Hirtenpsalm

Hirtenpsalm

Der 23. Psalm, auch als Hirtenpsalm oder Psalm vom guten Hirten bezeichnet, gehört zu den bekanntesten Bibeltexten. Obwohl seine Bilder in der altorientalischen Viehzüchtergesellschaft wurzeln, vermag er offensichtlich auch heutige Menschen unmittelbar anzusprechen und leiht ihnen die Worte für das Bekenntnis einer persönlichen Glaubensüberzeugung.

Der Psalm ist Teil des Buches der Psalmen und der Liturgie. Der 23. Psalm hat für das Christentum auch deshalb besondere Bedeutung, da Jesus Christus selbst sich im Johannesevangelium als der „gute Hirte“ bezeichnet, der sein Leben für die Schafe hinzugeben bereit ist (Joh 10,11 EU).

Neben das Motiv von JHWH als Hirten tritt im zweiten Teil des Psalmes ein zweites, weniger beachtetes Motiv: das von JHWH als Gastgeber. Beiden Motiven gemeinsam ist das unbedingte Vertrauen des Beters in einen Gott, der den Menschen auf seinem Lebensweg mit all seinen Unwägbarkeiten behütet und begleitet.

Inhaltsverzeichnis

Der Text des Psalm 23

Der Textbefund des 23. Psalms gilt als außerordentlich günstig. Es liegen in den alten Handschriften keine wesentlichen Abweichungen vor.

In Vers 6 steht im masoretischen Text „ושבתי“ („und ich werde zurückkehren“), die Septuaginta übersetzt „και το κατοικειν με“ („und mein Wohnen ist ...“) d.h. ich werde wohnen.

Übersetzungen des Psalms

Vers Schlachter-Bibel (2002) Lutherbibel (1984)
1 Ein Psalm Davids. Der Herr ist mein Hirte; mir wird nichts mangeln. Ein Psalm Davids. Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.
2 Er weidet mich auf grünen Auen und führt mich zu stillen Wassern. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser.
3 Er erquickt meine Seele; er führt mich auf rechter Straße um seines Namens willen. Er erquicket meine Seele und führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen.
4 Und wenn ich auch wanderte im finsteren Todestal, so fürchte ich kein Unglück; denn Du bist bei mir, dein Stecken und dein Stab, die trösten mich. Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück; denn Du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.
5 Du bereitest vor mir einen Tisch angesichts meiner Feinde; Du hast mein Haupt mit Öl gesalbt, mein Becher fließt über. Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde. Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein.
6 Nur Güte und Gnade werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Haus des Herrn immerdar. Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar.

In der Liturgie der katholischen Kirche wird die Einheitsübersetzung des hebräischen Urtextes verwendet, in der evangelischen Kirche in der Regel die der Lutherübersetzung.

Vers Einheitsübersetzung (1980)
1 [Ein Psalm Davids.] Der Herr ist mein Hirte; / nichts wird mir fehlen.
2 Er lässt mich lagern auf grünen Auen / und führt mich zum Ruheplatz am Wasser.
3 Er stillt mein Verlangen; / er leitet mich auf rechten Pfaden, treu seinem Namen.
4 Muss ich auch wandern in finsterer Schlucht, ich fürchte kein Unheil; denn du bist bei mir, dein Stock und dein Stab geben mir Zuversicht.
5 Du deckst mir den Tisch vor den Augen meiner Feinde; Du salbst mein Haupt mit Öl, du füllst mir reichlich den Becher.
6 Lauter Güte und Huld werden mir folgen mein Leben lang, und im Haus des Herrn darf ich wohnen für lange Zeit.

Der hebräische Text, Übersetzungen der Septuaginta und der Vulgata sowie verschiedene deutschen Übersetzungen finden sich unten unter Ps 23,1-6 GNB (hier voreingestellt auf die Übersetzung Gute Nachricht Bibel).

Gliederung und Textstruktur

Der Psalmtext lässt sich in vier Abschnitte gliedern, die u. a. durch den Wechsel der Sprechsituation erkennbar werden.[1]

  1. Vers 1b bis 3c (er-ich)
  2. Vers 4 (ich-du)
  3. Vers 5 (du-ich)
  4. Vers 6 (ich-er)

Im Psalm überlagern sich mehrere Strukturen: Zum einen eine chiastische (überkreuzt), dann eine fortlaufende Struktur.

