Herrschaft und Knechtschaft

Herrschaft und Knechtschaft


Herrschaft und Knechtschaft ist ein zentrales Motiv in der Philosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels, welches er in seinem Werk Phänomenologie des Geistes von 1807 ausführt. Aus dem Konzept um Herrschaft und Knechtschaft leitet Hegel – und später detaillierter Alexandre Kojève – eine universelle Geschichte ab, wie sie Immanuel Kant in seiner Schrift Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) bereits vorgezeichnet hatte.

Inhaltsverzeichnis

Ausgangspunkt

Ausgangspunkt ist die Vorstellung vom „ersten Menschen“, einem Menschen also, der vor der Geschichte – insbesondere der Zivilisation – lebt, einem Menschen auch ohne soziale Vorgeschichte. Die Überlegungen setzen an dem Punkt ein, an dem der erste Mensch zum ersten Mal auf einen anderen ersten Menschen trifft. Eine solche Situation ist im biologisch-historischen Sinn natürlich nicht möglich. Es handelt sich hier um ein Gedankenexperiment.

Kampf um Anerkennung

In dieser Situation treten die beiden ersten Menschen in einen „Kampf auf Leben und Tod um Anerkennung“ ein. Dieser Kampf kann prinzipiell zwar tatsächlich tödlich enden. In diesem Fall jedoch hätte auch der überlebende Sieger keinen Gewinn. Der Kampf um Anerkennung endet in dem Moment, da der damit Unterlegene sich für das Leben und damit ein Leben in Knechtschaft entscheidet. Er erkennt den Sieger als Menschen und Herrn an. Für Hegel ist der Kampf um Anerkennung somit die wesentliche Bedingung für Freiheit. Nur durch die Verachtung des Todes und die Höherbewertung von Anerkennung gewinnt der Herr seine Freiheit. Zugleich macht Hegel deutlich, dass Herr- und Knechtschaft zutiefst interdependent sind. Der Knecht ist zwar Knecht kraft seiner erzwungenen Unterordnung, jedoch ist der Status des Herrn von der Anerkennung seiner Herrschaft durch den Knecht abhängig. Mit dieser unauflöslichen Dialektik hat Hegel auch der modernen Psychologie, Anthropologie und Soziologie ein ungemein starkes Motiv gegeben, geht es hier doch um nicht weniger als das Thema der Macht in sozialen Beziehungen.

Vergleich mit Hobbes

Hier liegt ein wesentlicher Unterschied zur Philosophie von Thomas Hobbes, der in seiner Schrift Leviathan von 1651 ebenfalls ein bekanntes Gedankenexperiment zum ersten Menschen angestellt hat. Auch Hobbes erkennt das Streben nach Anerkennung als starke psychomotorische Kraft. Für ihn ist es jedoch Ursprung der Zwietracht zwischen Menschen. Voraussetzung für Frieden und Wohlstand ist, dass die Bürger ihren Wunsch nach Anerkennung – ihre Geltungs- oder Ruhmsucht, also ihre thymotischen Regungen – zurückzustellen lernen, beziehungsweise es ihnen angeboren ist, diese mit Hilfe des rationalen Teils der Psyche bewusst zu kontrollieren und sich einem Leviathan freiwillig unterzuordnen. Im so entstehenden Staat bleiben von den drei in Platons Politeia beschriebenen Teilen der Seele nur der gierdynamische emotionale, sowie der rationale nutzenoptimierende Teil als Antrieb und Kriterium für Handlungen. Der thymotische Teil (Stolz, Zorn, aber auch Selbstachtung und eben das Streben nach Anerkennung) muss unterdrückt werden. Hobbes erkennt durchaus, dass dadurch für Sicherheit und Frieden die Freiheit geopfert werden muss, also wie bei Hegel das Streben nach Anerkennung elementar mit der Möglichkeit der Freiheit verbunden ist, der wesentliche Unterschied zu Hegel ist jedoch die rationale Aufgabe des Strebens nach Anerkennung im Vergleich zur Niederlage in einem Kampf, sowie die vergleichsweise Leichtfertigkeit, mit der Hobbes bereit ist die Freiheit aufzugeben und glaubt, dass die Bürger bereit sind, diese aufzugeben. In Hobbes Philosophie kommt es nicht zur Revolution, da das Sicherheitsbedürfnis der Bürger zu groß ist.

