Jörg Bernig

Jörg Bernig

Jörg Bernig (* 17. Januar 1964 in Wurzen) ist ein deutscher Erzähler und Lyriker.

Inhaltsverzeichnis

Biographie

Bernig absolvierte nach einer Berufsausbildung als Bergmann mit Abitur zunächst seinen Wehrdienst. Von 1985-1990 studierte Bernig Germanistik und Anglistik an der Universität Leipzig. Danach ging er als Assistenzlehrer an ein katholisches und protestantisches Gymnasium nach Dunfermline in Schottland, sodann, bis 1993, als Lektor ans Germanistische Seminar der University of Wales in Swansea. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland promovierte er bis 1996 an der Freien Universität Berlin mit einer Arbeit über die Schlacht um Stalingrad im deutschsprachigen Roman nach 1945. Daran schlossen sich freiberufliche Tätigkeiten als Redakteur bei der Dresdner Literaturzeitschrift Ostragehege und als Lehrbeauftragter und Mitarbeiter an kulturwissenschaftlichen Forschungsprojekten an der TU Dresden. Seit 1995 lebt er im sächsischen Radebeul.

Ehrungen etc.

Bernig wurde 2005 in das P.E.N.-Zentrum Deutschland gewählt. Seit 2010 ist er Mitglied der Sächsischen Akademie der Künste. Er erhielt bislang folgende Preise und Stipendien: 2000 Förderpreis des Friedrich-Hölderlin-Preises der Stadt Bad Homburg vor der Höhe; 2001 Else-Heiliger-Stipendium; 2002 Writer in Residence an der University of Aberdeen; 2003 Wahl des Romans Niemandszeit zur Stadtlektüre von Bad Hersfeld, Preis der Hanna Johannes Arras Stiftung für Kunst und Kultur in Dresden; 2005 Förderpreis zum Lessing-Preis des Freistaates Sachsen, Sudetendeutscher Kulturpreis für Literatur, 2007 Stipendium der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen, 2008 Stipendium des Deutschen Literaturfonds, 2011 Eichendorff-Literaturpreis.

