- Jochen Bleicken
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Jochen Bleicken (* 3. September 1926 in Westerland, Sylt; † 24. Februar 2005 in Hamburg) war ein deutscher Althistoriker.
Inhaltsverzeichnis
Leben
Der Sohn des Kaufmanns Max Bleicken war von 1943 bis 1945 Flakhelfer und studierte nach dem 1947 an der Friedrich-Paulsen-Oberrealschule in Niebüll/Südtondern (heute Nordfriesland) abgelegten Abitur von 1948 bis 1954 Geschichte und Klassische Philologie zunächst an der Christian-Albrechts-Universität Kiel, dann während des Wintersemesters 1952/53 an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main, wo damals noch Matthias Gelzer, einer der besten Kenner der Geschichte der römischen Republik, lehrte. Von dort nach Kiel zurückgekehrt, wurde Bleicken 1954 von Alfred Heuß mit einer Arbeit über das römische Volkstribunat promoviert, die in erweiterter Fassung 1955 erschien. Von 1955 bis 1962 war er wissenschaftlicher Assistent von Heuß, der inzwischen einem Ruf an das althistorischen Seminar der Georg-August-Universität Göttingen gefolgt war. 1956/57 erhielt Bleicken das Reisestipendium der Kommission für Alte Geschichte und Epigraphik. 1961 erfolgte mit der Arbeit Senatsgericht und Kaisergericht die Habilitation. Bereits im folgenden Jahr nahm er den Ruf auf eine ordentliche Professur für Alte Geschichte an der Universität Hamburg an, weitere Stationen waren Frankfurt/Main (1967) und, als Nachfolger seines Lehrers Heuß, Göttingen (1977–1991). Dort wurde Bleicken 1991 emeritiert, hielt jedoch bis zum Wintersemester 1998/99 noch Lehrveranstaltungen ab.
Seit 1969 war Bleicken ordentliches Mitglied des Deutschen Archäologischen Instituts, seit 1971 ordentliches Mitglied der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann-Goethe-Universität Frankfurt am Main[1] (nach 1977 korrespondierendes Mitglied), seit 1978 Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen.
Leistung
Einen Schwerpunkt von Bleickens Tätigkeit bildete die Geschichte der römischen Republik und der Kaiserzeit, wozu er zahlreiche, teilweise wiederholt aufgelegte Standardwerke schuf, darunter zuletzt eine umfangreiche und vielbeachtete Augustus-Biografie. Die innovatorische Bedeutung dieser Arbeiten lag in der Erweiterung der in der Tradition Theodor Mommsens einseitig rechts- und verfassungsgeschichtlichen Betrachtungsweise durch konsequente Einbeziehung der sozialgeschichtlichen Perspektive, wie es Bleicken schon in seiner Verfassung der römischen Republik praktiziert hatte und dann im Titel seiner wiederholt aufgelegten Verfassungs- und Sozialgeschichte des römischen Kaiserreiches auch entsprechend verdeutlichte, die auch als erstes Werk seiner Art der Ausbreitung des Christentums Rechnung trug. So gelangte Bleicken zu einem vertieften Verständnis der Funktionsweise politischer Systeme und ihrer rechtlichen Institutionen und konnte auch deren Entwicklung im Zuge sozialer Veränderungen besser gerecht werden. Im Bereich der griechischen Geschichte beschäftigte er sich vor allem mit der athenischen Demokratie, auf deren Analyse er die in der Auseinandersetzung mit der römischen Verfassungs- und Sozialgeschichte gewonnenen Erfahrungen fruchtbar anzuwenden vermochte.
