Importsubstitution

Importsubstitution

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Als Importsubstituierende Industrialisierung (ISI) wird ein Entwicklungssystem bezeichnet, bei dem Importgüter durch im Inland hergestellte Produkte ersetzt werden; es wurde vor allem in den 1950er und 1960er Jahren in Südasien, Afrika und Lateinamerika umgesetzt.

Industrialisierung ist die Prägung einer Volkswirtschaft durch Industrie, also die Ausrichtung von Wirtschaftsleben und Gesellschaft auf das verarbeitende Gewerbe. ISI ist also der Versuch, zwei ökonomische Komplexe so zu verzahnen, dass sie sich gegenseitig ergänzen und verstärken. Der temporäre Schutz des Inlandsmarktes durch Zölle soll durch die Entfaltung von Größenvorteilen der Massenproduktion (Skaleneffekte oder Economies of scale) und Erfahrungen (learning by doing) den Aufbau eines rentablen Sekundärsektors ermöglichen. Dessen Produkte wiederum können inländische Konsumbedürfnisse befriedigen und machen die Einfuhr unnötig. Derart abstrakt, findet man das Konzept seit Jahrhunderten in ökonomischen Texten (etwa Friedrich Lists Erziehungszölle aus dem frühen 19. Jahrhundert und neuerdings unter dem Namen Infant-Industry-Zölle). In den 50er und 60er Jahren bezogen sich viele Entwicklungsländer explizit auf die ISI und schotteten sich vom Weltmarkt ab.

Vor allem in Lateinamerika wurde nach den Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise in den 1950er und 1960er Jahren bewusst eine Abschottung vom Weltmarkt betrieben, um den Devisenbedarf zu senken und die heimischen Industrien zu fördern. Man wollte sich von der doppelten Abhängigkeit vom Agrarsektor und von der „1. Welt“ auf einmal lösen. Parallel ist ein enormes Wachstum des Staatseinflusses auf die Wirtschaft zu beobachten, denn nur den Staat hielt man für fähig, trotz des Rückstandes zu Europa und den USA für den Aufbau einer Industrie zu sorgen. Die Folge war ein zwei Jahrzehnte dauernder Aufschwung, der aber nur Teilen der Gesellschaft zugute kam: Unternehmern, Industriearbeitern und Staatsangestellten. Trotz der im Konzept der ISI angelegten Probleme schafften diese politisch mächtigen Akteure es, das Entwicklungsmodell lange – zu lange – fortzuführen, bis es in zahlreichen Wirtschaftskrisen in den 70ern kollabierte.

Inhaltsverzeichnis

Historischer Kontext

Postkolonialer Nord-Süd-Handel

Die erste Phase der Globalisierung zwischen Unabhängigkeit der lateinamerikanischen Staaten und der Weltwirtschaftskrise (1923–1929) vertiefte das Muster der kolonialen Arbeitsteilung. Lateinamerika exportierte Agrarerzeugnisse und Bergbauprodukte, die von einem oft quasi-feudalen Hacienda-System bzw. von oligarchisch organisierten Minenunternehmern hergestellt wurden. Die kleine besitzende Oberschicht befriedigte ihren Bedarf an hochwertigen Konsumgütern vor allem durch Importe aus Europa und den USA. Während die Exportsektoren des Subkontinents immerhin durch Technologie und Kapital aus dem Norden modernisiert wurden (Preuße 1991: 9), wurde der Rest dieser „dualen Wirtschaft“ abgekoppelt und stagnierte (Bernecker/Tobler 1996: 15).

Das wichtigste Exportgut von 1900 in den Ländern Südamerikas: Argentinien (Wolle), Bolivien (Silber), Brasilien (Kaffee), Chile (Salpeter), Kolumbien (Kaffee), Mexiko (Silber), Peru (Zucker), Uruguay (Wolle) und Venezuela (Kaffee). Die meisten Staaten waren darüber hinaus zu 50–80 % des Exportes von nur zwei Gütern abhängig (Thorp 1998: 53, 347).

