Gliedergürteldystrophie

Gliedergürteldystrophie
Klassifikation nach ICD-10
G71.0 Muskeldystrophie
- Becken- oder Schultergürtelform
ICD-10 online (WHO-Version 2011)

Der Begriff Gliedergürteldystrophie (engl. limb-girdle muscular dystrophy, LGMD) bezeichnet eine Gruppe erblicher Muskelerkrankungen (Myopathien), deren gemeinsames Merkmal Lähmungen der Muskulatur des Schulter- und Beckengürtels sind. Schulter- und Beckengürtel werden in der Medizin zusammen als Gliedergürtel bezeichnet. Neben Muskellähmungen erfüllen die Gliedergürteldystrophien die Kriterien der Muskeldystrophie. Eine Muskeldystrophie ist gekennzeichnet durch Umbauprozesse des Muskelgewebes. Die Erkrankungen dieser Gruppe sind genetisch und klinisch heterogen. Sie werden durch unterschiedliche Genmutationen verursacht und die gleichen Genmutationen können ein sehr variables klinisches Bild hervorrufen. Der Beginn der Erkrankung reicht vom Kleinkindes- bis in das hohe Erwachsenenalter und es sind sowohl milde als auch schwere Verläufe möglich. Mit etwa 8-11 Erkrankungen auf 1.000.000 Einwohner sind diese Erkrankungen sehr selten. [1]

Inhaltsverzeichnis

Ursachen

Die Gliedergürteldystrophien werden durch Gendefekte auf verschiedenen Chromosomen verursacht. Diese führen zu struktureller Abweichung, zum Mangel oder zum völligen Fehlen von verschiedenen Muskelproteinen, was zu einer chronischen Schädigung der häufig beanspruchten Muskelfasern führt. Leitsymptom ist die zunehmende Schwäche und der sichtbare Schwund der betroffenen Muskelpartien. Es sind autosomal-dominante Erbgänge bekannt (LGMD Gruppe 1), der Großteil der Erkrankungen wird jedoch autosomal-rezessiv vererbt (LGMD Gruppe 2).

Einteilung

Die heute übliche Einteilung basiert auf der Klassifikation der molekulargenetisch nachweisbaren Genmutationen bzw. der veränderten Proteine. Nach dem Erbgang werden 2 Gruppen unterschieden: die autosomal-dominant vererbten Gliedergürteldystrophien, LGMD1, und die autosmal-rezessiv vererbten Gliedergürteldystrophien, LGMD2.[2]

