Literaturmeinung

Literaturmeinung

Unter der Literaturmeinung versteht man in der Rechtswissenschaft einen Standpunkt von Juristen insbesondere aus dem akademischen Bereich, der im juristischen Schrifttum geäußert wird, im Gegensatz zur Auffassung der Rechtsprechung.

Da es sich bei der Rechtswissenschaft nicht um eine exakte Wissenschaft handelt, bei der ein Ergebnis empirisch als richtig oder falsch nachgewiesen werden kann, kommt es für die Beurteilung einer juristischen Frage in der Praxis vor allem darauf an, wie sie von den Gerichten gesehen wird (Rechtsprechung). In der akademischen Auseinandersetzung kann es hingegen verschiedene Aussagen und Meinungen geben, die von vielen oder wenigen geteilt werden, ohne deswegen jeweils „falsch“ zu sein. Als absolut falsch wird eine Aussage daher nur dann aufgefasst, wenn sie auf einer nicht mehr vertretbaren Argumentation beruht, mit anderen Worten, wenn kein verständiger Jurist das Ergebnis oder den Weg dorthin noch unterstützen würde. Das ist etwa häufig dann der Fall, wenn das zunächst schlagende Argument der Ansicht durch eine Gesetzesänderung nun nicht mehr greift.

Richter in Deutschland, die als solche allein für die Rechtsprechung zuständig sind (Rechtsprechungsmonopol), sind nur an Recht und Gesetz gebunden und ansonsten unabhängig. Das bestimmt die Verfassung – das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (GG) – in den Artikeln 20 Absatz 3 und 97 Absatz 1. Aus dieser Stellung folgt, dass jeder Richter im Rahmen der Gesetze frei nach seiner Überzeugung entscheiden darf. Die Gerichte sind im Instanzenzug auch nicht an die Ansichten der höheren Gerichte gebunden, anders als dies in den Rechtsordnungen des Common Law der Fall ist. Es kann daher z. B. ein Amtsrichter ohne weiteres anders entscheiden als der Bundesgerichtshof. Einzige Folge ist, dass die Berufung gegen sein Urteil oder die Revision wahrscheinlich Erfolg haben werden, wenn nicht die höhere Instanz aus diesem Anlass ihre Rechtsauffassung ändert. In einem Rechtsstreit wird es dennoch meist nur auf die Entscheidungen der obersten Bundesgerichte ankommen, soweit die streitige Rechtsfrage schon einmal entschieden worden ist.

Eine Besonderheit bilden bestimmte rechtsetzende Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, da sie in den Fällen des § 31 Abs. 2 BVerfGG (Bundesverfassungsgerichtsgesetz) Gesetzeskraft und damit allgemeine rechtliche Geltung haben.

Die Literaturmeinung (auch die Auffassung/Ansicht der Literatur/des Schrifttums) ergibt sich – wie der weitgehend deckungsgleiche Begriff der Lehrmeinung auch vermuten lässt − hauptsächlich aus dem, was die Professoren des Rechts an den deutschen Universitäten lehren. Nachzulesen ist dies in Aufsätzen, Anmerkungen zu Gerichtsentscheidungen, Doktorarbeiten, Habilitationsschriften, Lehrbüchern, Monographien, Festschriften, Vortragsniederschriften und Kommentaren.

Begriffe

Juristen verwenden bestimmte Formulierungen bzw. Abkürzungen (siehe auch: Juristische Fachsprache), um zu kennzeichnen, wie stark eine bestimmte Auffassung unterstützt wird. Dies geschieht häufig auch dazu, die Überzeugungskraft dieser Ansicht zu unterstreichen (oder sie anzuzweifeln). Daher wird z. B. häufig die eigene Ansicht als „h.M.“ bezeichnet, obwohl dies ggf. gar nicht so ist (zur Einordnung siehe sogleich). Nicht übersehen werden darf auch, dass bei vielen Rechtsfragen eine „h.M.“ auf gut organisierter Interessenvertretung beruhen kann statt auf wissenschaftlicher Überzeugungskraft.

Unterschieden werden vor allem die sogenannte herrschende Meinung, die „herrschende Lehre/Literaturauffassung (h.L.)“ und sogenannte „Mindermeinungen“.