Die erste Welle ab 1929

Den ersten Dämpfer erhielt dieses Modell des internationalen Handels durch den Ersten Weltkrieg, der die Importmöglichkeiten empfindlich beschränkte. Sehr viel tiefer ging jedoch der Einbruch aufgrund der Weltwirtschaftskrise, der das traditionelle System buchstäblich zum Erliegen brachte. Wegen Überkapazitäten in Europa und den USA stürzten die Preise für Weizen, Fleisch und Wolle in den Keller. Mit der industriellen Depression blieb auch die Nachfrage nach mineralischen Rohstoffen immer mehr aus. Als die offensten Volkswirtschaften der Welt litten die südamerikanischen Staaten wie keine anderen. Die Exportmengen Lateinamerikas sanken nach 1929 innerhalb von drei Jahren um ein Viertel und die erzielten Preise brachen um zwei Drittel ein (Thorp 1998: 105); so konnten nur noch die Hälfte der Importe finanziert werden. Am schlimmsten traf es Chile: Die Exporterlöse sanken um 82% und die Wirtschaftsleistung um 40% (Thorp 1998: 114). Die sozialen Folgen sind kaum vorstellbar und für Jahrzehnte prägte sich dieses historische Drama in das gesellschaftliche Gedächtnis Lateinamerikas ein, so dass der Weltmarkt in erster Linie als Bedrohung empfunden wurde. Allerdings sorgte die erzwungene Abkoppelung vom Weltmarkt für einen Industrialisierungsschub: Einheimische Produzenten ersetzten die unbezahlbar gewordenen Importe und schufen einen sekundären Sektor.

Die zweite Welle ab 1949

Schon Ende der 30er Jahre begannen die ersten Versuche, diese Entwicklung aktiv zu unterstützen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Entwicklungspolitik zunehmend „zielstrebig auf die Importsubstitution ausgerichtet“ (Hesse 1968: 645). Obwohl die Rohstoffpreise nach dem Koreakrieg 1953 weiter anzogen, setzten Wirtschafts- und Entwicklungspolitiker des Südens weltweit auf eine abschottende Entwicklungspolitik. Sie wollten ihre Länder unabhängig von Importen machen, ihre Industrien vor dem „ruinösen Wettbewerb“ der Industrieländer schützen und durch aktive Wirtschaftspolitik den „Leitsektor“ Industrie zum Zugpferd der Entwicklung machen. Mit der Gründung der Comisión Económica para América Latina y el Caribe (CEPAL) 1949 und ihrem Generalsekretär Raúl Prebisch (bis 1962) erhielt die ISI ihre prominentesten Verfechter. Die folgenden zwei Jahrzehnte der „Zweiten Welle der Importsubstitution“ werden deshalb auch CEPALismo genannt. Nun – 20 Jahre nach ihren Anfängen – beginnt auch die theoretische Fundierung der ISI durch Wissenschaftler wie Prebisch, Hans Singer, Gunnar Myrdal oder Enrique Cardoso.

Ökonomische Theorie und Wirtschaftspolitik

Mangelnde Konkurrenzfähigkeit

Fast alle Entwicklungsökonomen schätzten um 1950 die internationale Konkurrenzfähigkeit der lateinamerikanischen Industrien auf absehbare Zeit als miserabel ein. Gegen die technologisch ausgereiften und in Massenproduktion herstellenden Fabriken in Europa und den USA konnte Lateinamerika auf dem Weltmarkt auf viele Jahrzehnte nicht mithalten, so schien es. Dieser „Anpassungspessimismus“ (Preuße 1991: 5, auch Hesse 1968: 656 – 662) war gerade auch in der CEPAL verbreitet. Damit war klar, dass der Aufbau der Industrien nur mit massiver staatlicher Unterstützung erfolgen konnte. Eine aktiv eingreifende Wirtschaftspolitik schien nötig.