Einteilung der Gliedergürteldystrophien nach Mortier[1]
Typ Genort Betroffenes Genprodukt Manifestation (Alter) Leitsymptome Prognose Quelle
LGMD1A 5q22–q34 Myotilin 18–35 Schwäche hüftnaher Beinmuskeln, Jahre später sind Armmuskeln betroffen; Schwäche von Gesichts- und Schlundmuskeln bei 20 %, Sprachstörungen (Dysarthrie) bei 25 % Rollstuhlabhängigkeit etwa 20 Jahre nach Beginn, meist normale Lebenserwartung [1]
LGMD1B 1q11–21 Lamin A/C 4–30 Schwächen in Hüft- und hüftnahen Oberschenkelmuskeln, in zwei Drittel der Fälle Reizüberleitungsstörungen des Herzen und möglicherweise Herzmuskelschwäche mit Erweiterung des Herzen (dilatative Kardiomyopathie) Lebenslange Gehfähigkeit, jedoch Risiko des plötzlichen Herztods um 50–60 Jahre [1]
LGMD1C 3p25 Caveolin-3 2–20–70 Stammnahe Muskelschwäche, Wadenkrämpfe, Wadenpseudohypertrophie wahrscheinlich lebenslange Gehfähigkeit und normale Lebenserwartung [1]
LGMD1D 6q23 nicht bekannt 20–25, selten unter 20 Herzrhythmusstörungen und Kardiomyopathie, später zusätzliche stammnahe Muskelschwächen Plötzlicher Tod durch AV-Block, ventrikuläre Tachykardie oder Kardiomyopathie möglich [1]
LGMD1E 7q nicht bekannt 10–30 Hüftnahe Beinmuskelschwäche [1]
LGMD1F 7q32.1–32.2 nicht bekannt unter 1–58 Beckengürtel-, Schultergürtelmuskelschwäche [1]
LGMD1G 4q21 nicht bekannt [3]
LGMD1H 3p25.1-p23 nicht bekannt [4]
LGMD2A 15q15.1–21.1 Calpain-3 3–10–30 Schwäche der Hüft- und Oberschenkelmuskeln, auch Rumpfmuskulatur betroffen, Schultermuskulatur oft 2–5 Jahre später, häufig auch Kontrakturen der Wirbelsäule, Fußgelenke, Ellenbogen und Hände rascher oder langsamer Verlauf, entsprechend Tod um 20. Lebensjahr möglich, sonst in der 8. Lebensdekade, früher Beginn bedeutet nicht automatisch rasches Fortschreiten [1]
LGMD2B 2p13 Dysferlin 13–22–35 Schwäche vor allem der hinteren Hüft- und hüftnahen Oberschenkelmuskeln, 25 % Wadenpseudohypertrophie, 2–10 Jahre später Schultermuskelschwäche rascher oder langsamer Verlauf, in etwa 30 % Gehfähigkeit bis 26–54 Jahren, sonst bis 8. Dekade [1]
LGMD2C 13q12 γ-Sarkoglykan 3–12 Muskelschwäche im Beckengürtel früher als im Schultergürtel, frühe Wadenpseudohypertrophie, später möglicherweise Gesichtsmuskeln betroffen Gehfähigkeit in 25 % 10–15 Jahre, 50 % 15–20 Jahre, 25 % über 20 Jahre, Tod im zweiten Lebensjahrzehnt möglich [1]
LGMD2D 17q12–q21 α-Sarkoglykan 1–16, später Zunehmende Muskelschwächen im Beckengürtel und Oberschenkel mit verspäteten Gehbeginn oder unsicherem Gang ähnlich wie bei Muskeldystrophie Typ Duchenne rascher oder langsamer Verlauf, Gehfähigkeit bis 16–30 Jahre oder später, vorzeitiger Tod bei raschem Verlauf möglich [1]
LGMD2E 4q12 β-Sarkoglykan 3–12 Beckengürtel eher betroffen als Schultergürtel, Wadenpseudohypertrophie rascher oder langsamer Verlauf, Gehfähigkeit 9–14 Jahre oder bis 38 Jahre, Tod im 2.–3. Lebensjahrzehnt möglich [1]
LGMD2F 5q33–q34 δ-Sarkoglykan 4–10 Zunehmende Muskelschwächen im Beckengürtel und Oberschenkel mit verspäteten Gehbeginn oder unsicherem Gang ähnlich wie bei Muskeldystrophie Typ Duchenne, Gesichtsmuskeln möglicherweise betroffen, Wadenhypertrophie rasches Fortschreiten mit Gehfähigkeit 9–16 Jahre, Tod am Ende des ersten oder im zweiten Lebensjahrzehnt möglich [1]
LGMD2G 7q11–q12 Telethonin 9–15 Neben Hüft- und Oberschenkelmuskelschwäche auch Unterschenkelmuskeln und Arm/Schultermuskeln betroffen lange Gehfähigkeit bis 18–25 Jahre nach Beginn [1]
LGMD2H 9q31–q34 vermutlich E3-Ubiquitin-Ligase 1.–3. Dekade Beckengürtel eher betroffen als Schultergürtel, möglicherweise Nacken- oder Rückenschmerzen Gehschwierigkeiten mit 37–46 Jahren, Rollstuhlabhängigkeit im siebten Lebensjahrzehnt [1]
LGMD2I 19q13.3 Fukutin-„related“-Protein 1.–4 Dekade Zunächst Schwäche der Hüft- und Oberschenkelmuskeln, später der Schulter- und Oberarmmuskeln, Wadenpseudohypertrophie, Muskelschmerzen bei Belastung, Muskelfaserzerfall (Rhabdomyolyse) sehr unterschiedlicher Verlauf, Gehfähigkeit meist bis 30 Jahre [1]
LGMD2J 8q24 Titin 1.–3. Dekade Muskelschwäche und –atrophie der Hüft- und hüftnahen Oberschenkelmuskeln Gehverlust im 3.–5. Lebensjahrzehnt [1]

