Kammermusik (Bruckner)

Kammermusik (Bruckner)

Bruckner und die Kammermusik

Bei Anton Bruckner fußte das musikalische Denken vollkommen auf den Gesetzmäßigkeiten symphonischer Musik, ganz im Gegensatz zu seinem Antipoden Johannes Brahms, dessen Schaffen im Zeichen der Kammermusik steht. So lässt es sich auch erklären, dass Bruckner, nachdem er gegen Mitte der 60er Jahre des 19. Jahrhunderts die ihm eigene Ausdrucksform erkannt hatte, fast nur noch Symphonien komponierte und auch in seinen nicht-symphonischen Werken deutlich deren Einfluss zu spüren ist. Zur Komposition für kleine Ensembles fühlte er sich eher wenig hingezogen und schrieb folglich nur wenige Kammermusiken. Es sind dies:

Frühe Kammermusik

Bruckners erstes Kammermusikwerk ist das Streichquartett c-Moll. Es entstand, wie etwas später auch die bekanntere f-Moll-Symphonie, als Studienarbeit während Bruckner, bereits fast 38 Jahre alt, beim Linzer Theaterkapellmeister Otto Kitzler Unterricht in freier Komposition nahm und wurde am 7. August 1862 beendet. Den späteren Symphonien des Komponisten ist das nur etwa 20-minütige Opus qualitativ keinesfalls an die Seite zu stellen. Es zeigt jedoch einen satztechnisch sicheren Stil. Auch die strengen Unterweisungen im Kontrapunkt bei Bruckners vorherigem Lehrmeister Simon Sechter lassen sich in ihm ausmachen. Der erste Satz (Allegro moderato) weist mit seinem elegischen Hauptthema und der ausschweifend modulierenden Durchführung schon etwas auf den späteren Bruckner. Im Hauptthema des zweiten Satzes (Andante) nimmt Bruckner die Melodie des Miserere aus seiner Messe d-Moll vorweg. Das kurze Scherzo (Presto) ist rustikal gefärbt, ein Ländler dient als Trio. Am Schluss des Werkes steht ein Rondo (Schnell) mit sonatenartigen Zügen, das sich an die Finalsätze der Wiener Klassik anlehnt. Bruckners Streichquartett war über lange Zeit verschollen und wurde erst in den 1950er Jahren aufgefunden. Seither erfreut sich das Stück gelegentlicher Pflege bei den Streichquartettensembles.

Das im gleichen Jahr wie das Quartett entstandene Rondo c-Moll für dieselbe Besetzung wurde offensichtlich komponiert, weil Bruckner glaubte, mit dem Finale des Streichquartetts die Rondoform noch nicht gemeistert zu haben. So entstand ein zweites, etwas längeres Rondo „in größerer Form“ (Bruckner). Es ist in Charakter, Aufbau, Ton- und Taktart völlig identisch mit dem ersten Rondosatz, könnte also auch problemlos mit ihm als Finalsatz des Streichquartettes ausgewechselt werden. Das kleine Charakterstück Abendklänge für Violine und Klavier entstand 1866 als Gelegenheitswerk zu der Zeit, als Bruckner an der ersten Symphonie arbeitete.

Streichquintett und Intermezzo

1877 stellte Dr. Anton von Oelzelt-Nevin, ein wohlhabender Wiener Bürger und Verehrer von Bruckners Musik, dem Komponisten zu billiger Miete eine komfortable Wohnung zur Verfügung, in der jener bis zu seinem Unzug ins Schloss Belvedere 1895 wohnte. Bruckner war Dr. Oelzelt dafür so dankbar, dass er ihm später die sechste Symphonie widmete. Zuvor schrieb er jedoch als erstes Werk in der neuen Wohnung das Streichquintett F-Dur, das wie die sechste Symphonie in seiner heiteren Grundstimmung durchaus von den verbesserten Lebensumständen beeinflusst sein könnte und mit dessen Entstehung es folgende Bewandtnis hat: Im Gespräch mit dem Komponisten äußerte Josef Hellmesberger senior, erster Geiger der damals wichtigsten Streichquartettvereinigung Wiens, sowie als Direktor des Konservatoriums Bruckners direkter Vorgesetzter, Bruckner könne doch einmal ein Kammermusikwerk komponieren (die frühen Versuche waren ihm natürlich nicht bekannt). Den vermutlich nicht ganz ernst gemeinten Vorschlag interpretierte Bruckner wohl als dringende Bitte, sah sicherlich auch eine neue Herausforderung darin und begann sofort mit der Arbeit, die ihn von Dezember 1878 bis Juli 1879 beschäftigte. Als er Hellmesberger schließlich das fertige Werk zeigte, war dieser zwar positiv überrascht, allerdings mit bestimmten Einzelheiten wenig zufrieden. Das Scherzo missfiel ihm sogar so sehr, dass er Bruckner bat, einen neuen Satz zu schreiben. Der Bitte kam der Komponist mit der Komposition des Intermezzos nach. Die Uraufführung der ersten drei Sätze fand am 17. November 1881 durch das (durch den Bruckner-Schüler Franz Schalk verstärkte) Winkler-Quartett statt. Hellmesbergers Ensemble zögerte noch bis zum 8. Januar 1883, ehe es das Werk erstmals komplett öffentlich spielte – übrigens mit dem Scherzo. Das Quintett wurde eines der zu Lebzeiten erfolgreichsten Werke Bruckners. Auch einige seiner Feinde unter den Musikkritikern zollten ihm Anerkennung. Zusammen mit den Streichquintetten von Franz Schubert, Johannes Brahms, Felix Draeseke und Antonín Dvořák bildet das für 2 Violinen, 2 Violen und Violoncello geschriebene Stück den Höhepunkt dieser Kammermusikgattung in der Epoche der Romantik. Die Spieldauer beträgt ca. 45 Minuten.

