Herrschende Meinung

Herrschende Meinung

Der Begriff der herrschenden Meinung bezeichnet im akademischen und insbesondere juristischen Kontext die in einem Diskurs oder zu einer konkreten Streitfrage vorwiegend eingenommene Position.

Inhaltsverzeichnis

Rechtswissenschaft

Der Begriff der herrschenden Meinung wird in der Rechtswissenschaft bedeutsam, wenn sich bei einer konkreten Fragestellung logisch mehrere gangbare Lösungsansätze zeigen. Er bezeichnet die Auffassung, die von der Mehrzahl der mit diesem Problem befassten Juristen vertreten wird (→ Juristische Fachsprache). Sie wird üblicherweise knapp durch hM oder h.M. abgekürzt.

Der Begriff ist insofern unpräzise, als in der Rechtswissenschaft üblicherweise zwischen den Rechtsauffassungen der Rechtsprechung (Rspr.) und Literaturmeinungen differenziert wird. Da sich eine der gängigen Rechtsprechung zuwiderlaufende Ansicht in der Praxis, also gerichtlich, kaum durchsetzen lässt, kann sie auch dann nicht als herrschende Meinung gelten, wenn sie von der Mehrheit der Juristen so vertreten wird. Keinesfalls kann es etwa eine herrschende Meinung bei einer abweichenden Rechtsprechung des zuständigen obersten Bundesgerichts (etwa dem Bundesgerichtshof) geben. Insofern wird der Begriff häufig nur in Bezug jeweils auf die Rechtsprechung oder die Lehre verwendet. Präziser ist es daher, den Begriff der h.M. nur dann zu verwenden, wenn die entsprechende Ansicht sowohl von der Rechtsprechung als auch der überwiegenden Literatur vertreten wird. Fallen Rechtsprechung und überwiegende Literatur dagegen auseinander, sollte man schlicht von „Rechtsprechung“ beziehungsweise „ständiger Rechtsprechung“ (st. Rspr.) einerseits und „herrschender Lehre“ (h.L.) andererseits sprechen.

Eine Definition, wann eine Meinung herrschend ist, kann allerdings in der argumentativen Wissenschaft nicht trennscharf gegeben werden. Zur noch genaueren Unterscheidung wird daher etwa die ganz herrschende Meinung, die verpönte teilweise vertretene Ansicht oder die frische im Vordringen befindliche Meinung angeführt.

Kritik

Eine Berufung auf die herrschende Meinung wird in wissenschaftlichen Texten jedoch nicht in allen Fällen als zulässiges Argument erachtet.[1] Als legitime rhetorische Figur wird sie insbesondere dort akzeptiert, wo sie als zusätzliches, lediglich stützendes Argument herangezogen wird. Ebenso ist es in der wissenschaftlichen Literatur weit verbreitete Praxis, im Sinne eines abgekürzten Argumenationsverfahrens auf eine als bekannte vorausgesetzte Argumentationskette eines anderen Autors oder eben der herrschenden Meinung zu verweisen, ohne sie in aller Ausführlichkeit erneut darzustellen.

Besteht jedoch kein allgemeiner dogmatischer Konsens, so kann aus wissenschaftlicher Sicht die bloße Autorität einer „herrschenden Meinung“ eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Sachargumenten von jener und anderen Meinungen nicht ersetzen. In einem solchen Vorgehen wird ein „Zeichen eines gewissen Niederganges der Rechtskultur“ gesehen, da dadurch die „Fähigkeit, überhaupt eigene Gedanken zu entwickeln“, erlahme und in letzter Konsequenz eine „Erstarrung des Rechts“ drohe.[2]

Siehe auch

Literatur

  • Bernadette Tuschak: Die herrschende Meinung als Indikator europäischer Rechtskultur. Eine rechtsvergleichende Untersuchung der Bezugsquellen und Produzenten herrschender Meinung in England und Deutschland am Beispiel des Europarechts. Verlag Dr. Kovac, Hamburg 2009, ISBN 978-3-8300-4434-5.

Quellen

  1. Vgl. Arne Pilniok, „h.M.“ ist kein Argument – Überlegungen zum rechtswissenschaftlichen Argumentieren für Studierende in den Anfangssemestern, Juristische Schulung 2009, S. 394 ff., Fn 2.
  2. Roman Schnur, Der Begriff der „herrschenden Meinung“, in: Karl Doehring (Hrsg.), Festgabe für Ernst Forsthoff, München 1967, 46.
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