Überhöhendes Pathos und identifikatorische Idealisierungen aller Art waren ihm ebenso fremd wie ein von ideologischen oder methodologischen Prämissen und Theoriedebatten diktiertes quellenfernes Arbeiten. Dass aber auch ein quellengestütztes Arbeiten nur auf dem Fundament einer sorgfältigen Quellenkritik zu brauchbaren Ergebnissen führen könne, war ihm eine von seinem Lehrer Heuß vermittelte Selbstverständlichkeit und in seiner eigenen Forschung immer wieder bestätigte Erfahrung. Zusätzlich zu den traditionellen quellenkritischen Verfahren – der äußeren Kritik, der immanenten Kritik, der Textkritik, dem Quellenvergleich und der Klärung der Abhängigkeitsverhältnisse – betonte er besonders die oft nicht genügend beachtete Notwendigkeit der Analyse der Überlieferungsverhältnisse in der dargestellten Epoche und der darstellungsleitenden Interessen der Entstehungszeit der Quellen, die vor allem für die Frühzeit oftmals erst in großem zeitlichen Abstand entstanden sind und deshalb mehr über die Verhältnisse ihrer Entstehungszeit als über die berichteten Ereignisse und Sachverhalte einer fernen Vergangenheit kundgeben.[2]
Bleicken verstand sich wie sein akademischer Lehrer Alfred Heuß nicht als Altertumswissenschaftler und auch nicht zuförderst als fachwissenschaftlicher Spezialist, sondern dezidiert als Historiker, der sich mit einem wesentlichen Teil seiner Schriften und mit seinen Vorlesungen nicht in erster Linie an den wissenschaftlichen Nachwuchs der eigenen Disziplin und an die Fachkollegen, sondern an die breite Öffentlichkeit und an Allgemeinhistoriker, Hörer aller Fakultäten und Lehramtsstudenten wandte, denen er ein wissenschaftlich fundiertes historisches Orientierungswissen bereit zu stellen bestrebt war. Dass in die Arbeiten eines Historikers unweigerlich auch seine Lebensgeschichte, seine spezifischen Erfahrungen und seine Persönlichkeit, mit der er für seine Darstellung einzustehen habe, einfließen und seine Wertungen beeinflussen, hat Bleicken vor allem in seinen Nachrufen (etwa dem auf Hermann Strasburger), hervorgehoben und anerkannt.[3] Dass der Geschichtswissenschaft insofern notwendigerweise ein subjektives Element innewohne, war Bleickens feste Überzeugung, und wenn er Hermann Strasburger attestierte, die „Attitüde des über allen Wassern schwebenden objektiven Geistes“ sei ihm „fremd“ gewesen, so galt das nicht minder für ihn selbst.[4]
Vor allem in seinen späteren Jahren wandte Bleicken sich, zunächst in ausführlichen Nachrufen auf bedeutende Fachvertreter wie Matthias Gelzer, Hermann Strasburger und Alfred Heuß, dann aber auch in übergreifenden Darstellungen, verstärkt der Wissenschaftsgeschichte zu.[5] Auch hier ging es ihm vor allem darum, eine Standortbestimmung durch die Reflexion auf die Geschichte, hier des eigenen Faches und der Entwicklung seiner erkenntnisleitenden Interessen, Fragestellungen und Methoden, vorzunehmen und damit auch über den Sinn des eigenen Tuns Rechenschaft abzulegen. Hinzu kam aber auch das Bestreben, die Persönlichkeit und Lebensleistung bedeutender Gelehrter als Vorbilder dem Gedächtnis zu überliefern und damit einen Ansporn zur Fortführung einer wissenschaftlichen Tradition zu geben, deren Gefährdung ihm ähnlich wie seinem Lehrer Alfred Heuß deutlich vor Augen stand, wenngleich er nicht mit solchem Pessimismus in die Zukunft blickte wie dieser.
Bleicken empfand sehr bewusst die Distanz zu den noch „geheimrätlich“ auftretenden, von einem übersteigerten Autoritätsanspruch bestimmten Fachvertretern der älteren Generation und kritisierte deren Weigerung, sich mit ihrer Rolle während der NS-Zeit auseinander zu setzen, und ihre Tendenz zur Verharmlosung der tiefgreifenden Einschnitte in Universität und Wissenschaft, die das NS-Regime nicht zuletzt durch Entwürdigung, Vertreibung und Ermordung zahlreicher Wissenschaftler mit sich gebracht hatte.[6]
Schüler von Bleicken sind u. a. Ernst Baltrusch, Dagmar Gutberlet, Theodora Hantos, Loretana de Libero, Jens Nitschke, Jörg Spielvogel, Dankward Vollmer und Uwe Walter.
Schriften
- Das Volkstribunat der klassischen Republik: Studien zu seiner Entwicklung zwischen 287 und 133 v. Chr. Beck, München 1955. 2. Auflage 1968 (Zetemata, 13).
- Staatliche Ordnung und Freiheit in der römischen Republik. Verlag Michael Lassleben, Kallmünz 1972, ISBN 3-7847-7106-8 (Frankfurter Althistorische Studien, 6).
- Senatsgericht und Kaisergericht: eine Studie zur Entwicklung des Prozeßrechtes im frühen Prinzipat. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1962.
