- Gustave Guillaume
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Gustave Guillaume (* 16. Dezember 1883 in Paris; † 3. Februar 1960 in Paris) war ein französischer Linguist.
Zeit seines Lebens ist Gustave Guillaume weitgehend verkannt geblieben. Dies liegt wahrscheinlich daran, dass die Sprachwissenschaft, die er entwickelt hat, zu neu für die Epoche war. In der Geschichte aller Wissenschaften kommt es manchmal vor, dass große Neuerer zuerst ungehört bleiben. Was sie an neuen Erkenntnissen bringen, kommt einfach zu früh. Die Zeitgenossen, und allen voran ihre unmittelbaren Fachkollegen, können es noch nicht verstehen - manchmal wollen sie es nicht einmal hören. Heutzutage gibt es weltweit immer mehr Sprachwissenschaftler, die der Meinung sind, dass Guillaume ein solcher Neuerer gewesen ist. Inzwischen haben seit seinem Tod auch elf internationale Kongresse stattgefunden, die sich mit der Psychomechanik der menschlichen Rede - der neuen, von ihm gegründeten Linguistik – beschäftigt haben.
Leben
Sein Weg zur Sprachwissenschaft ist der eines Außenseiters gewesen. Ein berühmter Professor und international anerkannter Philologe, Antoine Meillet (1866-1936), der ein Schüler und Freund von Saussure war, lernte 1909 in der Pariser Bank, wo er sein Konto hatte, einen sechsundzwanzigjährigen Banklehrling namens Gustave Guillaume kennen, der nicht nur in Finanzangelegenheiten begabt war, sondern auch kompetent über Mathematik, Physik, Philosophie, ältere und neuere Literatur sprechen konnte, obwohl er noch nie eine Universität besucht hatte. Meillet führte regelmäßig längere Gespräche mit dem jungen Mann, der sich sehr für Sprache und Grammatik interessierte. Er lud ihn schließlich ein, seine eigenen Lehrveranstaltungen sowie die anderer Philologen an der Ecole Pratique des Hautes Etudes und am Collège de France zu besuchen. Guillaume folgte diesem Rat und ließ sich in die Geheimnisse der historischen Grammatik und der sprachvergleichenden Methode einweihen. Man könnte also sagen, dass er gleichsam "über den Bankschalter" zur Linguistik gekommen ist. 1919 promovierte er mit einer bahnbrechenden Studie über Le problème de l'article et sa solution dans la langue française ("Das Problem des Artikels und seine Lösung im Französischen"). 1929 folgte ein anderes Buch: Temps et verbe. Auf Meillets Initiative hin bekam er an der Ecole Pratique des Hautes Etudes 1938 einen bescheidenen Lehrauftrag, der wöchentlich drei Stunden umfasste. Dort lehrte er bis zu seinem Tod (1960) vor einem zuerst kleinen, sich dann aber ständig erweiternden Zuhörerkreis. Seine letzte Ruhe fand er auf dem Friedhof Montparnasse in Paris.
Leistungen
Die Aufsätze, die er in wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlichte, wurden entweder mit Schweigen quittiert oder heftig von Leuten "widerlegt", die sich nicht einmal die Mühe gaben, sie zu verstehen. Es gehört zum Paradox vom Guillaumes Leben, dass er immer wieder auf Unverständnis gestoßen ist, obwohl die besten und einsichtigsten Köpfe der zeitgenössischen Sprachwissenschaft die Bedeutung seiner Arbeiten schon erkannt hatten. Abgesehen von seinem Lehrer Meillet, der ihn immer unterstützt und ermutigt hat, haben so hervorragende Wissenschaftler wie Louis Havet, Joseph Vendryes, Paul Imbs, René-Léon Wagner (der in Zusammenarbeit mit Jacqueline Pichon eine der besten Grammatiken des Französischen geschrieben hat) seine Entdeckungen begrüßt. Ihre Unterstützung hat jedoch anscheinend nicht genügt, um die Guillaume‘sche Linguistik vor Missverständnissen zu bewahren. Noch in den 1970ern war es gefährlich, in bestimmten sprachwissenschaftlichen Instituten den Namen Guillaumes in einer Doktorarbeit zu erwähnen.