Texte

In Jörg Bernigs Gedichten, die mit dem ersten Band Winterkinder (Dresden 1998) auch am Beginn seiner Veröffentlichungen stehen, sind der genaue Blick auf die kleinen Dinge und das Bemühen um eine reflektiert poetische Sprache der Erinnerung das zentrale Anliegen: „wozu dann Gedichte / wenn nicht als lieder / auf ein schon gewesnes“, heißt es in seinem zweiten Gedichtband billet zu den göttern (Hauzenberg 2002). Bernig Erzählprosa verknüpft gern unterschiedliche Perspektiven in einer unprätentiösen, sorgfältigen Sprache zur dichten Lektüre. Sein erster Roman Dahinter die Stille (Stuttgart 1999), für den er mit dem Hölderlin-Förderpreis ausgezeichnet wurde, erzählt die Geschichte eines Stummen, der verschwunden ist. Erzählprinzip bildet die Kombination der Erinnerungsperspektive verschiedener Ich-Erzähler. Der Roman umkreist die traumatische Erfahrung des abwesenden Protagonisten, den Selbstmord seiner Mutter, der auch der Grund für dessen Verstummen war. Bernigs zweiter Roman Niemandszeit (Stuttgart 2002), der auch ins Tschechische übersetzt wurde, wendet sich auf unkonventionelle Weise der Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei nach dem Zweiten Weltkrieg zu. In einem von allen vergessenen, von Zufahrtswegen abgeschnittenen „ethnisch gesäuberten“ Dorf kommen deutsche und tschechische Versprengte, Täter und Opfer oft in den einzelnen Personen verschränkt, zusammen und versuchen einen neuen gemeinsamen Alltag zu finden, der indes am Ende wieder zerstört wird. In der zeitgeschichtlich brisanten Thematik bewährt sich Bernigs Konzept, gegen den Furor des Verschwindens im Erzählen Substanz zu gewinnen und zu bewahren, das Lebenswerte in der teilnehmenden Anschauung festzuhalten. Bernigs bislang letzter Roman Weder Ebbe noch Flut (Halle 2007) begibt sich auf verschiedenen Annäherungswegen wieder ins böhmische Mitteleuropa. Den Rahmen oder roten Faden bildet das Schicksal eines Liebespaars, des Albert Klueß und der Dorothee Lichtwer; sie haben sich in der Messestadt Leipzig noch in der DDR kennengelernt, leben dort auch über die Wende hinaus. Dorothee arbeitet als Architektin, Albert ist nach seinem Studium zunächst für einen kleinen Leipziger Verlag tätig und befaßt sich nebenher für seine Dissertation mit dem deutschböhmischen Dichter Adalbert Stifter. Der Plot zehrt von einem existentiellen Problem, dem unerfüllt bleibenden Kinderwunsch eines ansonsten im Glück lebenden Paares. Der Entschluß Dorothees und Alberts, sich ein kleines Haus zu kaufen und einzurichten, scheint endgültig auf eine private Idylle in Umbruchszeiten hinzuführen, doch ist dies eben überschattet von jenem jahrelang unerfüllten Kinderwunsch der beiden und führt letztlich zum Umbruch im Privaten. Mit der Wende scheinen zwar zunächst die Versprechen neuer Möglichkeiten durch die moderne Reproduktionsmedizin auf, doch führt die Fixierung auf den Kinderwunsch zu weiteren Enttäuschungen und schließlich zu Alberts Ausbruch aus dieser Konstellation, der als Angebot an Dorothee verbrämt wird: "Ich gebe dir alle Versprechen zurück". Hierin erweist sich die Struktur des Romans als Variation auf Adalbert Stifters bittersüße, kunstvolle Erzählung Der Waldgänger, die ihren beiden Figuren Georg und Corona eine große Liebe und in der Kinderlosigkeit eine große Versagung zumißt: Bei Stifter entsagt Corona und gibt Georg frei, man läßt sich scheiden, und Georg vermählt sich erneut, um mit seiner zweiten Frau tatsächlich zwei Kinder zu zeugen, die Corona weiter versagt bleiben. Eine Wiederbegnung der beiden in reifem Alter führt bei Georg im Angesicht der noch immer geliebten Corona zur Erkenntnis, sein Leben letztlich verfehlt zu haben, so – sehr verkürzt – eine zentrale Grundkonstellation in Stifters Text. In Bernigs Roman reflektiert Albert, der sich der kinderlosen Beziehung durch eine Flucht nach Swansea in Wales auf eine Stelle an der dortigen Universität entzogen hat, in seinen Studien zu Adalbert Stifter nicht nur dessen kinderlose Ehe mit Amalie, sondern auch die böhmische Geschichte, während Dorothee in Böhmen mit einem Tschechen ein neues Glück zu finden scheint. Auf einer Fahrt durch Böhmen, mit der ein gereifter Albert auf Stifters Spuren wandeln will, vermeint er sie mit Kindern gesehen zu haben – die Geschichte wird bei Bernig also aus der Melancholie in einen verhaltenen Optimismus überführt. Bernig gelingt es wieder, mit dem individuellen Schicksal seiner Romanfiguren auch die historischen Entwicklungen in den Blick zu rücken, ohne in schablonenhafte Zuschreibungen zu verfallen. Dies zeichnet nicht nur seine behutsamen böhmischen Reminiszenen, sondern auch seine plastischen Szenen aus der Wendezeit in Leipzig aus. Diesem Roman ließ Bernig unter dem Titel wüten gegen die stunden (Halle 2009) eine Sammlung von Gedichten folgen: Mit ihnen "zaubert er Bilder ins Bewusstsein, die sich aus alltäglichen Teilchen zusammenbauen, in denen zuweilen die Fahnen von Hölderlin klirren oder Czechowskis Berge sanft wie Tiere neben dem Fluß gehen" (Michael Wüstefeld) - wie schon in seinen früheren Gedichten sind auch hier wieder genaue Beobachtungen mit literarischen Anspielungen dicht verwoben.