Das Streichquintett profitiert in seiner formalen Gestaltung merklich von den Symphonien, ist jedoch keine „verkappte Symphonie“, wie gelegentlich behauptet wird, sondern ein echt kammermusikalisch erfundenes Werk. Orchestral anmutende Stellen finden sich hier nur wenige; im Vordergrund steht der feinsinnig gehandhabte Dialog der fünf Streichinstrumente, die völlig gleichberechtigt agieren. Man hat schon zu Lebzeiten des Komponisten die Nähe des Stückes zu den letzten Streichquartetten Ludwig van Beethovens betont. Fraglich ist aber, ob Bruckner selbige zum Zeitpunkt der Komposition bereits kannte.

Der Unterschied zu Bruckners Symphonien zeigt sich schon im ersten Satz (Gemäßigt, F-Dur): Er ist deutlich zurückhaltender im Ausdruck und vertauscht den sonst üblichen geraden mit dem ¾-Takt. Außerdem setzt er sofort mit dem Hauptthema ein, ohne vorbereitende Einleitungstakte. Das Thema selbst erinnert auch weniger an die symphonischen Hauptthemen, sondern ist eher den Gesangsthemen der Symphonieecksätze verwandt. Das zweite Thema fällt durch sein prägnantes Kopfmotiv auf. Dieses wird vor Einsatz des dritten Themas zu einer markanten Unisono-Gebärde gesteigert. Das dritte Thema selbst ist das eigentliche Gesangsthema des Satzes. Die Durchführung beschäftigt sich vorrangig mit dem Hauptthema. Auch eine Trillerfigur aus der Überleitung zum zweiten Thema wird für den weiteren Verlauf bedeutend. Die Reprise greift leicht variierend die Themen der Exposition wieder auf. Das dritte Thema bildet den Übergang zur Coda, die auf Motiven des ersten und dritten Themas basiert und feierlich ausklingt.

Wie der Kopfsatz zeigt sich auch das Scherzo (Schnell, d-Moll, ¾-Takt) gezügelter als in den Symphonien. Es basiert auf drei Themen, die im Mittelteil durchgeführt und anschließend wiederholt werden. Auffällig ist hier die Bevorzugung synkopierter Melodik. Das Thema des dreiteiligen Trios (Langsamer, Es-Dur, ¾-Takt) ist eine Variante des Scherzo-Hauptgedankens. Nach dem Trio wird das Scherzo Da capo gespielt

Als bedeutendster Satz des Quintetts gilt das Adagio (Ges-Dur, 4/4-Takt). „Hätte Anton Bruckner [...] nur den langsamen Satz seines [...] Quintetts geschrieben, so wäre er bereits unsterblich geworden“ urteilte der Musikwissenschaftler Wilhelm Altmann. Der Satz basiert auf zwei breit ausgeführten Themenkomplexen. Das Hauptthema, von der ersten Geige vorgestellt, ist gekennzeichnet durch den punktierten Themenkopf und vorrangig absteigende Melodik. Als zweites Thema fungiert eine Violamelodie, die aus der Umkehrung des Hauptgedankens abgeleitet ist. Der durchführungsartige Mittelteil beginnt mit dem Hauptthema, das in seiner Intensität immer mehr gesteigert wird und schließlich zum zweiten Thema überleitet, auf dem sich allmählich der Höhepunkt des Satzes aufbaut, der durch herabstürzende Figuren der Violinen markiert wird. Es folgt eine freie Reprise der beiden Themen in umgekehrter Reihenfolge, in der die Spannung allmählich aufgelöst wird. Ruhig und sanft klingt das Adagio aus.

Im Finale (Lebhaft bewegt, f-Moll, 4/4-Takt) kommt Bruckner dem Stil seiner Symphonien am nächsten. Sein über einem pochenden Des anhebendes erstes Thema besteht vorwiegend aus einer Achtelbewegung, die erst nach einigen Takten prägnantere Konturen annimmt. Die Melodik des ruhigen Gesangsthemas ist durch Sexten geprägt. Die Durchführung beginnt mit einer Variante des Hauptthemas in großen Intervallsprüngen, die das gewohnte dritte Thema vertritt, allerdings keine in sich abgeschlossene Themenvorstellung erfährt, sondern sofort fugatoartig verarbeitet wird. Der Formabschnitt wird weithin von diesem Gedanken geprägt. Auch treten stellenweise Motive des ersten und zweiten Themas hinzu. Die Reprise läuft spiegelverkehrt ab und beginnt mit dem Gesangsthema. Die Coda wendet sich nach F-Dur und läuft in einen Schluss aus, der dem des ersten Satzes sehr ähnelt.

Der einzeln stehende Quintettsatz Intermezzo d-Moll (Moderato, ¾-Takt) von 1879 war ursprünglich als nachkomponierter Ersatz für das von Hellmesberger kritisierte Scherzo des Streichquintettes gedacht. Es ist deutlich kürzer als dieses und weist in seinem thematischen Material enge Verwandtschaft zu den Gedanken des Quintett-Finalsatzes auf. Auch hier steht ein Trio (Langsamer) in der Mitte, das allerdings wenig zu den umrahmenden Intermezzo-Teilen kontrastiert. Gelegentlich wird bei Aufführungen des Streichquintettes das Intermezzo zwischen Adagio und Finale eingeschoben.


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