Gouvernanz

Gouvernanz

Governance (von frz. "gouverner" verwalten, leiten, erziehen aus lat. "gubernare" gleichbed. griech. "kybernan" das Steuerruder führen) bezeichnet allgemein das Steuerungs- und Regelungssystem im Sinn von Strukturen (Aufbau- und Ablauforganisation) einer politisch-gesellschaftlichen Einheit wie Staat, Verwaltung, Gemeinde, privater oder öffentlicher Organisation. Häufig wird es auch im Sinne von Steuerung oder Regelung einer jeglichen Institution (etwa einer Gesellschaft oder eines Betriebes) verwendet. Der Begriff wird häufig unscharf verwendet.

Inhaltsverzeichnis

Begriffsunterscheidungen

Für den aus dem Französischen kommenden Begriff ("Gouvernance") gibt es keine deutsche Entsprechung. Eindeutschungsversuche wie "Gouvernanz" haben sich (noch) nicht durchgesetzt, der Begriff "Lenkungsformen" bietet sich an, da damit sowohl der Bezug zu den Strukturen als auch der zur Intention gegeben ist. Der Ausdruck ist – im politischen Umfeld – alternativ zum Begriff Government (Regierung) entstanden und soll ausdrücken, dass innerhalb der jeweiligen politisch-gesellschaftlichen Einheit Steuerung und Regelung nicht nur vom Staat ("Erster Sektor"), sondern auch von der Privatwirtschaft ("Zweiter Sektor") und vom "Dritten Sektor" (Vereine, Verbände, Interessenvertretungen) wahrgenommen wird. Unter Corporate Governance versteht man die Kontroll- und Steuerungsstruktur innerhalb, gelegentlich – bezüglich rechtlicher Regelungen – auch außerhalb privatwirtschaftlicher Unternehmen. Governance bezieht sich ausschließlich auf Strukturen sowie institutionelle respektive prozessuale Elemente einer politischen oder gesellschaftlichen Einheit, wodurch deren Management unterstützt und verbessert werden soll.

Allerdings wird – rein empirisch – das Wort Governance häufig oder sogar meistens nicht in irgendeinem definierten Sinne, sondern als modische Alternative zu "Government" (Regierung) verwendet. In gewissen Begriffsverständnissen wird Governance sogar nur dann verwendet, wenn gerade nicht der Staat (=Government), sondern private Stakeholder Steuerungswirkung entwickeln. Eine integrative Beurteilung bezieht sämtliche Akteure ein, wobei – je nach Gegenstand und Sachlage – den einen eine höhere, anderen eine geringere Priorität eingeräumt werden muss.

Dementsprechend unterscheidet man zwischen einem eng- und einem weitgefassten Governance-Begriff. Der enggefasste Begriff betont in Abgrenzung zu "Government" (Regierung) und betont das Zusammenwirken von staatlicher und privater Seite, während der weitgefasste Governance-Begriff jegliche Art politischer Regelung mit dem Ziel des „Managements von Interdependenzen“ (Benz) - von einseitiger staatlicher Lenkung über kooperative Formen der Verhandlung bis hin zur gesellschaftlichen Selbststeuerung umfasst.[1] Klassischerweise beziehen sich die Lenkungsstrukturformen auf die Triade Hierarchie, Gemeinschaften, Markt und Netzwerk, welche in unterschiedlichen Formen auftreten und kombiniert werden können.[1] Ferner werden alle möglichen Regelsysteme, welche die Entscheidungsorganisation festlegen, als Governance-Mechanismen bezeichnet. Im Zusammenhang mit dem Europäischen Integrationsprozess wurden weitere Lenkungsstrukturen entwickelt, die in der Forschung auch unter "New Governance" geführt werden.

Normative und deskriptive Ansätze

Mittlerweile kann Governance als Forschungs- und Handlungsfeld als überaus weit verzweigt bezeichnet werden. So scheint sich die Tendenz abzuzeichnen, dass das Konzept sowohl populär als auch zweckdienlich ist, obschon die Begriffsverwendung noch nicht zwingend auf eine faktische Veränderung schließen lässt. An diesem Punkt eröffnen sich zwei verschiedene politikwissenschaftliche Perspektiven. Politikwissenschaftler, welche einen offenen, deskriptiven Ansatz wählen, lassen die Frage offen, ob es sich um einen qualitativen Wandel von Staatlichkeit handelt.[2] Solche offenen Ansätzen gehen von folgenden empirischen Beboachtungen aus:[2]

  1. Die Veränderung von Regelungsstrukturen durch die Einbeziehung nichtstaatlicher Akteure in unterschiedlichen Politikfeldern, das mit dem Schlagwort ‚government with society’ umrissen werden kann.
  2. Der Aufbau von Regelungsstrukturen in den internationalen Beziehungen nach der Beendingung des Ost-West-Konfliktes, der mit dem Ausdruck geprägten ‚governance without government’ zusammengefasst werden kann.
  3. Sowie die steigende Bedeutung von Mehrebenensystemen mit Politikverflechtungsstrukturen (sogenannter multilevel-governance).