Selbstbewusstsein

Hegel misst dem Ausgang des Kampfes eine hohe Bedeutung zu: Er betrachtet ihn als Quelle des Selbstbewusstseins – der Identität. Hierbei ist das Selbstbewusstsein des Knechts jedoch ein anderes als das des Herrn. Hegel unterscheidet beide Arten des Selbstbewusstseins als „Für-sich-sein“ (Herr) und „Für-andere-sein“ (Knecht). Der Herr bezieht sein Selbstbewusstsein aus der Tatsache anerkannt zu werden; dafür, dass er sein Leben riskiert hat. Er arbeitet nicht. Der Knecht jedoch arbeitet für den Herrn. Er bezieht sein Selbstbewusstsein im Laufe der Zeit nicht mehr nur aus der Tatsache für jemand anderen zu sein und zu arbeiten, sondern durch seine Arbeit gelangt er zur Herrschaft über die Natur.

Fortbestehen von Widersprüchen

Gemäß Hegels Dialektik ergibt sich in dieser Situation aus einem Widerspruch die Dynamik für historische Veränderung. Zum einen genügt dem Herrn die Anerkennung durch den Knecht nicht. Er möchte von seinesgleichen anerkannt werden. Die ursprünglich ersehnte Situation der Anerkennung des Herrn durch den Knecht, für die der Herr sein Leben riskierte, erweist sich mit der Zeit als unbefriedigend. Der Herr wird also in weiteren Kämpfen um Anerkennung gegen andere Herren sein Leben riskieren und versuchen diese anderen Herren ebenfalls zu seinen Knechten zu machen. Zum anderen erwächst dem Knecht durch seine Arbeit erlangte Herrschaft über die Natur faktisch eine Macht, die größer ist als die des Herrn und dies bedingt die Möglichkeit zur Revolution. Die zweite Bedingung für eine Revolution ist freilich, dass der Knecht zwar seine Identität aus der Herrschaft über die Natur bezieht, dadurch jedoch nicht völlig zufriedengestellt ist, sondern ein nach Würde und Anerkennung strebendes Wesen bleibt.

Historische Bezüge

Der unmittelbarste Bezug von Hegels Konzept von Herrschaft und Knechtschaft ergibt sich sicherlich zum mittelalterlichen Feudalsystem und Lehnswesen, aber auch den frühgeschichtlichen und Antiken Weltreichen. Nach Hegel jedoch wurde das Konzept – in erster Linie von Karl Marx und Friedrich Engels – auf das Verhältnis von Unternehmer und abhängigem Arbeiter übertragen und daraus eine historische Notwendigkeit einer Revolution abgeleitet, nach der jegliche gesellschaftlichen Hierarchien abgeschafft sind.

Nach Susan Buck-Morss ist ein Bezug dieses Teils der Hegel'schen Philosophie auf die durch die französische Revolution inspirierte Revolution in Haiti 1794 anzunehmen, bei der die Sklaven ihre französischen Herren überwanden und damit die Universalität der Prinzipien der französischen Revolution bewiesen.

Bertolt Brechts Veranschaulichung des Hegelschen Antagonismus in seinem Drama Herr Puntila und sein Knecht Matti (1948) ist in diesem Sinn moderner gelagert als die Beziehung zwischen Herr und Knecht in Denis Diderots Roman Jacques der Fatalist und sein Herr (1771), auf die sich Hegel bezogen hatte.