Kapitalknappheit

Als entwicklungspolitischen Leitsektor sah man die Industrie und diagnostizierte den chronischen Devisenmangel als Ursache der Unterentwicklung. Ohne Devisen lassen sich keine Investitionsgüter (also zum Beispiel Maschinen und Produktionsanlagen) importieren, damit keine Industrie aufbauen und keine Entwicklung voranbringen. Als Grund für die Kapitalknappheit sahen sie vor allem die stetig fallenden Preise ihrer Exportgüter.

Die ISI-Verfechter verwiesen auf das vom Kolonialismus geerbte Muster des internationalen Handels: Entwicklungsländer (EL) oder die „Peripherie“ tauschen nach einem immerwährenden Muster Rohstoffe gegen Industriegüter aus den Industrieländern (IL), dem „Zentrum“. Diese nach neoklassischer Handelstheorie (statisch) durchaus für alle vorteilhafte Arbeitsteilung wird durch die „Prebisch-Singer-These“ zum Nachteil. Dabei gehen die beiden Forscher von einer säkularen Verschlechterung der Terms of Trade (ToT) der EL aus, weil die Preise für Rohstoffe (relativ zu denen für Industriegüter) immer weiter sänken. Einfach ausgedrückt: LA kann sich für seine Exporte immer weniger Importe leisten.

Dutzende Hypothesen wollen erklären, warum Primärgüter im Laufe der weltwirtschaftlichen Entwicklung immer billiger werden, während sie wegen ihrer endlichen Verfügbarkeit überwiegend teurer werden sollten. Als Gründe gelten unter anderem ein effizienterer Rohstoffeinsatz in der Industrie, das Aufkommen von Rohstoffsubstituten, Recycling, Abschottung der Agrarmärkte des Nordens, das Wachstum des Dienstleistungssektors oder auch unterschiedliche Arbeitsmärkte in IL und EL. Letztlich sind die Gründe wohl produktspezifisch. Nach zahlreichen empirischen Arbeiten können zwei Aussagen getroffen werden: Zum einen schwanken die Preise von Primärgütern sehr stark über globale Konjunkturzyklen, zum anderen kann tendenziell tatsächlich ein Preisverfall festgestellt werden, so dass die ToT von Lateinamerika sinken (Preuße 1991: 17). An dieser Verschlechterung setzen nun Prebisch und Singer an: Sinkende Preise führen zu weniger Exporterlösen, damit zu weniger Deviseneinnahmen und schließlich zu weniger Importmöglichkeiten. Mangels Kapitalgüter stagniert die Industrialisierung. Die Importsubstitution versuchte nun, den Devisenbedarf zu senken.

Was Prebisch und seine Anhänger jedoch nicht in Betracht zogen, war die Tatsache, dass sich die ToT für Entwicklungsländer auch positiv entwickeln können. Dies kann einerseits durch steigende Rohstoffpreise geschehen, wie derzeit am Ölpreis zu sehen ist, oder aber durch eine Veränderung der Exportstrukturen der Entwicklungsländer, die Prebisch und Co als unveränderlich ansahen. Heute steht fest, dass Entwicklungsländer in einem erheblich größerem Ausmaß Industriegüter exportieren als noch in den 50er Jahren. Dies bewirkt schließlich eine Abschwächung sich verchlechternder ToT für Entwicklungsländer. Genauer: Es steht nun nicht mehr nur der Preisindex der exportierten Rohstoffe in Relation zu den importierten Industriegütern sondern es stehen der Preisindex der exportierten Rohstoffe plus der Preisindex der exportierten Industriegüter in Relation zum Preisindex der importierten Industriegüter. Ein durch sinkende Rohstoffpreise entstehender Nachteil würde somit also zu einem gewissen Maße kompensiert werden, da die Entwicklungsländer zunehmend selber Industriegüter exportieren (insbesondere asiatische Entwicklungsländer, aber auch Länder in Afrika und Lateinamerika). Aus heutiger Sicht ist die Prebisch-Singer-These so also nicht haltbar. Da Prebisch und seine Anhänger diese Möglichkeit jedoch außer Acht ließen bzw. als nicht realisierbar betrachteten, entwickelten sie das Konzept der ISI.