Hingegen gehen andere Politikwissenschaftler von der Grundanahme aus, dass es sich um einen fundamentalen Wandel von Staatlichkeit handele: "Dem normativen Gebrauch von Governance liegt die Annahme zugrunde, dass durch den vermehrten Einsatz neuer Steuerungsformen Effizienz und Effektivität erhöht und generell staatliche Handlungsfähigkeit wiedergewonnen werden kann."[3]

Studiengänge und Forschungsprojekte

Um dem wissenschaftlichen Interesse gerecht zu werden bieten einige Universitäten Forschungsschwerpunkte und Studiengänge zu diesem Thema an.[4][5][6] Auch haben sich mittlerweile institutionelle Forschungszusammenhänge in diesem Feld etabliert.[7][8]

Kritik

Aus einer kritischen Perspektive wird dem Governance-Ansatz ein Problemlösungsbias angeheftet. Aufgrund einer fokussierten Orientierung auf die Lösung kollektiver Probleme könnten Fragen nach Partikularinteressen und Machterhalt/-gewinn eher in den Hintergrund rücken.[9] Daneben werden Entstaatlichungstendenzen und damit verbundene Fragen nach Zurechenbarkeit und Legitimation problematisiert.[10] Demgegenüber stehen Ansätze, welche weniger den Rückzug des Staates in den Mittelpunkt der Überlegungen stellen, als vielmehr die Moralisierung des Marktes aus theoretischer Perspektive behandeln. [11]


Siehe auch

Literatur

  • Bache, Ian (Hrsg.): Multi-level Governance, Oxford: Oxford University Press, 2004, ISBN 0-19-925925-9
  • Benz, Arthur: Politik im Mehrebenensystem, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 2006, ISBN 3-531-14530-4
  • Blumenthal, Julia: Von Government zu Governance: Analysen zum Regieren im modernen Staat, Münster: LIT-Verlag, 2006, ISBN 3-8258-9571-8
  • De Bievre, Dirk, Christine Neuhold (Hrsg.): Dynamics and Obstacles of European Governance, Cheltenham: Edward Elgar, 2007, ISBN 1847200346
  • Edeling, Thomas / Jann, Werner / Wagner, Dieter (Hrsg.): Modern Governance. Koordination und Organisation zwischen Konkurrenz, Hierarchie und Solidarität, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 2007, ISBN 3-8100-3244-1
  • Fukuyama, Francis: State Building. Governance and World Order in the Twenty-First Century, Ithaca, N.Y.: Cornell University Press, 2004, ISBN 0-8014-4292-3
  • Jansen, Dorothea (Hrsg.): New Forms of Governance in Research Organizations - Disciplinary Approaches, Interfaces and Integration, Dordrecht: Springer, 2007, ISBN 978-1-4020-5830-1
  • König, Klaus: Verwaltete Regierung, Köln: Heymann, 2002, ISBN 3-452-25252-3
  • Schuppert, Gunnar Folke, Governance im Spiegel der Wissenschaftsdisziplinen, in: Governance-Forschung, hrsg. v. Gunnar Folke Schuppert, 2. Aufl., Baden-Baden 2006, 371-469.
  • Schuppert, Gunnar Folke: Was ist und wozu Govenance? In: Die Verwaltung. Zeitschrift für Verwaltung und Verwaltungswissenschaften, 40. Bd., 2007, S. 463-511.
  • Schuppert, Gunnar Folke: Die Rolle des Gesetzes in der Governancetheorie. In: Hans-Heinrich Trute, Thomas Groß, Hans Christian Röhl, Christoph Möllers (Hrsg.): Allgemeines Verwaltungsrecht – zur Tragfähigkeit eines Konzepts. Mohr Siebeck, Tübingen 2008, S. 161-189.
  • Türke, Ralf-Eckhard: Governance - Systemic Foundation and Framework (Contributions to Management Science, Physica of Springer, 2008)

Weblinks

Einzelnachweise

  1. a b Benz, Arthur 2004: Einleitung: Governance – Modebegriff oder nützliches sozialwissenschaftliches Konzept, in ders. (Hrsg.): Governance – Regieren in komplexen Regelsystemen. Wiesbaden: VS, S. 17.
  2. a b Köck, Wolfgang 2006: Governance in der Umweltpolitik, in: Folke-Schuppert, Gunnar (Hrsg.): Governance-Forschung. Vergewisserung über Stand und Entwicklungslinien. 2. Aufl., Baden-Baden: Nomos, S. 323.
  3. Blumenthal, Julia von: Governance - eine kritische Zwischenbilanz, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft, 15. Jg., 4/2005, S. 1163.
  4. Bachelor-Studiengang Governance and Public Policy - Staatswissenschaften an der Universität Passau
  5. NRW School of Governance
  6. Master-Studiengang Governance an der Fernuniversität Hagen
  7. z.B. DFG-Sonderforschungsbereich 597 Staatlichkeit im Wandel
  8. oder DFG-Sonderforschungsbereich 700 Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit: Neue Formen des Regierens?
  9. Mayntz, Renate 2006: Governance Theory als fortentwickelte Steuerungstheorie?, in: Folke-Schuppert, Gunnar (Hrsg.): Governance-Forschung. Vergewisserung über Stand und Entwicklungslinien. 2. Aufl., Baden-Baden: Nomos, S.11-20.
  10. [http://www.uni-due.de/politik/forschung.php Goverance und Legitimation in der globalisierten Welt: Forschung am Institut für Politikwissenschaft der Universität Duisburg-Essen
  11. vgl. z.B. Wieland, Joseph 2005 (Hrsg.), Governanceethik im Diskurs, ISBN 3-89518-536-1, Marburg: Metropolis.

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