Jedem das Seine

Jedem das Seine
Stern des Schwarzen Adlerordens
Tor des KZ Buchenwald. Der inhaftierte Bauhauskünstler Franz Ehrlich gestaltete die Inschrift im von den Nazis verpönten Bauhausstil.

Jedem das Seine, lateinisch suum cuique, ist seit antiken philosophischen Theorien der Moral und Politik ein für die Fassung von Begriffen des Rechts und der Gerechtigkeit, insb. der Verteilungsgerechtigkeit, vielfach ins Spiel gebrachtes Prinzip, das abstrakt besagt, dass jedem Bürger eines Gemeinwesens das zugeteilt wird (bzw. werden soll), was ihm gebührt, durch gerechte Güterverteilung etwa. Je nach praktischer bzw. politischer Theorie werden unterschiedliche Präzisierungen vorgeschlagen und wird der Status eines solchen Prinzips unterschiedlich bewertet.

Inhaltsverzeichnis

Geschichte

Antike

Suum cuique geht als Grundsatz auf das antike Griechenland zurück. In der Politeia stellte Platon fest, dass Gerechtigkeit besteht, „wenn man das Seine tut und nicht vielerlei Dinge treibt“ (τὸ τὰ αὑτοῦ πράττειν καὶ μὴ πολυπραγμονεῖν δικαιοσύνη ἐστί, to ta autou prattein kai me polypragmonein dikaiosyne esti, IV 433a). Jeder soll das Seine tun, und zwar in Art und Umfang so, wie es seinem Wesen, seinen Möglichkeiten und den individuellen Umständen entspricht. Ergänzend erklärte Platon, dass auch jeder das Seine bekommen soll und dass niemandem das Seine genommen werden soll (433e).

In dem politischen und juristischen Sinne „Jedem das Seine zuteilen“ wird die Formel unter anderem bei Cicero, De legibus 1, 6 19, verwendet, der dort an die Ableitung des griechischen Substantivs νόμος (nómos, Gesetz) von dem Wort νέμω (némo, zuteilen) erinnert: „Eamque rem (gemeint: legem) illi Graeco putant nomine a suum cuique tribuendo appellatam“ - „Und diese Sache (das Gesetz) sei, wie jene glauben, mit ihrer griechischen Bezeichnung nach dem ‚jedem das Seine zuteilen‘ benannt“.

Auch in Cicero, De officiis I,15, findet sich der Ausdruck: in hominum societate tuenda tribuendoque suum cuique et rerum contractarum fide: ... die Gesellschaft der Menschen aufrechtzuerhalten und jedem das Seine zukommen zu lassen, sowie in der Verlässlichkeit vertraglicher Abmachungen.

In den Institutionen des Kaisers Justinian heißt es ganz zu Beginn, im ersten Teil des Corpus Iuris Civilis: iuris praecepta sunt haec: honeste vivere, alterum non laedere, suum cuique tribuere. - Die Gebote des Rechts sind diese: Ehrenhaft leben, niemanden verletzen, jedem das Seine gewähren (Inst. 1, 1, 3). Bei Ulpian im Corpus Iuris Civilis, Digesten 1, 1, 10, heißt es: Iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi. - Die Gerechtigkeit ist der beständige und dauerhafte Wille, jedem sein Recht zukommen zu lassen. Dieser Satz wurde dann vom Verfasser der Institutionen, Tribonian als Definition an den Anfang des Gesamtwerkes gestellt (Inst. 1, 1, 1).

Auch Hugo Grotius verwandte den Begriff in seiner Eigentumstheorie.

Klassik

Johann Sebastian Bachs Kantate Nr. 163 aus dem Jahr 1715 trägt den Titel Nur jedem das Seine, der Text stammt von Salomon Franck und thematisiert (nach Mt 22,21 EU) den Zwiespalt in den Loyalitäten des Menschen und gegenüber Gott.[1] Eine Gedicht von Eduard Mörike aus dem Jahr 1862 trägt den Titel Jedem das Seine,[2] es wurde 1939 von Hugo Distler als Chormusikstück vertont.[3]

Preußen

In der lateinischen Version ist die Redewendung die Ordensdevise des von Friedrich I. gestifteten Schwarzen Adlerordens (wohl in der Bedeutung „Jedem nach seinem Verdienst“) und davon abgeleitet auch das Motto der Feldjägertruppe der deutschen Bundeswehr.