Schutz nach Außen

Folgt man der Argumentation, gibt es zwei mögliche Strategien zur Vermeidung von Devisenknappheit: Eine Senkung des Importbedarfs oder eine Erhöhung der Exporte. Exportiert werden können wiederum traditionelle Güter (Agrar- und Rohstoffe) oder neu Produkte (aus noch aufzubauenden Industrien). Die sinkenden ToT machen ersteres wenig nachhaltig und die mangelnde Konkurrenzfähigkeit letzteres unmöglich. Also bleibt nur eine Beschränkung der Importe.

Gleichzeitig soll die Errichtung von Handelsbarrieren ein zweites Ziel erreichen: Den Aufbau von Industrien im Schutz der Zollmauern. Grundgedanke dieser Listschen „Erziehungszölle“ oder „infant-industry“-Zölle ist die Tatsache, dass bei industrieller Fertigung häufig hohe Skalenerträge und Lerneffekte auftreten. Skalenerträge oder „Economies of Scale“ (EoS) sind die Vorteile von Massenproduktion, bei der die Stückkosten bei großen Mengen sinken. Lerneffekte oder „dynamische EoS“ beschreiben technologische Fortentwicklungen im Zuge der Produktion, also learning-by-doing. Ziel war es, mit Zollschranken hohe Inlandspreise festzuschreiben, so dass die noch wenig produktiven Industrien rentabel arbeiten können. Mit der Zeit sollen sich Skalen- und Lerneffekte entfalten, so dass die Unternehmen irgendwann auf dem Weltmarkt konkurrieren können und die Schutzzölle unnötig werden. (Siehe auch: Dissoziationsstrategie von Dieter Senghaas).

Beide Ziele sind also miteinander verwoben: Die sinkenden Importe von Konsumgütern ermöglichen mehr Importe von Investitionsgütern, die zum Aufbau der Industrie benötigt werden. Die steigende Inlandsproduktion ersetzt die weggefallenen Konsumgüterimporte. Als drittes Ziel wurde erwartet, dass die Verteuerung von Einfuhren Investoren aus dem Norden dazu bewegt, in den EL lokale Produktionsstätten zu errichten (tariff jumping). Solche Direktinvestitionen bringen zahlreiche Vorteile mit sich.

Wachsender Einfluss des Staates

Einher mit der Abschottung nach außen ging eine massive Ausweitung des staatlichen Einflusses auf die Wirtschaft. Um die Industrialisierung voranzutreiben, wurden auf dem Subkontinent generalstabsmäßig ganze Industriezweige aus dem Boden gestampft. Zahlreiche Staatsunternehmen wurden neu gegründet und ausländische Konzerne enteignet. Mit direkter Einflussnahme auf Banken oder der Gründung von staatlichen Entwicklungsbanken wurde die Kreditvergabe gezielt gesteuert. So verdoppelte sich die Staatsquote beinahe auf 26 % im Jahre 1970. Staatliche Unternehmen erwirtschafteten bis zu 60 % der Wirtschaftsleistung (Pietschmann 1992: 415). Ein Dreiviertel Jahrhundert später als in Europa wurden in Lateinamerika Sozialversicherungen, Arbeitsschutzgesetze und Anfänge eines Wohlfahrtsstaates entwickelt. Aber auch die Privatwirtschaft unterlag immer mehr einem rigiden Dirigismus und durch korporatistische Strukturen verwoben Staat und Wirtschaft immer mehr. Dies ist eine zwangsläufige Folge von Schutzzöllen und Industriepolitik: So erzwingt etwa die Errichtung von Schutzzöllen ebenso Kooperation von Staat und Privatwirtschaft wie Devisenbewirtschaftung oder die Entwicklung von Sozialgesetzen.