  • Von herrschender Meinung (h.M.) kann man dabei korrekterweise nur sprechen, wenn sie vom zuständigen obersten Bundesgericht (z. B. dem Bundesgerichtshof) sowie mehreren namhaften Autoren (nicht notwendig der Mehrheit) in der einschlägigen Literatur vertreten wird.
  • Von herrschender Lehre/Literaturansicht (h.L.) spricht man hingegen, wenn die überwiegende Anzahl der veröffentlichten Literaturstimmen diese Ansicht stützt. Erforderlich ist also eine entsprechende Mehrheit. Die Bezeichnung h.L. wird vor allem in Abgrenzung zur Ansicht der Rechtsprechung sowie von anderen Lösungsansätzen in der Literatur genutzt. So ist es nicht widersprüchlich, wenn einerseits eine herrschende Meinung (Obergerichte und Teile der Literatur) neben einer herrschender Literaturansicht steht. Dies wird häufig verwechselt. Es wäre aber tatsächlich falsch, bei einer ganz herrschenden Literaturauffassung von „h.M.“ zu sprechen, wenn das zuständige Obergericht diese nicht teilt.
  • Seltener vertretene Auffassungen in der Literatur oder im Bereich der unteren Instanzgerichte (z. B. Verwaltungsgerichte, Amtsgerichte) werden gebräuchlicherweise als Mindermeinung (oder neutraler als „Minderheitsmeinung“) bezeichnet, solange und soweit sie bisher keine Mehrheit gefunden haben.
  • Wenn eine Frage noch sehr kontrovers diskutiert wird, spricht man in der Regel nur von der „einen Ansicht“ (e.A.) und der „anderen Ansicht“ (a.A.). Das ungelöste Problem ist „streitig“ bzw. „strittig“ (str.).

Statt „herrschender Ansicht“ wird oft auch von der überwiegenden Ansicht gesprochen. Gebräuchlich sind auch meliorative Attribute, etwa „im Vordringen befindliche Ansicht“ oder pejorative Zusammensetzungen wie „anderer Ansicht, aber nicht überzeugend…“. Ein neutraler Vergleich wäre dagegen etwa „nach anderer Meinung…“ oder „nach abweichender Meinung…“.

Wenn (bis auf wenige Ausnahmen) in juristischen Veröffentlichungen (Urteilen, Aufsätzen, Kommentaren, s. o.) zu einer Frage nur noch eine Lösung vertreten wird, spricht man von ganz herrschender Auffassung. Gibt es seit geraumer Zeit gar keine abweichenden Stimmen mehr, spricht man von einhelliger Auffassung.

Die Begriffe „Ansicht“, „Meinung“ und „Auffassung“ sind (mit o. g. Einschränkung zu h.M./h.L.) gleichrangig und gleichbedeutend.

Bedeutsamkeit einer Mindermeinung gegenüber der herrschenden Meinung

  1. Die rechtswissenschaftliche Meinung befindet sich in einem permanenten Wandel. Dies wird einerseits durch die permanente Anpassung des Rechts an die gesellschaftliche Entwicklung und andererseits durch Gesetzgebung und Gesetzesänderung bewirkt. Das Kennen von Mindermeinungen lässt die eigene Position hinterfragen.
  2. Ein Rechtswissenschaftler muss in der Lage sein, Meinungen zu analysieren, d. h. sowohl die Stärken eines Arguments als auch die Schwächen erkennen können. Daher wird gerade im Jurastudium ein hohes Gewicht auf das Abwägen von Ansichten beziehungsweise (präziser) mit gegenläufigen Argumenten gelegt.
  3. Es kann manchmal geboten sein, eine vermittelnde Stellung zwischen zwei entgegenstehenden Positionen einzunehmen, um den Interessen der Parteien bzw. der Gerechtigkeit genüge zu tun. Unabdingbar ist daher die Fähigkeit, im konkreten Einzelfall zu differenzieren und dies auf das vorhandene Problem zu übertragen. Eine genaue Kenntnis mehrerer Meinungen ist daher notwendig.
  4. Eine Mindermeinung kann sich im Laufe der Zeit zur herrschenden oder sogar ganz herrschenden Meinung verkehren.
  5. Nach Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts darf in einer Prüfungsarbeit eine auch in der Wissenschaft vertretene Mindermeinung nicht als „falsch“ gewertet werden, wenn sie vom Prüfling korrekt wiedergegeben und folgerichtig weiter angewendet wird. Wird dem von Prüferseite zuwidergehandelt, kann der Kandidat sich dagegen u. U. gerichtlich zur Wehr setzen.

Literatur

  • Uwe Wesel: hM. In: Kursbuch 56 (1979), S. 88–109.
  • Thomas Drosdeck: Die herrschende Meinung – Autorität als Rechtsquelle: Funktionen einer juristischen Argumentationsfigur, Berlin 1989.
  • Bernadette Tuschak: Die herrschende Meinung als Indikator europäischer Rechtskultur. Eine rechtsvergleichende Untersuchung der Bezugsquellen und Produzenten herrschender Meinung in England und Deutschland am Beispiel des Europarechts. Verlag Dr. Kovac, Hamburg 2009, ISBN 978-3-8300-4434-5.
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