Bezug zum Christentum

Für Hegel ist das Christentum eine historische Vorbedingung für die Französische Revolution: „Es ist der Gang Gottes in der Welt, dass der Staat ist.“ (Grundlinien der Philosophie des Rechts) Es musste sich erst in einem autokratischen Staat die Vorstellung vom Menschen als freies Wesen mit Würde entwickeln können, ohne dass der autokratische Staat solche Ideen unterdrückte. Das Christentum bot – zumindest in bestimmter Auslegung – diesen geschützten Raum. Gottes Liebe für seine Geschöpfe als eine Form der Anerkennung, die allen seinen Geschöpfen unabhängig vom gesellschaftlichen Rang genauso gleichermaßen zukommt, wie sein Zorn bei Verstößen gegen sein Gesetz sieht Hegel nach der Französischen Revolution transformiert in eine wechselseitige Anerkennung aller Staatsbürger, sowie die Anerkennung bestimmter Grundrechte der Bürger durch den Staat.

Das Ende der Geschichte

Mit dem Ende der Geschichte ist kein Weltuntergang, sondern die Aufhebung aller Widersprüche gemeint, wodurch die Dynamik für weitere Veränderungen entfällt. Für Hegel ist das Ende der Geschichte in der Französischen Revolution – präzise: mit der Schlacht bei Jena – erreicht, da durch sie das Ende der Aristokratie gekommen – wenn auch noch nicht überall durchgesetzt – war. Durch die Generalisierung des Konzepts durch Marx und Engels mussten diese Autoren auch das Ende der Geschichte auf das Kommen der kommunistischen Revolution verlegen. Für Francis Fukuyama hingegen, der den Begriff vom „Ende der Geschichte“ hauptsächlich geprägt hat, ist es die liberale Demokratie, die das Ende der Geschichte bedeutet. Hier sind alle Widersprüche durch wechselseitige Anerkennung der Bürger aufgehoben. Fukuyama geht einen Zwischenweg zwischen der Verdammung des Strebens nach Anerkennung durch Hobbes und Locke, wie sie im Britischen Staatsverständnis dominiert und der Glorifizierung des Kampfes um Anerkennung als Bedingung von Freiheit durch Hegel. Fukuyama erkennt die Notwendigkeit der Zähmung des Wunsches mehr als alle anderen Menschen anerkannt zu werden (Megalothymia), erkennt im Wunsch nach gleicher Anerkennung (Isothymia) jedoch eine durchaus positive Kraft. In der liberalen Demokratie nimmt der Bürger nach Fukuyama somit Teile der Rolle von Herr und Teile der Rolle von Knecht ein. In welchem Maße beides geschieht, hängt von der Situation ab und kann sowohl stabil als auch schnellen Wechseln unterworfen sein.

Der Begriff der Menschenwürde

Warum der häufig zunächst als abstrakt und im Vergleich zu den elementaren Lebens- und Überlebensnotwendigkeiten weniger wesentlich erscheinende Begriff der Menschenwürde, im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland der erste, oberste und zentrale Grundwert und Wurzel aller Grundwerte ist, kann nur verstanden werden, wenn man Menschenwürde als Wert- und Achtungsanspruch versteht und mit Hegel das Streben nach Anerkennung und Achtung als die Geschichte treibende psychische Instanz schlechthin betrachtet. Wird die Menschenwürde als Wert- und Achtungsanspruch dauerhaft verletzt oder gar abgeschafft, wird ein Kollaps des Gemeinwesens bzw. eine Revolution zumindest wahrscheinlicher, wenn nicht sogar auf lange Sicht eine notwendig eintretendes Ereignis. Dass die Menschenwürde eine so prominente Stellung im deutschen Grundgesetz einnimmt, in anderen europäischen Verfassungen bzw. Staatsgründungsdokumenten zwar auftaucht, jedoch nicht an erster Stelle steht, kann somit als Ausfluss einer unterschiedlichen staatsphilosophischen Tradition, repräsentiert durch Hegel und Hobbes interpretiert werden, die in den zentralen Dokumenten wie Grundgesetz und Unabhängigkeitserklärung trotz der sonstigen weitgehenden Aufhebung der räumlich oder sprachlich bedingten Abgrenzung philosophischer Schulen.

Siehe auch

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