Jean-Charles-Léonard Simonde de Sismondi

Jean-Charles-Léonard Simonde de Sismondi
Jean-Charles-Léonard Simonde de Sismondi

Jean-Charles-Léonard Simonde de Sismondi (* 9. Mai 1773 in Genf; † 25. Juni 1842 in Chêne-Bougeries) war ein Schweizer Ökonom und Historiker. Er gilt als einer der ersten bedeutenden Kritiker der klassischen englischen Nationalökonomie.[1]

Inhaltsverzeichnis

Leben

Sismondi entstammte der aus der Dauphiné nach Genf eingewanderten Hugenotten-Familie Symond, die sich später in Simonde umbenannte. Sein Vater war Pastor und gehörte dem Genfer Rat der Zweihundert an. Seine Kindheit verbrachte er auf dem Landsitz der Familie im nahegelegenen Châtelaine. Er besuchte Schulen in Genf und durchlief 1792 in Lyon eine kaufmännische Lehre. Ansonsten war er ein Autodidakt, er verfügte über keinerlei universitäre Ausbildung. 1792 flüchtete die Familie nach England. Nach Rückkehr nach Genf wurden Vater und Sohn festgenommen und ihr Vermögen fast ganz beschlagnahmt. So kaufte die Familie in der Toscana das Gut Il podere di Valchiusa bei Pesci. Im Herbst 1800 kehrte Sismondi nach Genf zurück, wo er schließlich eine Phase verstärkten literarischen Schaffens aufnahm. Er nahm an einem Gesprächskreis von Schriftstellern und Gelehrten teil, der später als „Coppet-Gruppe“ bekannt wurde.

Der Ökonom

Nouveaux principes d’économie politique, 1819

Sismondi hat seinen Ruf als Wirtschaftswissenschaftler durch sein Werk Nouveaux principes… begründet, das 1819 erschienen ist, zwei Jahre nach dem Hauptwerk David Ricardos. Die wesentlichsten Gedanken desselben wurden schon 1815 für einen Artikel in Brewsters Edinburgh Encyclopaedia niedergeschrieben, der aber erst hernach veröffentlicht wurde. In den Études sur l’économie politique hat Sismondi seine Hauptthesen weiter ausgebaut. [2]

Historischer Auslöser für Sismondis kritische Wendung gegen zentrale Lehren der klassischen Nationalökonomie war die Erfahrung der Absatzkrisen der Jahre 1815 und 1818/19, die im Zusammenhang mit dem Beginn und dem Ende der Kontinentalsperre zu sehen sind.

Sismondis Angriff auf die Freihändler und die Ricardianer wurde von vielen aus politischen oder ethischen Gründen befürwortet, weil er nicht wie Adam Smith den Wohlstand oder David Ricardo die Entwicklung der Produktivkräfte, sondern den Menschen in den Mittelpunkt stellte. Sismondi hingegen sagte, dass ihn nicht nur seine Feinde, sondern auch seine Freunde schamrot werden ließen; mitnichten wolle er sich durch seine Kritik an den offenkundigen Widersprüchen der Produktions- und Verteilungsverhältnissen sich dem technischen Fortschritt entgegenstellen. Karl Marx stellt sich hier auf die Seite Ricardos, denn Produktion der Produktion halber besage hier nichts anderes als die Entwicklung der menschlichen Produktivkräfte, also „Entwicklung des Reichtums der menschlichen Natur als Selbstzweck“. Sismondi habe, so Marx, nur denjenigen gegenüber recht, die den Widerspruch zwischen der Entwicklung der Gattung und der Entwicklung des Einzelnen vertuschen wollten.[3]

Die Kontroverse

In einem wie seinerzeit üblich anonym veröffentlichten Artikel im Edinburgh Review war John Ramsay McCulloch gegen Robert Owen zu Felde gezogen. Dessen Reformpläne würden nicht die bei den wirklichen Ursachen des Elends des Proletariats ansetzen; diese seien gemäß Ricardos Grundrententheorie der Übergang zur Bebauung unfruchtbarer Landstriche, die Kornzölle sowie die zu für Pächter und Fabrikanten zu hohen Steuern. Denn Owen habe eine irrige Theorie von Sismondi angenommen, wonach ein unregulierter Wettbewerb die Industrie dazu treibe, durch Einsatz von Maschinen mehr zu produzieren, als Nachfrage dafür da sei.[4]