Chiastische Strukturelemente:

  1. Der oben erwähnte Personenwechsel.
  2. Am Anfang und am Ende wird der Gottesname (JHWH) genannt.
  3. Das Motiv der (Lebens-)Gefahr taucht in den Abschnitten 2 und 3 (Tal der Finsternis, im Angesicht meiner Widersacher) auf.

Fortlaufende Strukturelemente:

  1. Während in den ersten beiden Abschnitte das Motiv von JHWH als Hirten vorherrscht, tritt in Abschnitt drei und vier das Motiv von JHWH als gutem Gastgeber in den Vordergrund.
  2. Das Motiv des Essens und Trinkens wird in Abschnitt eins und drei erwähnt, Keule und Stab (Abschn. 2) korrespondieren mit Glück und Güte (Abschn. 4).
  3. Ein weiteres inhaltlliches Strukturmerkmal ist das der Bewegung. Zunächst ist der Mensch (in der Metapher Hirte-Herde) unterwegs (grüne Weiden, Wasser, Wege, Tal der Finsternis), dann sitzt er als (Ehren-)Gast beim Mahl, und schließlich ist die Rede vom (lebenslangen) Wohnen im Hause JHWHs.

Verfasserfrage und Alter des Psalms

Wie in fast der Hälfte aller biblischer Psalmen gibt der 23. Psalm David als Verfasser an. Gemeint ist der zweite König Israels, der um 1.000 vor Christus herrschte und unter den israelitischen Königen eine herausragende Stellung einnimmt. Der biblischen Überlieferung nach war David in seiner Jugend ein Hirtenjunge. Seine spätere Aufgabe als König empfand er im übertragenen Sinne ebenfalls als "Hirtendienst".

Die Psalmüberschrift "מזמור לדוד" (Ein Psalm. Von/für David") wird heute als sekundär angesehen. Für die meisten Exegeten spricht u. a. der letzte Vers des 23. Psalms gegen eine Verfasserschaft Davids; hier ist vom „Haus des Herrn“ die Rede, womit der Jerusalemer Tempel gemeint sei. Dieser wurde aber erst während der Regierungszeit seines Sohnes Salomo erbaut. Einige Befürworter der Verfasserschaft Davids weisen jedoch darauf hin, dass mit dem Begriff „Haus“ auch „Familie“ und „Sippe“ gemeint sein kann.

Obwohl der Psalm archaische Motive aus der Lebenswelt der Halbnomaden aufgreift, dürfte er aus inhaltlichen Erwägungen (Gott-Mensch-Beziehung; Armenfrömmigkeit) erst nach dem Exil zur Zeit des zweiten Tempels entstanden sein.

Gattung

Im christlichen Kontext wird Psalm 23 heute meist als individuelles Vertrauenslied verstanden. Andere Ausleger tendieren angesichts der Verse 5 und 6 zu der Annahme, dass Psalm seinen ursprünglichen Platz im (jerusalemer) Tempelgottesdienst hatte. Zu denken sei dabei an ein Gemeindelied, das JHWH als den Hirten Israels besang (vgl. Psalm 80,2).

Willy Schottroff meint, dass der Wortlaut ursprünglich auf ein Lob- und Danklied eines Flüchtlings im Jerusalemer Tempelasyl verweist. Die individuelle Erfahrung wurde im Psalter Israels aufbewahrt und wurde so zu einem wirklichen Volkslied. Weil Israel sich mit dem Ich gemeint weiß, ist dieser Psalm und sind die Psalmen Teil der Tradition und des Gebetbuches Israels.[2]

Dagegen spricht nach Meinung einiger Ausleger die sehr persönlich gehaltenen Formulierungen des Psalms. Diese lasse eher auf eine private Andacht als ursprünglichen Ort des Psalms schließen.

Nach Erich Zenger wurde der Psalm ursprünglich nicht als Danklied bei eine Opfermahlsfeier im Tempel gesungen, sondern als Vertrauensgebet verwendet. Seiner Meinung nach kann V. 5 keine Anspielung auf das Dankopfermahl im Jerusalemer Tempel sein, da die Initiative zum Mahl hier nicht vom Menschen ausgeht, im Gegenteil: Alles kommt von Gott her. Außerdem hat der „Salbungsbrauch“ in V. 5c nichts mit einem Opfermahl zu tun. Auch das Eingangsbekenntnis des Psalmes widerspricht dem Gattungsmerkmal eines Dankliedes. Der als Nominalsatz gestaltete Vers 1b ist im Sinne eines Bekenntnisses „JHWH ist mein Hirte“ (und niemand sonst!) zu verstehen. Schließlich durchzieht den ganzen Psalm der Ausdruck der Geborgenheit des Beters in der ihm von JHWH geschenkten Lebensgemeinschaft, kraft derer er alle Widerwärtigkeiten des Lebens auszuhalten vermag.[3]

