- Anastylose
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Anastilosis (griech.: αναστήλωσις, -εως; aus ανα, ana = „wieder“, „zurück“ und στηλόω = „(eine Stele oder ein Gebäude) aufstellen“; häufig auch Anastylose als irrtümliche Herleitung von ο στύλος, stylos = „die Stütze, Säule“) bezeichnet die Wiedererrichtung eines verfallenen historischen Bauwerks unter Verwendung seiner originalen, erhaltenen Bauteile.
Methode
Ansatz der Anastilosis ist, Baudenkmäler wieder zu gewinnen, deren Originalsubstanz zwar in Einzelteilen weitgehend erhalten ist, aber nicht mehr in einem baulichen Zusammenhang steht. Das Mittel ist die Wiedererrichtung an seinem originalen Platz. Hierfür sind soweit wie möglich die originale Substanz (Steine, Ziegel etc.) des Bauwerkes zu verwenden. In Fällen, wo Bauwerke einsturzgefährdet sind, können sie Stein für Stein abgetragen, die Einzelteile analysiert, nummeriert und katalogisiert und danach wieder aufgebaut werden; mitunter auf einem neuen Fundament. Zusätzliche neue Elemente und Materialien (Beton, Stahlträger u.ä.) werden nur in Ausnahmefällen, aus statischen Gründen, also um die Struktur zu stärken, oder weil sonst die originalen Teile nicht wieder aufgebaut werden könnten, verwendet – und dabei möglichst „unsichtbar“, also verdeckt durch Originalteile, eingebaut. Ergänzte Teile müssen als solche erkennbar sein.
In der internationalen Charta von Venedig 1964 wurden die Kriterien einer Anastilosis festgelegt. Erstens muss das ursprüngliche Aussehen der aufzustellenden Teile durch die wissenschaftliche Erforschung vollständig und zweifelsfrei wiedergewonnen sein. Zweitens muss von jedem Bauteil der ursprüngliche Platz im Bau bekannt sein. Drittens müssen neu ergänzte Bauteile auf das Notwendige beschränkt sein (das heißt: ein neu angefertigtes Bauteil darf nie zuoberst liegen) und als solche erkennbar sein. Rekonstruktionsarbeiten im Sinne einer hypothetischen Ergänzung sind demnach nicht zulässig.
Beispiele
Als erste Anastilosis wurde bereits 1836 auf der Akropolis in Athen der Niketempel aus seinen Bauteilen wieder errichtet. Ab dem Jahr 1902 setzte der griechische Architekt Nikolas Balanos die Methode der Anastilosis ein, um dort eingestürzte Teile des Parthenon und des Erechtheion wieder aufzubauen sowie den Niketempel ein zweites Mal verbessert wieder aufzustellen. Die dabei verwendeten Eisenklammern und -dübel zur Verbindung der Bauteile führten im Lauf der Zeit durch Rost zu schweren Schäden am Originalmaterial. Sie wurden daher entfernt und durch Edelmetallklammern ersetzt, als der Tempel in jüngster Zeit ein weiteres Mal ab- und unter Hinzufügung zahlreicher neu identifizierter Fragmente wieder aufgebaut wurde.
Im frühen 20. Jahrhundert wendeten niederländische Archäologen die Anastilosis zwischen 1907 und 1911 auf die buddhistische Tempelanlage Borobudur auf Java an. Der französische Archäologe Henri Marchal von der École française d'Extrême-Orient (kurz EFEO) wurde dort von Pieter Vincent van Stein Callenfels in die Methode eingeführt und begann sie ab den 1930ern bei den Restaurierungsarbeiten in Angkor einzusetzen. Der erste dort auf diese Weise wieder aufgebaute Tempel war der Banteay Srei.
Die Methode der Anastilosis wurde im Verlauf des 20. Jahrhunderts stetig weiterentwickelt und fand bei einer Vielzahl von archäologischen Restaurierungen auf der ganzen Welt Verwendung: von der Akropolis in Athen (Griechenland) und dem Odeion in Troja (Türkei) über das Traian-Heiligtum in Pergamon (Türkei) und den Tempel des Herakles in Agrigent (Italien) bis zu Tempeln in Petra (Jordanien) und My Son (Vietnam). Teilweise ist der Übergang zur Rekonstruktion fließend, etwa bei den sehr aufwändigen Wiederherstellungen der Zwischenkriegszeit durch italienische Archäologen in der damaligen Kolonie Libyen, etwa beim Bühnenhaus des Theaters von Sabratha oder beim Severusbogen in Leptis Magna.
In Erwägung gezogen wird, ob sich die Buddha-Statuen von Bamiyan in Afghanistan, die im Jahr 2001 von den Taliban gesprengt wurden, in einer Anastilosis wieder aufstellen lassen. Nach Schätzungen von Archäologen sind etwa 50 % noch in verwendbaren Trümmern erhalten.
Literatur
- Adolf Borbein, Tonio Hölscher, Paul Zanker (Hrsg.): Klassische Archäologie. Eine Einführung. Reimer, Berlin 2000, ISBN 3-496-02645-6 (darin: Hans-Joachim Schalles: Archäologie und Denkmpalpflege. S. 52 ff. Gottfried Gruben: Klassische Bauforschung. S. 251 ff.).
- Gruben, Gottfried: Anastilosis in Griechenland- In: Anita Rieche u.a. (Hrsg.): Grabung – Forschung – Präsentation. Festschrift Gundolf Precht. Zabern, Mainz 2002. S. 327–338. (Xantener Berichte, Band 12) ISBN 3-8053-2960-1.
- Klaus Nohlen: Anastilosis und Entwurf. In: Istanbuler Mitteilungen, Bd. 54 (2004), S. 35–54. ISBN 3-8030-1645-2.
- Michael Petzet, Gert Mader: Praktische Denkmalpflege. Kohlhammer, Stuttgart 1993. ISBN 3-17-009007-0; v. a. S. 86 ff. und 98 ff.
- Hartwig Schmidt: Wiederaufbau. Denkmalpflege an archäologischen Stätten, Bd. 2, hrsg. vom Architekturreferat des Deutschen Archäologischen Instituts. Theiss, Stuttgart 1993. ISBN 3-8062-0588-4.
- Lambert Schneider, Christoph Höcker: Die Akropolis von Athen, Primus, Darmstadt 2001. ISBN 3-89678-410-2 (darin bes. S. 46-59).
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