, indem er weitere Beweismittel vorlegt. Dabei kann es aber nur um ein Erschüttern der Überzeugung gehen (also um das Säen von Zweifeln beim Gericht), nicht aber um den Beweis des Gegenteils (um das Begründen voller Überzeugung vom Gegenteil).

Gesetzliche Vermutung

Die gesetzliche Vermutung (praesumtio iuris) ordnet kraft Gesetzes an, dass bei Vorliegen bestimmter Gegebenheiten (Vermutungsbasis) vom Vorliegen weiterer Gegebenheiten auszugehen ist und diese der rechtlichen Beurteilung zu Grunde zu legen sind. Wird aus der Vermutungsbasis auf Tatsachen geschlossen, spricht man von Tatsachenvermutungen, wird auf das Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechts geschlossen, von Rechtsvermutungen.

Widerlegliche Vermutung

Vermutungen sind im Normalfall widerleglich, wie § 292 S. 1 ZPO klarstellt: "Stellt das Gesetz für das Vorhandensein einer Tatsache eine Vermutung auf, so ist der Beweis des Gegenteils zulässig, sofern nicht das Gesetz ein anderes vorschreibt." Eine widerlegliche gesetzliche Vermutung verschiebt also (anders als die tatsächliche Vermutung, s.o.) die Beweislast. Keine Rolle spielt es dabei, ob die Vermutung als solche bezeichnet wird oder ob stattdessen ein Merkmal als Einwendung formuliert ist und auf diese Weise der Anspruchsgegner die Beweislast trägt (z.B. "Haftung aus vermutetem Verschulden" wie in § 831 Abs. 1 S. 2 BGB).

Eine wichtige Rechtsvermutung enthält etwa § 1006 Abs. 1 S. 1 BGB: "Zugunsten des Besitzers einer beweglichen Sache wird vermutet, dass er Eigentümer der Sache sei." Für Immobilien ist die Eigentumsvermutung in § 891 Abs. 1 BGB enthalten: "Ist im Grundbuch für jemand ein Recht eingetragen, so wird vermutet, dass ihm das Recht zustehe." Das sorgt für Rechtssicherheit; in beiden Fällen knüpfen an den so geweckten Rechtsschein sogar Regeln über den gutgläubigen Erwerb vom Nicht-Eigentümer an. Im Prozess müsste die Vermutung, es handle sich um den Eigentümer, gegebenenfalls widerlegt werden. Etwa mag der Besitzer nur ein Dieb sein oder das Grundbuch falsch. Wer das behauptet, trägt aber dafür die Beweislast.

Weil eine widerlegliche gesetzliche Vermutung von vornherein zu einer Umkehr der Beweislast führt und nicht wie die tatsächliche Vermutung bloß zu einer Umkehr der Beweisführungslast, ist zu ihrer Widerlegung der Beweis des Gegenteils nötig. Es sind also Beweismittel vorzubringen, die das Gericht voll vom Vorliegen des Gegenteils überzeugen.

Unwiderlegliche Vermutung

Ist eine Vermutung dagegen vom Gesetz ausdrücklich als unwiderleglich oder unwiderlegbar bezeichnet (praesumtio iuris et de iure), so spielt es keine Rolle, ob die vermutete Situation auch tatsächlich vorliegt: Eben solche Ermittlungen und die damit verbundenen Beweisschwierigkeiten sollen ja gerade vermieden werden. Im Ergebnis ähnelt die unwiderlegliche Vermutung damit der Fiktion. Der Unterschied liegt darin, dass eine unwiderleglich vermutete Gegebenheit auch in Wirklichkeit vorliegen kann, während die Fiktion anordnet, dass in Wirklichkeit nicht existierende Gegebenheiten als vorliegend zu betrachten sind.

Ein Beispiel für eine unwiderlegliche Vermutung bildet im Ehescheidungsrecht § 1566 Abs. 2 BGB: "Es wird unwiderlegbar vermutet, dass die Ehe gescheitert ist, wenn die Ehegatten seit drei Jahren getrennt leben." Es spielt also gar keine Rolle, ob im konkreten Fall die Ehe vielleicht trotz des langen Getrenntlebens nicht gescheitert ist. Es ist vielmehr gerade Zweck des Gesetzes, dass das Gericht solche Mutmaßungen nicht anstellen muss.

Literatur zur tatsächlichen Vermutung

Dieser Abschnitt bedarf einer Überarbeitung. Es sollte noch weitere nicht-schweizerische Literatur zur tatsächlichen Vermutung sowie Literatur zu den anderen Vermutungsarten eingefügt werden. Näheres dazu steht auf der Diskussionsseite. Wenn du Lust hast, verbessere den Artikel und entferne anschließend diesen Baustein.
  • Klett Kathrin, Richterliche Prüfungspflicht und Beweiserleichterung, AJP 11/2001, 1293 ff.
  • Kummer Max, in: Liver Peter/Meier-Hayoz Artur/Merz Hans/Jäggi Peter/Huber Hans/Friedrich Hans-Peter/Kummer Max, Berner Kommentar zum Zivilgesetzbuch, Einleitung, Art. 1 - 10 ZGB, Bern 1962, N 317 f., 362, 368 zu Art. 8 ZGB
  • Meier Isaak, Das Beweismass – ein aktuelles Problem des schweizerischen Zivilprozessrechts, BJM 2/1989, 57 ff., 65
  • Prütting Hanns, Gegenwartsprobleme der Beweislast, Eine Untersuchung moderner Beweislasttheorien und ihrer Anwendung insbesondere im Arbeitsrecht, München 1983, 23 ff.
  • Rosenberg Leo/Schwab Karl Heinz/Gottwald Peter, Zivilprozessrecht, 15. A. München 1993, 660 ff.
  • Vogel Oscar/Spühler Karl, Grundriss des Zivilprozessrechts, und des internationalen Zivilprozessrechts der Schweiz, 7. A. Bern 2001, 10 N 50
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