Erfolge

Augenscheinlich hatte die Entwicklungsstrategie der ISI zwei Jahrzehnte respektable Ergebnisse vorzuweisen. Mit 5,6 % wuchs das BIP Lateinamerikas während der zweiten Welle der ISI (1945–1972) so hoch wie nie zuvor (und danach), wobei die CEPAL schätzt, dass davon gut ein Drittel der ISI zuzurechnen ist (Thorp 1998: 161). Das verarbeitende Gewerbe wuchs nochmals deutlich schneller, sein Anteil am BIP steigt rapide. Das wirtschaftliche Wachstum wurde von einem enormen sozialen Fortschritt begleitet. Alphabetisierungsrate, Lebenserwartung und Realeinkommen stiegen dramatisch.

Eine umfassende und relativ erfolgreiche Anwendung der ISI gelang in Chile, Brasilien, Kolumbien, Argentinien, Mexiko und Uruguay, also meist relativ große Länder mit schon existierenden Ansätzen von Industrie. In den restlichen Andenstaaten und Paraguay – kleinere und agrarisch geprägte Länder – ist der Erfolg durchweg bescheiden geblieben.

Strukturelle ökonomische Probleme

Änderung der Exportstruktur

Die Vertreter der ISI gingen davon aus, dass das Muster des internationalen Handels starr ist, dass Südamerika also ohne die Umsetzung der ISI auf immer ein Rohstoffexporteur bleibt. Damit vernachlässigten sie die Möglichkeit einer Diversifikation der Exporte (die aber tatsächlich stattfand): Der Export aller Entwicklungsländer weltweit bestand 1955 nur zu 9 % aus Industriegütern, heute sind es mehr als 70 %. So können sich die Länder zum einen vom Preisverfall der Rohstoffe abkoppeln. Zum anderen bieten die neuen Exportmöglichkeiten ein großes Wachstums- und Modernisierungspotential. Gerade in den 1960ern herrschte globale Prosperität und etwa ostasiatische Staaten wie Taiwan, Südkorea oder Singapur nutzten dies zu exportgetriebenem Wachstum. Mit der weiter vertieften Abkoppelung verschenkte LA viel dieses Potentials.

Mangelnde Marktgröße

Das Streben nach EoS setzt die Existenz von ausreichend großen Absatzmärkten voraus. Macht man sich bewusst, dass Brasilien ökonomisch kleiner ist als Bayern und Baden-Württemberg zusammen, werden die Schwierigkeiten deutlich, mit abgeschotteten Märkten ausreichend große Stückzahlen zu erreichen. Außerdem begünstigen kleine Märkte Monopol- und Oligopolstrukturen. Es besteht also ein trade-off zwischen Wettbewerb (Anzahl der Unternehmen) und Effizienz (Größe der Unternehmen). Drei Ansätze wurden verfolgt, um dieses Dilemma aufzulösen, aber alle drei sind an ihre Grenzen gestoßen. Durch regionale Integration (MCCA, ALCAL, Andenpakt) werden die Absatzmärkte vergrößert; durch steigende Einkommen geschieht das gleiche. Werden die Einkommen gerechter (d.h. gleicher) Verteilt, steigt besonders die Nachfrage nach einfachen Konsumgütern an. Da dies häufig die im Inland produzierten Waren sind, ergibt sich auch hieraus eine Nachfragesteigerung.

Diskriminierung der Exportindustrien

Durch die höheren Preise für Güter, die unter die Importsubstitution fallen, wird der Exportsektor durch steigende Löhne und Preise für Vorprodukte relativ benachteiligt. Sinkende Gewinnmargen im Ex-Sektor und steigende im IS-Sektor führen zu einer Faktorveschiebung hin zum IS-Sektor. Damit schrumpft der Ex-Sektor, der häufig der produktivste und dynamischste Bereich der Wirtschaft darstellte. So wird die Wirtschaft insgesamt geschwächt und wächst langsamer. Wird weniger ausgeführt, sinken natürlich auch die Deviseneinnahmen aus dem Export.