Anmerkungen zum Inhalt

Im 23. Psalm spiegelt sich nach verbreiteter christlicher Interpretation die tiefe Beziehung eines Einzelnen zu Gott, der mit dem Namen JHWH (Lutherübersetzung: Herr; Bubers Verdeutschung: ER; Zunz Wiedergabe der Ewige) identifiziert wird. Damit wird gewissermaßen unter der Hand auch ein Bekenntnis gegen andere Götter und Mächte formuliert: JHWH (und eben kein anderer Gott) ist der Hirte des Psalmisten.

Mit dem Begriff „Hirte“ werden im Alten Orient verschiedene Herrscher bezeichnet. Der Titel ist ab 3.000 vor Chr. im Zweistromland für Herrscher nachweisbar. Hirte im Gegenüber zu Herdenvieh ist eine aus der Umwelt Israels bekannte Metaphorik, die auch in der Bibel Verwendung findet z. B. für David (2 Samuel 24,17), für den erwarteten messianischen Herrscher (Ezechiel 34,23f; Sacharja 13,7), für Mose (Jesaja 63,11), für spätere Führer in Israel (Jesaja 56,11; Jeremia 2,8; 3,15 u.ö.; Micha 5,4), aber auch für fremde Herrscher wie den Perserkönig Kyros (Jes 44,28). Auch Gott selbst wird als Hirte bezeichnet oder mit jemand verglichen, der seine Schafe weidet, das heißt regiert (Genesis 48,15; Jesaja 40,11; Jeremia 31,10). Demgegenüber erscheint dann Israel als Gottes Herde (Psalm 77,21). Wenn Gott also in Psalm 23 weidet wie ein Hirte, dann ist damit keine romantische Vorstellung vom Hirtenleben auf dem Felde angesprochen und es wird nicht an einen Beruf armer Leute gedacht, sondern hier geht es um einen Herrschaftstitel. Eingeschlossen ist dabei immer – so zeigen es auch die Quellen aus der damaligen Umwelt Israels: 1. ein legitimer Anspruch auf Herrschaft und Führung 2. die Pflicht für Schutz und Ordnung zu sorgen 3. die anvertrauten Menschen mit Speise und Trank reichlich zu versorgen.

Ludwig Köhler deutete die Bildersprache des Psalms 23 vor dem Hintergrund des Weidewechsels. In der orientalischen Landschaft existieren nur „insulare“ Weideflächen. Ist die Wiese abgegrast, muss die Herde zum nächsten Weideplatz geführt werden. Zwischen den einzelnen „grünen Auen“ liegen oft gefährliche Wege („und ob ich schon wanderte im finsteren Tal“). Die Qualität eines Hirten erweist sich vor allem darin, seine Herde „auf rechter Straße zu führen“. Dieser Psalm beschreibt das menschliche Leben als Weg: auch da, wo der Weg an ein Ende zu kommen scheint, führt er trotzdem weiter. Der Psalmist vertraut seinem Hirten völlig und weiß sich sogar in der „Todesschattenschlucht“ („im finsteren Tale“) bei ihm geborgen. Allein das Erblicken des spezifischen Hirtenstabs (jeder Hirte hatte einen besonders geschnitzten Stab) ermutigt und hilft gegen die Angst.

Merkwürdig in diesem Zusammenhang ist der plötzliche Wechsel der Form in Vers 4: Aus dem Reden über den guten Hirten wird beim Stichwort „Todesschattenschlucht“ das Reden mit ihm. Aus dem „Er“ entwickelt sich unvermittelt das „Du“, aus einem Bekenntnis zu JHWH als dem guten Hirten wird ein Gebet: „... denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.“ In den Versen 5 und 6 wird das Bild von Hirte und Schaf plötzlich durchbrochen. JHWH erscheint als der Gastgeber, der „den Tisch im Angesicht der Feinde“ deckt, dem Psalmdichter kräftig (voll) einschenkt und ihn dabei - wie bei einen vornehmen Gast üblich - mit Salböl übergießt. Der Psalmist sieht sich also nicht als nur als Schaf in der Herde seines göttlichen Hirten; er wird hier zum Bedienten, zum geehrten Gast.