Nach Guillaumes Tod 1960 hat einer seiner Schüler, der Quebecer Roch Valin, alle seine Manuskripte (60.000 Blätter)geerbt. Nach der Rückkehr in seine Heimat wurde er Professor und Leiter des sprachwissenschaftlichen Institutes der Universität Laval (Stadt Québec). Dort gründete er auch den Fonds Gustave Guillaume, eine Stiftung, an der die Manuskripte des Linguisten aufbewahrt werden. Im Lauf seiner Karriere hat Valin jüngere französisch- und englischsprachige Wissenschaftler nach den Methoden der Psychomechanik der menschlichen Rede ausgebildet. Nachdem er ein paar Jahre verstreichen ließ, um die in der offiziellen Sprachwissenschaft herrschende guillaumefeindliche Stimmung abflauen zu lassen, hat er 1964 in Langage et science du langage die schon vergriffenen Aufsätze von Guillaume neu herausgegeben. 1971 hat er auch mit der Veröffentlichung der zwischen 1938 und 1960 in der Ecole Pratique abgehaltenen Kurse begonnen: Bis heute sind in dieser Reihe schon sechzehn Bände erschienen (es werden dreißig Bände vorgesehen). Inzwischen wird unter der Leitung des Nachfolgers von Valin, Herrn Ronald Lowe, seit 2003 eine neue Reihe, „Essais et mémoires de Gustave Guillaume“, herausgegeben. In dieser neuen Reihe sind schon die zwei Bände einer wichtigen Arbeit Guillaumes: Prolégomènes à la linguistique structurale veröffentlicht worden.
Nicht nur Linguisten und Grammatiker haben das Denken Guillaumes gewürdigt. Auch andere Geisteswissenschaftler, wie zum Beispiel der Philosoph Paul Ricoeur, haben früh auf die Psychomechanik aufmerksam gemacht. Und schon in den 1960er-Jahren wies ein anderer Philosoph, Gilles Deleuze, auf die Bedeutung von Guillaumes Werk hin, und rief dazu auf, es zu „entdecken“ (vgl. Différence et Répétition, 1968, S. 265). Heutzutage ist Guillaume eindeutig „im Kommen“ : die Psychomechanik der menschlichen Rede findet immer mehr Resonanz innerhalb wie außerhalb des frankophonen Sprachraumes. Festzustellen ist, dass eine immer größere Zahl von Sprachwissenschaftlern – in so verschiedenen Ländern wie Russland, Belgien, Korea, Spanien, den Vereinigten Staaten, Kanada, Kroatien, usw.- sich für diese neue Strömung innerhalb der modernen Linguistik interessiert. Und die Principes de linguistique théorique de Gustave Guillaume, eine Sammlung von Texten, die von Valin und seinen Mitarbeitern zusammengestellt wurden, um den Einstieg in den Gedankengut des Linguisten zu erleichtern, sind jetzt in viele Kultursprachen übersetzt worden – darunter ins Deutsche unter dem Titel "Grundzüge einer theoretischen Linguistik".
Werke
- Guillaume, Gustave: Grundzüge einer theoretischen Linguistik. Max Niemeyer Verlag, 2000. ISBN 3-484-73050-1
- Guillaume, Gustave: Vier Aufsätze für eine neue Linguistik. Mit Beiträgen von Robert-Léon Wagner, Roch Valin und Denise Sadek-Khalil. Herausgegeben von Pierre Blanchaud. Verlag Dr. Kovac, 2006. ISBN 3-8300-2071-6
Kategorien:- Mann
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