Viele Ostasiatische Länder verfolgen seit den 60er Jahren eine Exportorientierte Entwicklungsstrategie (Export-led-growth), gewissermaßen ein Gegenmodell zur ISI. Diese Strategie versucht, eine solche Diskriminierung zu vermeiden, indem sie IS- und Ex-Sektor gleich behandelt. Ein solches „neutrales Anreizsystem“ bedeutet nicht zwangsläufig Freihandel. „‚Neutral’ darf deshalb keineswegs mit ‚liberal’ gleichgesetzt werden, denn neutral im Sinne der exportorientierten Entwicklungsstrategie bedeutet lediglich, dass die Exporte relativ zu den Importen nicht diskriminiert werden“ (Preuße 1991: 61).

Die Maßnahmen zum Abbau der Devisenlücke waren gleichzeitig nur mäßig wirksam. Zwar sank der Importbedarf für Konsumgüter deutlich, doch steht dem ein immenser Anstieg der Importe von Investitionsgütern und Vor- und Zwischenprodukten gegenüber. Insgesamt konnte der Anstieg der Importe immerhin verlangsamt werden, aber auf Kosten schwächelnder Exporte. In der Folge blieben die Leistungsbilanzen chronisch negativ, die Auslandsverschuldung stieg von 1960 auf 1978 in Lateinamerika auf das zwölffache (Benecke: 201) und in den 70ern und 80ern kam es zu Zahlungsbilanz- und Schuldenkrisen.

Auswahl der Sektoren

Einher mit staatlichen Eingriffen in die Wirtschaft geht die Entscheidung, welche Branche gefördert werden soll und welche nicht. Zwei Kriterien kommen in Frage: Erstens müssen langfristig komparative Kostenvorteile erreichbar sein. Zweitens muss eine große Nachfrage vorhanden sein, damit Importe eingespart werden und die Unternehmen genügend große Inlandsmärkte bedienen können. Nach der klassischen Handelstheorie widersprechen sich beide Kriterien. Die Güter, bei denen komparative Nachteile bestehen, sind gleichzeitig diejenigen, die importiert werden. Andersherum: Güter, bei deren Produktion komparative Vorteile existieren, werden ohnehin schon im Land hergestellt (und exportiert). Die Auswahl der zu fördernden Branchen ist also durchaus nicht trivial. Es besteht ein Konflikt zwischen Nachfrageorientierter (Substitution von Importen, Markt-größe) und Angebotsorientierter Auswahl(komparative Kostenvorteile).

Dieser Konflikt wird noch verschlimmert, wenn nicht-ökonomische Überlegungen im Vordergrund stehen. Das Streben nach Autarkie oder nach prestigeträchtigen Industriebauten, die Unterstützung von schon etablierten Staatsunternehmen und vor allem eine Bevorzugung von Branchen aufgrund von Klientelismus oder Korruption verhindern nachhaltige Entwicklung.

Politische und Gesellschaftliche Probleme

Rent-Seeking und Korruption

Alle Entwicklungsökonomen betonten immer wieder, dass die „Erziehungszölle“ nur temporären Charakter haben dürfen. Der Schutz darf nur so groß sein, dass der Aufbau inländischer Unternehmen gerade gelingt und muss kontinuierlich abgebaut werden, damit die Firmen unter dem permanenten Druck effizienter werden. Alles andere produziert Renten, d.h. es werden Ressourcen aufgewendet (z. B. für Lobbying), die keinen Mehrwert schaffen sondern eine reine Umverteilung bereits bestehenden Vermögens bewirken. Dies ist ökonomisch nicht sinnvoll, d.h. ineffizient und verschwenderisch.