Werke

Literarisch
  • Winterkinder. Gedichte. Dresden: Verlag Die Scheune, 1998
  • Dahinter die Stille. Roman. Stuttgart: DVA, 1999
  • billett zu den göttern. Gedichte. Hauzenberg: Edition Toni Pongratz, 2002
  • Niemandszeit. Roman. Stuttgart: DVA, 2002 (Übersetzung ins Tschechische: Čas nikoho. Prag: Mladá Fronta, 2005 – Übersetzerin: Jana Kudělková; ins Polnische: Cas niekogo [in Vorbereitung], Vorabdruck in: Odra 12/2007 – Übersetzerin: Joanna Obrusnik, Übersetzung ins Rumänische: Vremea Nimănui [in Vorbereitung], Vorabdruck in: Orizont 5/2006 – Übersetzerin: Ruxandra Buglea
  • Weder Ebbe noch Flut. Roman. Leipzig: Mitteldeutscher Verlag, 2007, ISBN 9783898124645
  • Die ersten Tage. Erzählungen. Hauzenberg: Edition Toni Pongratz, 2007, ISBN 978-3-931883-61-4
  • wüten gegen die stunden. gedichte. Halle: Mitteldeutscher Verlag, 2009 (2. Aufl. 2009), ISBN 978-3-89812-604-5
Wissenschaftlich
  • Eingekesselt. Die Schlacht um Stalingrad im deutschsprachigen Roman nach 1945. Frankfurt/M., New York u.a.: Peter Lang, 1997 (Diss.), ISBN 978-0-8204-3667-8
  • Literaturlandschaft im Wandel. Gespräche zur literarischen Kultur in Sachsen und Ostdeutschland 1990–2005. Hg. von Jörg Bernig, Eckhard Richter und Walter Schmitz. Dresden: Thelem 2006, ISBN 978-3-933592-25-5
  • Deutsch-deutsches Literaturexil. Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus der DDR in der Bundesrepublik. Hg. von Jörg Bernig und Walter Schmitz. Dresden: Thelem 2009, ISBN 978-3-935712-03-3
  • Niemands Welt. Sieben Nachrichten aus Mitteleuropa. Dresden: Thelem, 2009, ISBN 978-3-939888-89-5

Sekundärliteratur

  • Michaela Peroutková: Vyhnání. Jeho obraz v české a německé literatuře a ve vzpomínkách, Praha: Libri 2008.
  • Ulrich Fröschle: Bernig, Jörg. In: Jürgen Joachimsthaler, Marek Zybura (Hg.), Słownik współczesnych pisarzy niemieckojêzycznych. Warschau 2007
  • Valentina Glajar: Victims and Perpetrators: Representations of the German-Czech Conflict in Texts by Peter Härtling, Pavel Kohout, and Jörg Bernig. In: Laurel Cohen-Pfiste, Dagmar Wienroeder-Skinner (Hg.): Victims and Perpetrators: 1933-1945. (Re)Presenting the Past in Post-Unification Culture, Berlin/New York: De Gruyter 2006
  • Michaela Peroutková: Literarische und mündliche Erzählungen über die Vertreibung. Ein deutsch-tschechischer Vergleich, Berlin: WiKu Verlag für Wissenschaft und Kultur, 2006
  • Tomáš Kafka: Laudatio auf Jörg Bernig. In: Lessing-Preis des Freistaates Sachsen 2005. Dankreden und Laudationes. Schriftenreihe des Lessing-Museums Kamenz, 25. Jahresheft, Lessing-Museum: Kamenz 2005
  • Nicole Birtsch: Schreiben über nicht-erlebte Geschichte: Die Darstellung von Flucht und Vertreibung in der deutschen Gegenwartsliteratur am Beispiel von Jörg Bernigs Roman Niemandszeit. In: Orbis Linguarum, Wrocław 2004.
  • Rainer Neubert: Die Rezeption des Romans Niemandszeit von Jörg Bernig. In: Elke Mehnert (Hg.): Grenzpfade. Frankfurt/M. 2004
  • Bill Niven: The globalisation of memory and the rediscovery of German suffering. In: Stuart Taberner (Hg.): German literature in the age of globalisation. Birmingham: Birmingham University Press 2004
  • Thomas Kraft: Bernig, Jörg. In: Ders. (Hg.): Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1945, Nymphenburger Verlagsbuchhandlung: München 2003
  • Barbara von Wulffen: Jörg Bernig. In: Bayerische Akademie der Schönen Künste. Jahrbuch 16 (2002).
  • Ulrich Fröschle: Hinter der Stille. Der Schriftsteller Jörg Bernig. Porträt. In: Literaturblatt für Baden und Württemberg. Hg. von Irene Ferchl. Stuttgart/München: Deutsche Verlags-Anstalt, 9. Jg. (2002), Nr. 2, März/April 2002
  • Christoph Perels: Mutmaßungen über einen Verstummten. In: Magistrat der Stadt Bad Homburg (Hg.): Friedrich Hölderlin-Preis. Reden zur Preisverleihung am 7. Juni. Bad Homburg 2000.

Weblinks


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