Diagnose

Nachweis von alpha-Sarcoglykan in A) nicht betroffener Muskulatur, B) Fehlen derselben bei LGMD 2D

In der Ableitung der elektrischen Muskelaktivität (Elektromyografie, EMG) finden sich unspezifische Hinweise auf eine chronische Muskelschädigung (Myopathie). Durch bildgebenden Verfahren wie die Computertomografie (CT) oder die Magnetresonanztomografie (MRT) lassen sich besonders befallene Muskelgruppen darstellen. Labordiagnostisch ist eine deutlich erhöhte Creatinkinase auffällig. Bei entsprechenden Verdacht durch klinische Symptome helfen meist immunhistochemische oder molekulargenetische Untersuchungen einer Muskelbiopsie, die Diagnose zu sichern.

Therapie

Eine etablierte medikamentöse Therapie ist bei keiner der Gliedergürteldystrophien bekannt.[5] Die symptomatische Behandlung konzentriert sich auf krankengymnastische Maßnahmen zum Erhalt der Muskelkraft, zur Schulung von Alltagsbewegungen und zur Vorbeugung von Kontrakturen. Ein maximales Kraftraining gilt jedoch als eher ungünstig.[6] Wichtig ist auch eine sachgerechte Hilfsmittelversorgung in Form von Schienen (Orthesen) oder einem Rollstuhl. Bei Fehlstellungen der Füße oder der Wirbelsäule kommen insbesondere zur Wiederherstellung der Gehfähigkeit auch operative Behandlungsmaßnahmen in Frage. Bei einer auftretenden Dysarthrie ist eine logopädische Behandlung notwendig.

Nach Operationen oder anderen Umständen einer eingeschränkten Mobilität ist eine frühe Mobilisierung wichtig, da eine längere Immobilisierung von Patienten mit Gliedergürteldystrophie nicht selten dazu führt, dass die Gehfähigkeit verloren geht. Die Physiotherapie sollte bereits am Tag nach Operationen begonnen und konsequent durchgeführt werden.[6]

Bei Herzbeteiligung ist unter Umständen eine Therapie von Reizleitungsstörungen und anderen Erkrankungen des Herzens möglich.

Medizingeschichte

Meist wird der Begriff der Gliedergürteldystrophien auf eine Arbeit von John Nicholas Walton und Frederick John Natrass aus dem Jahr 1954[7] zurückgeführt. Erste Beschreibungen von Gliedergürteldystrophien gehen bereits auf Arbeiten von Ernst von Leyden und Paul Julius Möbius in den Jahren 1876[8] beziehungsweise 1879[9] zurück.[10]

Literatur

  • L. Broglio, M. Tentorio u.a.: Limb-girdle muscular dystrophy-associated protein diseases. In: The neurologist. Band 16, Nummer 6, November 2010, S. 340–352, ISSN 1074-7931. doi:10.1097/NRL.0b013e3181d35b39. PMID 21150381. (Review).
  • C. T. Rocha, E. P. Hoffman: Limb-girdle and congenital muscular dystrophies: current diagnostics, management, and emerging technologies. In: Current neurology and neuroscience reports. Band 10, Nummer 4, Juli 2010, S. 267–276, ISSN 1534-6293. doi:10.1007/s11910-010-0119-1. PMID 20467841. (Review).
  • K. Bushby: Diagnosis and management of the limb girdle muscular dystrophies. In: Practical neurology. Band 9, Nummer 6, Dezember 2009, S. 314–323, ISSN 1474-7766.

doi:10.1136/jnnp.2009.193938. PMID 19923111. (Review).