Drittes Reich

1937 bauten die deutschen Nationalsozialisten das Konzentrationslager Buchenwald in der Nähe von Weimar. Der Spruch „Jedem das Seine“ (in der Bedeutung von „Jedem, was er verdient“) prangte von innen lesbar über dem Haupttor. Er wurde damit als Propagandaspruch missbraucht, ähnlich wie „Arbeit macht frei“ über dem Eingang anderer Konzentrationslager (wie Auschwitz, Dachau, Groß-Rosen, Sachsenhausen oder Theresienstadt).

Verwendung des Begriffes heute

Über viele Jahrzehnte blieb das Motto „Jedem das Seine“ weitgehend unbeachtet und fand in seiner klassischen Bedeutung weite Verbreitung in Medien und Literatur. Der Film To each his own kam in Deutschland 1946 zwar unter dem Titel Mutterherz heraus, wurde in der Presse jedoch auch als Jedem das Seine bekannt. Ein Lyrikband von Karl Schnog wurde 1949 unter diesem Titel veröffentlicht. Ebenso die deutsche Ausgabe von Louis Bromfields Unterhaltungsroman "McLeod's Folly (You Get What You Give)". In 1970er Jahren wurde an bundesdeutschen Bühnen die Komödie "Jedem das Seine" gespielt, eine Adaption des Stücks "Fringe Benefits" von Peter Yeldham und Donald Churchill. Die lateinische Form blieb bis heute Bestandteil der an den Decken von Gerichtsgebäuden angebrachten Gerechtigkeitsformel in beiden deutschen Staaten.

In den 1990er Jahren setzte ein kritischer Umgang ein, der unter anderem in der Auseinandersetzung um Trutz Hardos 1996 erschienenen Roman "Jedem das Seine" seinen Ursprung hatte. Hardo rechtfertigt in dem Roman den Holocaust, indem er ihn als Vollstreckung des „Karmagesetzes“ interpretiert, jedem Insassen von Buchenwald sei „in konzentrierter Weise das ihm aus karmischer Gesetzmäßigkeit zustehende Schicksal zugewiesen, um seine Verschuldung abzuarbeiten und dadurch frei zu werden.“ Das Amtsgericht Neuwied verurteilte Hardo am 4. Mai 1998 wegen „Volksverhetzung in Tateinheit mit Beleidigung und der Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener“ zu einer Geldstrafe und untersagte die Weiterverbreitung des Buches. Damit wurde auch offiziell klargestellt, dass die Legitimierung der Buchenwalder Bedeutung von „Jedem das Seine“ in der Bundesrepublik gegen geltendes Recht verstößt.[4]

Die Debatte verschärfte sich Ende der 1990er, als die Verwendung des Mottos als Slogan in vereinzelten Werbe- und politischen Kampagnen zu Protesten führte, worauf einige dieser Werbekampagnen zurückgezogen wurden.[5][6][7][8] Den Fall einer eingestellten Werbekampagne von Nokia nahm Henryk M. Broder 1999 in dem Buch „Jedem das Seine“ zum Anlass, Absurditäten im Umgang der Deutschen mit den Juden zu beschreiben.[4] Im März 2007 wurde am Stadttheater Klagenfurt eine von den Autoren Peter Turrini und Silke Hassler sogenannte „Volksoperette“ mit dem Titel Jedem das Seine uraufgeführt; in dem Stück, das 2009/2010 mit dem Titel Vielleicht in einem anderen Leben verfilmt wurde, geht es um einen Todesmarsch ungarischer Juden in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs.[9][10][11]

Der Forderung, durch den Verzicht auf einen gedankenlosen Gebrauch ein würdiges Andenken an die Opfer des Nationalsozialismus zu wahren und den Überlebenden Respekt zu erweisen, steht die Ansicht gegenüber, dass „Jedem das Seine“ meist in einem achtbaren Sinne gebraucht worden sei, im Gegensatz beispielsweise zu „Arbeit macht frei“.

Einzelnachweise

  1. Julian Mincham: Chapter 25 BWV 163 Nur jedem das Seine. The Cantatas of Johan Sebastian Bach. A student and listeners guide.
  2. Eduard Mörike: Jedem das Seine in Gedichte von Eduard Mörike (4. Auflage), J. G. Cotta, Stuttgart 1867
  3. Hermann Grabner: Hugo Distler. Komponisten in Bayern, Vol. 20, Schneider 1990, S. 92
  4. a b Frank Brunssen: "Jedem das Seine" - zur Aufarbeitung des lexikalischen NS-Erbes. Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 8/2010), Bundeszentrale für politische Bildung
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Weblinks


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