Auf diesen Angriff reagierte Sismondi 1820 in Pellegrino Rossis Annales de Jurisprudence mit der: „Untersuchung der Frage: Wächst in der Gesellschaft zugleich mit der Fähigkeit zu produzieren auch die Fähigkeit zu verbrauchen?“[5] An dem Beispiel der Leipziger Buchmesse weist er gegen McCullochs These, das Angebot einer Art von Gut bestimme die Nachfrage nach einem anderen, dass es mitnichten der Fall seit, dass ein Buch gegen ein anderes Buch getauscht werde, hingegen es sehr wohl der Fall sein könnte, dass nach der Messe Bücher unverkauft zurückblieben.

Im Kern ging es hier nach Rosa Luxemburg um die Frage: „Wo findet man Abnehmer für den Überschuß an Waren, wenn ein Teil des Mehrwerts, statt von den Kapitalisten privat konsumiert zu werden, kapitalisiert, d. h. zur Erweiterung der Produktion über das Einkommen der Gesellschaft hinaus verwendet wird?“[6] Sismondi hat das richtige Gespür für das Problem, kann sich aber nicht mit einer stringenten Argumentation durchsetzen, weil er ebenso wie sein Gegner und schon Adam Smith zuvor den Ersatz des verschlissenen konstanten Kapitals bei der "einfachen Reproduktion" nicht berücksichtigt.

Im Buch IV seiner Nouveaux principes, im Kapitel VII: Von der Teilung der Arbeit und von den Maschinen sowie im Buch VII, Kapitel VII: Maschinen schaffen eine überflüssige Bevölkerung hatte Sismondi die ricardianische „Kompensationstheorie“ frontal angegriffen, dass Maschinen immer mindestens genauso viel Beschäftigung schafften als sie ersetzten. In der 3. Auflage seiner Principles fügte nun Ricardo ein neues Kapitel an, worin er die Kompensationstheorie fallen ließ. Im seinem letzten Lebensjahr noch traf sich Ricardo mit Sismondi in Genf, um diese Frage zu diskutieren, wobei sie die Möglichkeit des Außenhandels außenvor ließen: Schafft die Produktion aus sich selbst heraus, d. h. durch ihre eigene Vermehrung, eine entsprechend große Nachfrage? - In der Folgezeit führte Sismondi über dieselbe Frage auch noch eine direkte Kontroverse mit Jean-Baptiste Say.[7]

Innerhalb der marxistischen Wirtschaftstheorie verlängerte sich die Kontroverse auf der Grundlage der Reproduktionsschemata des zweiten Bandes des Kapital. Als W. I. Lenin[8] gegen die Argumente der Narodniki nachzuweisen suchte, dass in Russland eine Entwicklung zum Kapitalismus ökonomisch gangbar sei, richtete sich seine Polemik gegen Sismondis Argumentation, die die Widersprüche in der Kapitalakkumulation hervorgehoben hatte. Demgegenüber trachteten Marxisten, die eine universelle Zusammenbruchstendenz des Kapitalismus nachzuweisen suchten, die Marxschen Reproduktionsschemata mit ökonomischen Widersprüchen und Krisentendenzen (im Sinne von Sismondi) zu vereinbaren.[9] Kritisch wird Sismondi zusammen mit Robert Malthus als klassischer Vertreter der Unterkonsumtionstheorie gesehen.[10]

Einordnung und Beurteilung

Sismondi gilt in der Geschichte der Wirtschaftswissenschaften wie später die sog. Kathedersozialisten als ein Vertreter von Interventionismus und einer stärker historisch-realistischen, freihandelskritischen Betrachtungsweise. Denn er übte scharfe Kritik an der Lehre des Laissez faire und trat stattdessen für eine Arbeiterschutzgesetzgebung ein sowie für eine führende Rolle des Staates in der Wirtschaft.