  • A. Ferbert, W. Kress: Klinik und Genetik der Gliedergürteldystrophien. Medizinische Genetik, 2009, Volume 21, Number 3, 332-336, doi:10.1007/s11825-009-0171-x
  • M. Guglieri, K. Bushby: How to go about diagnosing and managing the limb-girdle muscular dystrophies. In: Neurology India. Band 56, Nummer 3, 2008 Jul-Sep, S. 271–280, ISSN 0028-3886. PMID 18974553. (Review).
  • M. Guglieri, V. Straub u.a.: Limb-girdle muscular dystrophies. In: Current opinion in neurology. Band 21, Nummer 5, Oktober 2008, S. 576–584, ISSN 1350-7540. doi:10.1097/WCO.0b013e32830efdc2. PMID 18769252. (Review).
  • F. Norwood, M. de Visser u.a.: EFNS guideline on diagnosis and management of limb girdle muscular dystrophies. In: European journal of neurology : the official journal of the European Federation of Neurological Societies. Band 14, Nummer 12, Dezember 2007, S. 1305–1312, ISSN 1468-1331. doi:10.1111/j.1468-1331.2007.01979.x. PMID 18028188. (Review).
  • V. Straub, K. Bushby: The childhood limb-girdle muscular dystrophies. In: Seminars in pediatric neurology. Band 13, Nummer 2, Juni 2006, S. 104–114, ISSN 1071-9091. doi:10.1016/j.spen.2006.06.006. PMID 17027860. (Review).
  • D. Fischer: Klinische und bildgebende Differenzialdiagnose von Gliedergürteldystrophien. Klin Neurophysiol, 2006; 37(3): 180-188, doi:10.1055/s-2006-940133
  • J. Finsterer: Klinik und Genetik der Gliedergürteldystrophien. Der Nervenarzt, 2004, Volume 75, Number 12, 1153-1166, doi:10.1007/s00115-004-1769-5

Quellen

  1. a b c d e f g h i j k l m n o p q r U. Schara, W. Mortier: Neuromuskuläre Erkrankungen (NME). Teil 2: Muskeldystrophien (MD). In: Monatsschrift Kinderheilkunde 2003; 151:1321-1341
  2. A. Ferbert, W. Kress: Klinik und Genetik der Gliederguerteldystrophien., S. 332–336
  3. LGMD1G bei Online Mendelian Inheritance in Man
  4. LGMD1G bei Online Mendelian Inheritance in Man
  5. A. Ferbert, W. Kress: Klinik und Genetik der Gliedergürteldystrophien. Medizinische Genetik, 2009, Volume 21, Number 3, 337, doi:10.1007/s11825-009-0171-x
  6. a b A. Ferbert, W. Kress: Klinik und Genetik der Gliedergürteldystrophien. Medizinische Genetik, 2009, Volume 21, Number 3, 336, doi:10.1007/s11825-009-0171-x
  7. J. N. Walton, F. J. Natrass: On the classification, natural history and treatment of the myopathies. In: Brain. 77, 1954, S. 169–231, doi:10.1093/brain/77.2.169.
  8. Hereditäre Formen der Progressiven Muskelatrophie; Die Lipomatöse Muskelhypertrophie. In: Klinik der Rückenmarkskrankheiten. Vol. 2, Berlin, A. Hirschwald, 1876:525–40
  9. Paul Julius Möbius: Ueber die hereditären Nervenkrankheiten. Breitkopf und Härtel, 1879. 1581 S.
  10. A. Ferbert, W. Kress: Klinik und Genetik der Gliedergürteldystrophien. Medizinische Genetik, 2009, Volume 21, Number 3, 332, doi:10.1007/s11825-009-0171-x

Links

  • [1] Zentrum für neuromuskuläre Erkrankungen an der Washington University in St. Louis mit ausführlichen Informationen und vielen histologischen Bildern (englisch)
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