Einige Ausleger haben deshalb angenommen, dass hier zwei ursprünglich eigenständige Psalmen miteinander kombiniert worden sind: „JHWH, der gute Hirte“ und „JHWH, der freundliche Gastgeber“. Andere bestreiten dies. Wie dem auch sei: In der Kombination der beiden Bilder offenbart sich biblischer Humor: Wer kennt ein Schaf, das sich an den Tisch seines Hirten setzen darf und von diesem rundum bedient wird? Und welches Schaf darf mit seinem Hirten unter einem Dach wohnen? Die Antwort muss lauten: In der Welt der Hirten und Schafe gibt es so etwas nicht, wohl aber bei dem, dessen Hirte JHWH ist.

Der Vers 6 bietet eine weitere interessante Aussage: „Nur Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen alle Tage meines Lebens ...“ Der Psalmist erwartet also nicht, dass er Zeit seines Lebens auf „Gutes und Barmherzigkeit“ stößt. Das würde auch der Erfahrung der „Todesschattenschlucht“ und der Begegnung mit den Feinden (Vers 5) widersprechen. Schlicht und einfach formuliert lautet seine tiefe Überzeugung: Was immer mir auch auf meinem Weg begegnet, Gottes Güte bleibt mir auf den Fersen. Die Dimension dieses Glaubens wird deutlich, angesichts der Tatsache, dass dieser Psalm nicht nur in christlichen Gottesdiensten laut wird, sondern auch nach der Shoa im Judentum weiter gesungen wird.

Literatur

  • W. Philipp Keller: Psalm 23 - aus der Sicht eines Schafhirten, Asslar 1993 (22. Auflage), ISBN 3-89437-295-8
  • Charles Haddon Spurgeon: Aus der Schatzkammer Davids, Bd III: Die Botschaft von Vertrauen und Errettung in Psalmen (Neubearbeitung), Kassel 1964, S. 18ff
  • Ton Veerkamp, Das Lied: Er ist mein Hirt, in: Texte & Kontexte Exegetische Zeitschrift Nr. 8, 3. Jg. 2/1980 S. 4-21
  • Alfons Deissler, Die Psalmen, Düsseldorf (Patmos-Verlag) 1963.1964.1965 (7. Aufl. 1993), ISBN 3-491-69062-5
  • Heinrich Groß, Heinz Reinelt: Das Buch der Psalmen. Teil I (Ps 1 - 72), (= Geistliche Schriftlesung, Band 18/1), Leipzig (St. Benno-Verlag), 1979 (3. Aufl. 1986).
  • Erhard S. Gerstenberger: Psalms. Part I (Ps 1-60). The Forms of the Old Testament Literature. Grand Rapids 1991
  • Erich Zenger: Mit meinem Gott überspringe ich Mauern. Psalmenauslegungen 1. 2. Auflage. Herder, Freiburg/Basel/Wien 1994, ISBN 3-451-08810-X
  • Frank Lothar Hossfeld, Erich Zenger: Die Psalmen I. Psalm 1-50. (= NEB.AT 29) Würzburg 1993
  • S. Mittmann, Aufbau und Einheit des Danklieds Psalm 23, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche (ZThK) 77, 1980, 1-23.
  • W. Stenger, Strukturale 'relecture' von Ps 23, in: Festschrift Heinrich Groß, Stuttgart 2. Aufl. 1987, 441-455.
  • Ludwig Köhler, Psalm 23: ZAW 68 (1956), 227-234.
  • Willy Schottroff, Psalm 23. Zur Methode sozialgeschichtlicher Bibelauslegung, in: Willy Schottroff / Wolfgang Stegemann (Hg.), Tradition der Befreiung, München 1980, 78-113.
  • Leonardo Boff, Der Herr ist mein Hirte. Psalm 23 ausgelegt von L. B., Düsseldorf 2005 (Patmos), ISBN 3-491-703883

Einzelnachweise

  1. Erich Zenger, Psalm 23, in: Frank Lothar Hossfeld/Erich Zenger, Psalmen I. Psalm 1-50 (= Die Neue Echter Bibel. Kommentar zum Alten Testament mit der Einheitsübersetzung, Bd. 29), Würzburg 1993 S. 152-156 ISBN 3-429-00744-5
  2. Willy Schottroff, Psalm 23, in: Willy Schottroff, Wolfgang Stegemann Hrsg., Traditionen der Befreiung Bd. 1, München 1980 S. 78-113 ISBN 3-459-01316-8
  3. Erich Zenger, Psalm 23, in: Erich Zenger, Mit meinem Gott überspringe ich Mauern. Psalmenauslegungen 1,, Freiburg u.a. 2. Aufl. 1994 S. 225-232 ISBN 3-451-08810-X

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