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die Zölle in LA oft viel zu hoch waren. Nicht nur Extrembeispiele wirken alarmierend (Brasilien erhob auf Seife einen Zollsatz von 8500 %, Argentinien auf Textilien 380%), sondern auch die „Durchschnittlichen effektiven Schutzraten“ für Industriegüter Ende der 1960er-Jahre in Chile (175 %,) in Brasilien (184 %) oder in Uruguay (384 %) machen klar, dass vom „Infant-Industry“-Konzept nicht viel übrig geblieben ist (Krueger 1983: 34).

Vielmehr hat sich in den Jahrzehnten der ISI ein korporatistisches Modell der Wirtschaftspolitik entwickelt, bei dem Interessengruppen politische Macht entwickeln, um den Erhalt der Rente zu sichern (Ranis 1987: 139). Die Wirtschaftsakteure halten Investitionen in politisches Lobbying lohnender als Investitionen im Wirtschaftssystem. Die illegale Variante besteht in der Einflussnahme durch Bestechungsgelder. Der Kampf um die Renten blockiert die Gesellschaft und die Wirtschaft ähnlich wie in Ölländern wie Venezuela.

Koalition von Nutznießern

Von der ISI haben einzelne gesellschaftliche Gruppen besonders profitiert, andere kaum oder gar nicht. Von Anfang an konzentrierte sich diese Entwicklungsstrategie sektoral auf die Industrie und regional auf die Städte. Hauptprofiteure waren Industrieunternehmer und die gewerkschaftlich organisierte urbane Arbeiterschaft: Die steigenden Gewinne erhöhten die Verteilungsspielräume für beide. Genauso glücklich konnten sich Manager und Angestellte der expandierenden Staatsunternehmen schätzen.

Davon ausgeschlossen waren zum einen die exportorientierten Agrarproduzenten, deren Produkte (relativ) immer billiger wurden, und mit ihnen der gesamte ländliche Bereich. Genauso wenig profitierte die große (und wachsende) Informelle Wirtschaft in den Städten. Wer keinen Arbeitsvertrag hat, profitiert auch nicht von Krankenversicherung, Lohnerhöhungen und Pensionsansprüchen. Beide Gruppen mussten aber die Kosten der ISI in Form von höheren Preisen mittragen.

Die „Entwicklungskoalition“ aus Unternehmern, Gewerkschaften, Staatsunternehmen und Bürokratie gewann großen politischen Einfluss und schaffte es so, die ISI immer weiter fortzuführen. Schon Mitte der 60er forderte die CEPAL eindringlich regionale Integration und Öffnung zum Weltmarkt. Stattdessen sorgten die politisch mächtigen Nutznießer für eine Fortführung oder sogar Vertiefung des Modells bis in die 70er Jahre. Eine Abkehr wurde erst durch gewaltsame Putsche (etwa in Chile) oder tiefe Schulden- und Wirtschaftskrisen erzwungen. Spätwirkungen des ISI-Konzeptes sind die verschiedenen Dependencia-Theorien der 80er Jahre.

Pfadabhängigkeit und Lock-Ins

Auch konzeptionell-theoretisch und politisch lässt sich eine gewisse Pfadabhängigkeit nicht übersehen. Gebrannt von der Weltwirtschaftskrise und beeindruckt vom jahrzehntelangen Erfolg der ISI konnten sich viele nicht von der Überzeugung einer Überlegenheit dieses Entwicklungsansatzes lösen. Die Dependencia-Theorien der 1980er-Jahre sind die stehen in dieser Tradition. Schienstock (2004) spricht von strukturellen, politischen und kognitiven „Lock-Ins“, die ein rechtzeitiges Umsteuern erschweren.