- Lex publica: Gesetz und Recht in der römischen Republik. de Gruyter, Berlin 1975, ISBN 3-11-004584-2.
- Die Verfassung der römischen Republik. Paderborn, Schöningh 1975. 8. Auflage 2000, ISBN 3-8252-0460-X, ISBN 3-506-99405-0 (UTB für Wissenschaft: Uni-Taschenbücher, 460).
- Verfassungs- und Sozialgeschichte der römischen Kaiserzeit. 2 Bände. Paderborn, Schöningh 1978 und öfter.
- Prinzipat und Dominat, Gedanken zur Periodisierung der römischen Kaiserzeit. Franz Steiner Verlag GmbH, Wiesbaden 1978 (Frankfurter Historische Vorträge, 6).
- Geschichte der Römischen Republik. Oldenbourg, München 1980. 6. Auflage 2004,ISBN 3-486-49666-2 (Oldenbourg Grundriss der Geschichte, 2).
- Die athenische Demokratie. Schöningh, Paderborn 1986. 4., völlig überarbeitete und wesentlich erweiterte Auflage 1995, ISBN 3-8252-1330-7.
- Augustus. Eine Biographie. Fest, Berlin 1998. Sonderausgabe 2000, ISBN 3-8286-0136-7.
- Gesammelte Schriften. 2 Bände, hrsg. von Frank Goldmann. Steiner, Stuttgart 1998, ISBN 3-515-07241-1.
Herausgeberschaften
- Oldenbourgs Grundriss der Geschichte
- Frankfurter Althistorische Studien (seit 1968)
- Hermes (seit 1977)
Literatur
- Dirk Schlinkert: Mit Heyne über der Schulter. Zum 70. Geburtstag von Jochen Bleicken. In: Spektrum. Informationen aus Forschung und Lehre 1996, Heft 4, S. 36 (PDF).
- Markus Merl, Uwe Walter (Bearb.): Jochen Bleicken, Schriftenverzeichnis: aus Anlaß seines 70. Geburtstages. Schöningh, Paderborn 1996. ISBN 3-506-75516-1 (online).
- Hartmut Leppin: Nekrolog Jochen Bleicken (1926–2005). In: Historische Zeitschrift 281 (2005), S. 826–833.
- Justus Cobet: Der Gelehrte als Lehrer in der Zeit der Anfechtung. Ansprache auf der Gedenkfeier für Jochen Bleicken am 29. Oktober 2005 in Göttingen. In: Göttinger Forum für Altertumswissenschaft 8 (2005), S. 59–72 (PDF).
Weblinks
- Literatur von und über Jochen Bleicken im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Nachruf in Die Welt von Berthold Seewald
Einzelnachweise
- ↑ Webpage der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann-Goethe-Universität Frankfurt am Main.
- ↑ Vgl. Jochen Bleicken: Geschichte der Römischen Republik (siehe unten Werke), S. 105-114 sowie seine Schülerin Dagmar Gutberlet: Die erste Dekade des Livius als Quelle zur gracchischen und sullanischen Zeit. Olms-Weidmann, Hildesheim u.a. 1985.
- ↑ Vgl. Jochen Bleicken: Nachruf auf Hermann Strasburger. In: Gesammelte Schriften (siehe unten Werke), Bd. 2, S. 1084-1091, hier S. 1087ff.
- ↑ Jochen Bleicken: Nachruf auf Hermann Strasburger. In: Gesammelte Schriften, Bd. 2, S. 1084-1091, hier S. 1090.
- ↑ Vgl. Gesammelte Schriften, Bd. 2, S. 1002-1162.
- ↑ Vgl. Jochen Bleicken: Gedanken zum Fach Alte Geschichte und ihren Vertretern. In: Gesammelte Schriften (s. unten Werke), Bd. 2, S. 1149-1162; Justus Cobet: Der Gelehrte als Lehrer (s. unten Literatur).
Erster Lehrstuhl: Erich Ziebarth (1919–1936) | Hans Rudolph (1936–1976) | Jürgen Deininger (1976–2002) | Christoph Schäfer (2003–2008) | Werner Riess (seit 2011)
Zweiter Lehrstuhl: Jochen Bleicken (1962–1967) | Peter Herrmann (1967–1991) | Helmut Halfmann (seit 1991)
Dritter Lehrstuhl: Dietrich Hoffmann (1978–1994)
Vierter Lehrstuhl: Joachim Molthagen (1982–2005)
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