Als direkter Schüler wird Eugène Buret genannt.[11] In den Grundrissen taucht des Öfteren Antoine-Elisé Cherbuliez[12] auf, der dort als "Sismondist" bezeichnet wird.[13] Marx zögert, Cherbuliez gesondert abzuhandeln, da das das meiste von dessen Buch "sismondisch" sei.[14], bzw. ein "sonderbares Kompositum von Sismondischen und Ricardoschen Antagonismen" darstelle.[15].

Von den Zeitgenossen wurden Adolphe Jérôme Blanqui und Joseph Droz beeinflusst, später dann in gewisser Hinsicht auch Louis Blanc, Johann Karl Rodbertus oder Karl Marx. Marx selbst sagt über Sismondi, dass dieser[16] sich dadurch auszeichne, dass er die soziale Formbestimmtheit des Kapitals als das Wesentliche betone und darin den wesentlichen Unterschied der kapitalistischen Produktionsweise von andren sehe.[17]

Was theoretische Erkenntnisse angeht, so sind vor allem Sismondis Argumentation gegen Says Gesetz beachtlich sowie seine "Unterkonsumtionstheorie" zur Erklärung von Wirtschaftskrisen. Die bedeutendste Errungenschaft sieht Joseph Schumpeter allerdings darin, dass er explizit ein dynamisches Modell zur Analyse formulierte, welches mit einem Periodenschema arbeitet.[18] Sismondi wies gegenüber den klassischen Nationalökonomen, die fast durchweg vom Sayschen Gesetz ausgingen, nachdrücklich auf die Möglichkeit einer technologisch bedingten Arbeitslosigkeit hin, die durch die Maschinisierung der Produktionsprozesse hervorgerufen wird.

Der Historiker

Als Sismondis größte Leistung nennt Schumpeter dessen 16-bändige Geschichte der italienischen Republiken des Mittelalters. Auch seine Geschichte des Untergangs des römischen Imperiums enthielte interessante soziologische Ausblicke und Analysen. [2]

Mit De la littérature du midi de l'Europe veröffentlichte Sismondi 1813 die erste Literaturgeschichte, die die Gesamtheit der romanischen Literaturen (also der altfranzösischen, provenzalischen, italienischen, spanischen und portugiesischen) vom Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert darzustellen suchte. Im Anschluss an deutsche Romantiker wie August Wilhelm Schlegel begriff er diese als Ausdruck einer eigentümlich romanischen Geisteshaltung und als eine von Grund auf romantische Literatur, in der die mittelalterliche Geisteswelt der „Liebe, Ritterlichkeit und Religion“ bis heute fortwirke. Allein die französische Literatur habe nach dem Mittelalter mit dieser Tradition gebrochen, indem sie sich griechischen und römischen Vorbildern zuwandte; sie bleibe daher „in Hinblick auf Empfindsamkeit, Begeisterung, Wärme, Tiefe und Wahrheit der Gefühle“ hinter ihren romanischen Schwesterliteraturen weit zurück und wird in seinem Werk somit auch ausgeklammert. Die vier Bände von De la littérature du midi de l'Europe markieren zusammen mit den späteren Werken von Claude Fauriel die Hinwendung der französischen Literaturgeschichtsschreibung zu einem romantischen Paradigma, das gegenüber dem bislang vorherrschenden klassizistischen Stilideal die Urwüchsigkeit der Volksdichtung und der mittelalterlichen Literaturen als unmittelbaren, charakteristischen Ausdruck des jeweiligen „Volksgeistes“ wertete. Sismondi plante weitere Bände zur Darstellung auch der germanischen und slawischen Literaturen, gab dieses Vorhaben jedoch wegen mangelnder Sprachkenntnisse auf.[19]

Werke (Auswahl)

  • Tableau de l'agriculture toscane (1801)
  • De la richesse commerciale (1803)
  • Histoire des républiques italiennes du Moyen Âge (1807-1818) online
  • De la littérature du midi de l'Europe (1813)
  • De l'intérêt de la France à l'égard de la traite des nègres (1814)
  • Examen de la Constitution française (1815)
  • Économie politique (1815)
  • Nouveaux principes d'économie politique, ou de la richesse dans ses rapports avec la population (1819)
  • Histoire des Français (1821-1844)
  • Les colonies des anciens comparées à celles des modernes (1837)
  • Études de sciences sociales (1837)
  • Études sur l'économie politique (1837)
  • Précis de l'histoire des Français (1839)
  • Fragments de son journal et correspondance (1857)

