Hans Nachtsheim

Hans Nachtsheim

Hans Nachtsheim (* 13. Juni 1890 in Koblenz; † 24. November 1979 in Boppard) war ein deutscher Zoologe und Genetiker.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Nachtsheim wurde 1921 Abteilungsleiter am Institut für Vererbungsforschung, einer Forschungseinrichtung der Landwirtschaftlichen Hochschule Berlin. 1923 wurde er dort apl. Professor. Von 1924 bis 1933 leitete er den Reichsbund der deutschen Kaninchenzüchter[1].

Von 1941 bis 1945 war Nachtsheim Leiter der Abteilung für experimentelle Erbpathologie am Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik (KWI-A), dessen kommissarischer Direktor er 1943 wurde. Er „[b]enutzte 1943 sechs epilepsiekranke Kinder aus der ‚Euthanasie’-Anstalt Brandenburg-Görden für ein Unterdruck-Experiment“[2]. Er forschte an Augen von in Auschwitz ermordeten Menschen und hatte mittelbar Verbindung zu Menschenversuchen im Bereich der Tuberkuloseforschung[3]. Er war als Professor für Genetik zuerst an der HU, dann an der FU Berlin tätig; seine Emeritierung erfolgte 1955, im Jahr darauf wurde er Mitglied der Bundesgesundheitskonferenz.

Nachtsheim war Träger des Großen Bundesverdienstkreuzes.[1]

Als eines von zwei Mitgliedern des KWI-A die „mit Sicherheit keine Verbindung zur NSDAP[4] hatten, konnte Hans Nachtsheim eine wichtige Figur im Aufbau der Genetik in der Bundesrepublik werden. Er leitete bis 1960 das Institut für vergleichende Erbbiologie und Erbpathologie der Max-Planck-Gesellschaft, das nach dem Krieg aus Nachtsheims Abteilung am KWI-A hervorgegangen war. Da im Nürnberger Ärzteprozess die luftfahrtmedizinische Forschung (und damit auch die Unterdruckversuche, an denen Nachtsheim beteiligt war) einer genauen Prüfung und auch der Verurteilung entging, wurde Nachtsheim nie für seine Forschungstätigkeit in der NS-Zeit zur Rechenschaft gezogen.

Dass die Rassenhygiene, wie sie in der NS-Zeit betrieben wurde, nach dem Krieg keine anerkannte Wissenschaft mehr war, ist naheliegend – eugenische Vorstellungen aber blieben weiter bestehen. So entbrannte in den fünfziger Jahren erneut eine Debatte um die Sterilisation. Zwangssterilisationen waren nun nicht mehr vertretbar, aber Juristen und Ärzte diskutierten, ob nicht freiwillige Sterilisationen rechtmäßig sein könnten. Nachtsheim, der ursprünglich Zoologe und zur Zeit seiner Tätigkeit am KWI-A kein Eugeniker war, mischte sich als einziger Genetiker in die Debatte ein, zu einem Zeitpunkt als die Eugenik eigentlich schon durch eine anders ausgerichtete Humangenetik abgelöst wurde. Nachtsheim sprach davon, dass eine „Pflicht zur praktischen Eugenik“[5] bestehe und dass „das Grundübel, das geschädigte Erbgut“[6] bekämpft werden müsse. Durch die Therapie von Erbkrankheiten entgingen kranke Gene der „Ausmerze“[7] und „die Ausbreitung des Gens nimmt zu, je mehr die Erfolge der Therapie fortschreiten“[8]. Betroffene und Anlageträger sollen solchermaßen aufgeklärt auf Kinder verzichten und sich freiwillig sterilisieren lassen. Zu Nachtheims Leidwesen ist eine „Sterilisation aus eugenischer Indikation“[9] in Deutschland nicht zulässig, obwohl es doch „Aufgabe und Pflicht des Staates und seiner Gesellschaft [ist], den Bürgern die Wege zu einer erfolgreichen Erbgesundheitspflege zu ebnen“[10]. Mit seiner Wortwahl (Bsp. „Erbgesundheitspflege“) stand er damit durchaus in der Tradition der Rassenhygiene.

Schriften (Auswahl)

  • Nachtsheim Hans: (1963) Unsere Pflicht zur praktischen Eugenik, in Bundesgesundheitsblatt 6: 277 – 286.
  • Nachtsheim Hans: (1966) Kampf den Erbkrankheiten, Schmiden bei Stuttgart: Franz Decker Verlag Nachf. GmbH.

Literatur

  • Ute Deichmann: Hans Nachtsheim, a Human Geneticist under National Socialism and the Question of Freedom of Science, in: Michael Fortun, Everett Mendelsohn (Hg.): The practices of human genetics, Dordrecht 1999, S. 143-153
  • Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich: Wer war was vor und nach 1945. Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main 2007, ISBN 3-596-16048-0.
  • Koch G.: Humangenetik und Neuropsychiatrie in meiner Zeit (1932-1978). Jahre der Entscheidung. Erlangen Jena 1993, Verlag Palm und Enke.
  • Gerhard Ruhenstroth-Bauer: Hans Nachtsheim † (Nachruf), in: Blut Vol. 40, 105-106 (1980).
  • Hans-Walter Schmuhl (Hrsg.): Rassenforschung an Kaiser-Wilhelm-Instituten vor und nach 1933. Wallstein Verlag, Göttingen 2003.
  • Alexander von Schwerin: Experimentalisierung des Menschen : Der Genetiker Hans Nachtsheim und die vergleichende Erbpathologie 1920-1945. Göttingen, Wallstein 2004, ISBN 3-89244-773-X.
  • Weindling P. (2003): Genetik und Menschenversuche in Deutschland, 1940 – 1950. Hans Nachtsheim, die Kaninchen von Dahlem und die Kinder vom Bullenhuser Damm. in Schmuhl H.-W. 2003 : 245 – 274.
  • Peter Weingart, Kroll J, Bayertz K: Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik in Deutschland. Frankfurt a. M. 1992, Suhrkamp Verlag.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. a b Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. Fischer Taschenbuch Verlag, Zweite aktualisierte Auflage, Frankfurt am Main 2005, ISBN 978-3-596-16048-8, S. 427.
  2. Schmuhl 2003: 336, vgl. Koch 1993: 124ff.
  3. vgl. Weindling 2003.
  4. Weingart et al. 1992: 418.
  5. Nachtsheim 1963: 277.
  6. Nachtsheim 1963: 278.
  7. Nachtsheim 1966: 92.
  8. Nachtsheim 1966: 93.
  9. Nachtsheim 1966: 99.
  10. Nachtsheim 1966: 112.

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