Fazit

Die kritische Sicht auf die ISI ist durchaus begründet, weil sie ihr Versprechen vom Senken der Abhängigkeit nicht einlösen konnte. Außerdem wurden ineffiziente Staatsunternehmen geschaffen und ein verkrustetes korporatistisches Staatsmodell begünstigt, das Rent-Seeking geradezu provoziert und auch gesellschaftliche Reformen erschwert. Ende der 60er Jahre mehren sich die Anzeichen für ein Nachlassen der Dynamik. Die Staatsdefizite Südamerikas steigen 1970 auf 8,5 % des BIP (Thorp 1998: 170), die Wachstumsraten kühlten ab, die Auslandsverschuldung wurde drückend. Es folgten mit den 80ern das Jahrzehnt der Stagnation und Schuldenkrisen, in deren Folge die meisten südamerikanischen Staaten sich vom Modell der ISI abwendeten.

Man darf aber nicht vergessen, dass diese Entwicklungsstrategie in Lateinamerika das erste Mal zum Entstehen konkurrenzfähiger Industrien beigetragen hat. Der ISI immanente Gründe haben dazu geführt, dass die Entwicklungsstrategie nicht rechtzeitig angepasst wurde und so die Entwicklung der Region bis heute belastet.

Siehe auch

Literatur

  • Alexander, Robert (1987): The Import Substitution Strategy of Economic Development, in: Dietz, James/Street, James: Latin America’s Economic Development. Institutionalist and Structuralist Perspectives, Boulder and London, Seite 118–127.
  • Bernecker, Walther/Tobler, Hans Werner (1996): Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und Außenbeziehungen Lateinamerikas im 20. Jahrhundert, in: Bernecker, Walther/Tobler, Hans Werner (Hrsg.): Handbuch der Geschichte Lateinamerikas, Band 3, Stuttgart, ISBN 3-608-91497-8.
  • Buisson, Inge/Mols, Manfred (1983): Entwicklungsstrategien in Lateinamerika in Vergangenheit und Gegenwart, Paderborn.
  • Hesse, Helmut (1968): Importsubstitution und Entwicklungspolitik, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswirtschaft, 124, S. 641–683.
  • Krueger, Anne (1983): Trade and Employment in Developing Countries, Band 3: Synthesis and Conclusions, Chicago und London,, insbesondere Kapitel 3.
  • Little, Ian/Scitovsky, Tibor/Scott, Maurice (1970): Industry and trade in some developing countries: a comparative study, Oxford University Press, London. ISBN 0-19-215329-3, 0-19-215335-8.
  • Michelena, Héctor Silva (1969): Beschäftigungsprobleme und sozio-ökonomische Struktur in einem Öl-Land, in Michelena, Héctor Silva/Córdoca, Armando: Die wirtschaftlichen Strukturen Lateinamerikas: Drei Studien zu politischen Ökonomie, Frankfurt am Main.
  • Pazos, Felipe (1987): Import Substitution Policies, Tariffs, and Competition, in: Dietz, James/Street, James: Latin America’s Economic Development. Institutionalist and Structuralist Perspectives, Boulder and London, Seite 147–155.
  • Pietschmann, Horst (1992): Entstehung und innere Auswirkungen der lateinamerikanischen Schuldenkrisen, in: Jahrbuch für Geschichte und Staat, Wirtschaft und Gesellschaft Lateinamerikas, Band 29, S. 421–444.
  • Preuße, Heinz (1991): Handelspessimismus alt und neu, J.C.B. Mohr, Tübingen, ISBN 3-16-145780-3.
  • Ranis, Gustav (1987): Challenges and Opportunities Posed by Asia’s Superexporters: Implications for Manufactured Exports from Latin America, in: Dietz, James/Street, James: Latin America’s Economic Development. Institutionalist and Structuralist Perspectives, Boulder and London, S. 128–146.
  • Schienstock, G. (2004): Finnland auf dem Weg zur Wissensökonomie – Von Pfadabhängigkeit zur Pfadentwicklung, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Institut für Technikfolgenabschätzung, [1].
  • Thorp, Rosemary: Progress, Poverty and Exclusion. An Economic History of Latin America in the 20th Century, Washington, 1998, ISBN 1886938350.

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