Literatur

  • Albert Aftalion: L'Œuvre économique de Simonde de Sismondi. Pedone, Paris 1899.
  • Charles Rist: Sismondi et les Origines de l'École critique. In: Charles Gide, Charles Rist: Histoire des doctrines économiques. Larose, Paris 1909, S. 197-229.
  • Alfred Amonn: Simonde de Sismondi als Nationalökonom. Darstellung seiner Lehren mit einer Einführung und Erläuterungen. A. Franke, Bern 1945.
  • William E. Rappard: Économistes genevois du XIXe siècle : Necker, Bellot, Sismondi, Cherbuliez, Pellegrino Rossi. Librairie Droz, 1966, ISBN 2-600-04027-7.
  • Albert Portmann-Tinguely: Jean-Charles-Léonard Simonde de Sismondi. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL). Band 10, Herzberg 1995, ISBN 3-88309-062-X, Sp. 539–572.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Emil Spiess: Illustrierte Geschichte der Schweiz, Bd. 3. Zürich 1961, S. 87.
  2. a b Joseph A. Schumpeter, (Elizabeth B. Schumpeter, Hrsg.): Geschichte der ökonomischen Analyse. Erster Teilband. Vandenhoeck Ruprecht Göttingen 1965. S. 607.
  3. Karl Marx: Theorien über den Mehrwert. Bd. 26, Zweiter Teil (MEW 26.2), S. 111.
  4. Rosa Luxemburg: Die Akkumulation des Kapitals. In: Die Freiheit ist immer nur Freiheit des Andersdenkenden. Voltmedia, Paderborn, ISBN 3-938478-73-X, S. 262f., Anm. *
  5. Der Aufsatz Examen de cette question : Le pouvoir de consommer s’accroît-il toujours dans la société avec le pouvoir de produire ? ist vollständig in der 2. Auflage der Nouveaux principes mitabgedruckt.
  6. Rosa Luxemburg: Die Akkumulation des Kapitals. In: Die Freiheit ist immer nur Freiheit des Andersdenkenden. Voltmedia, Paderborn, ISBN 3-938478-73-X, S. 267.
  7. dazu siehe auch: Georges Sotiroff: Ricardo und Sismondi, eine aktuelle Auseinandersetzung über Nachkriegswirtschaft vor 120 Jahren. Europa Verlag, 1945.
  8. W. I. Lenin: A characterization of economic romanticism. Sismondi and our native Sismondists. Foreign Languages Pub. House, Moskau 1951. (online)
  9. Lenins Realisierungstheorie. In: Roman Rosdolsky: Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen Kapital. Band III, Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main/Wien 1968, S. 556 ff.
  10. Alfred Müller: Die Marxsche Konjunkturtheorie - Eine überakkumulationstheorietische Interpretation. PapyRossa Köln, 2009 (Dissertation 1983) S. 9.
  11. Raymund de Waha: Die Nationalökonomie in Frankreich. Ferdinand Enke, Stuttgart 1910, S. 355f.
  12. Antoine-Elisé Cherbuliez (1797-1869): Richesse ou pauvreté. Exposition des causes et des effets de la distribution actuelle des richesses sociales. Paris 1841.
  13. 'Marx-Engels-Werkausgabe (MEW) Bd. 42, Dietz, Berlin 1983. Namenregister, S. 1078.
  14. [Karl Marx: Theorien über den Mehrwert, Bd. 3. S. 373.]
  15. [Karl Marx: Theorien über den Mehrwert, Bd. 3. S. 373.
  16. neben Richard Jones (1790-1855): Text-book of Lectures on the Political Economy of Nations, Hertford 1852.
  17. [Karl Marx: Theorien über den Mehrwert, Bd. 3. S. 416.
  18. Joseph A. Schumpeter, (Elizabeth B. Schumpeter, Hrsg.): Geschichte der ökonomischen Analyse. Erster Teilband, Vandenhoeck Ruprecht, Göttingen 1965, S. 608.
  19. René Wellek: Geschichte der Literaturkritik. Bd. 2, De Gruyter, Berlin/New York 1977–1990. S. 3–5.

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