Kasachen-Khanat

Kasachen-Khanat

Das Kasachen-Khanat (zeitgenössische kasachische Schreibungقازاق حاندىعى‎; heutige Schreibung Қазақ хандығы Qazaq xandığı, russisch Казахское ханство) war eine Stammesföderation in Westsibirien und Zentralasien, die seit der Mitte des 15. bestand und im 19. Jahrhundert durch den russischen Zaren sukzessive aufgelöst wurde.

Inhaltsverzeichnis

Umfang und Stammesstruktur

Das Kasachen-Khanat umfasste im Wesentlichen das westliche, nördliche und östliche Gebiet des heutigen Kasachstans. Es griff allerdings auch in jene kasachischen Siedlungsgebiete über, die sich heute in der russischen Region Altai und der Republik Altai sowie in Usbekistan – dort hauptsächlich Karakalpakien – befinden. Der Khan dieser Stammesföderation herrschte hauptsächlich über Steppennomaden. Doch war seine Herrschaft äußerst brüchig. Bereits im frühen 16. Jahrhundert zerfiel dieses Khanat vorübergehend in drei Teil-Khanate, und im 18. Jahrhundert zerfiel es erneut in einzelne Horden (Kleine Horde, Mittlere Horde und Große Horde), die äußerst autonom agierten.

Geschichte

Formierung der Kasachen im 15. Jh.

Die Geschichte des Kasachen-Khanates begann Mitte des 15. Jahrhunderts, als sich die damals als „Kasak-Tataren“ bezeichneten Steppennomaden von dem kurz vorher errichteten Khanat der Usbeken trennten.

Um 1400 regierte ein gewisser Koirigaq Oglun (ca. 1394–1422), ein angeblicher Sohn des Urus Khan aus der Linie des Dschingiskhaniden Orda (alternativ: aus der Linie Toqa Timurs) in Westsibirien. In den timuridischen Quellen wird berichtet, dass Koirigaq von Timur Lenk († 1405) in Sibirien eingesetzt wurde, um dort den rebellischen Khanen von der Wolga Konkurrenz zu machen. Koirigaqs Sohn Boraq wurde 1428 vom Gründer und Herrscher des Usbekenreiches, Abu'l-Chair ersetzt, welcher ein straff geführtes, islamisiertes Reich errichten wollte.

Aber einige Gruppen trennten sich jedoch bei passender Gelegenheit – nach einer Niederlage Abu'l-Chairs gegen die Oiraten um 1456 – wieder von Abu'l-Chair. Diese Gruppen wollten weiterhin autonom nach den alten Traditionen der Steppennomaden leben und dadurch ungebunden bleiben. Speziell zogen die Prinzen Kerei und Janibek (Söhne Boraqs) mitsamt Gefolge nach Moghulistan ab. Unter dem Schutz des Tschagatai-Khans Yunus (reg. 1462–87) formierten sie sich gegen den Usbekenherrscher. 1468 kehrten sie in die alten Stammesgebiete zurück. In einer Schlacht nördlich des Syr-darja besiegten und töteten sie Abu'l-Chair Khan.

Auch wenn Abu'l-Chairs Enkel Mohammed Scheibani († 1510) das Usbekenreich gegen 1500 wieder herstellen konnte, so blieb seine Macht jedoch auf einen Teil der Stämme beschränkt, und die Herrschaft der Kasachen über die Nordsteppen blieb erhalten. Die späteren Kasachen-Fürsten stammten wie Koirigaqs Nachkommen Boraq, Kerei und Janibek, Qasym usw. entweder tatsächlich von den Dschingiskhaniden ab oder aber sie behaupteten später, von ihnen abzustammen.

Die Khane und ihr Staat

Anfangs kannten die Kasachen kaum eine staatliche Ordnung. Der Islam übte nur eine oberflächliche Wirkung aus, die praktische Macht lag bei den Clans unter ihren Beks und Batyrs, die entweder den Khan unterstützten oder auch nicht. Aufgrund dessen zerfiel nach dem Tod des allseits anerkannten Qasym Khan (Sohn Janibeks, reg. 1509–1518) die Einheit der Kasachen. Das Volk teilte sich nun in drei verfeindete Horden, die erst von Qasyms Sohn Haqq Nazar (reg. 1538–80) wiedervereinigt wurden.

Unter Tawakkul (reg. 1586–98) und seinen Nachfolgern Ischim (reg. 1598–1628) und Jangir (reg. 1628–52) stellte das halbwegs geeinte Khanat wieder eine Gefahr für die benachbarten Usbeken dar: die Kasachen besetzten Taschkent und der Khan Tawakkul drang 1598 sogar bis Buchara und Samarkand vor. Allgemein gesehen erfreuten sich die Kasachen im 16. Jh. einer wirtschaftlichen Blüte und verhältnismäßigen Ruhe.

Aber am Anfang des 17. Jahrhunderts formierten die Oiraten – speziell ihr Teilstamm der Dschungaren – unter den Fürsten Khara-Khula (reg. 1619–34) und Khungtaidschi Batur (reg. 1634–53) am Imil-Fluss und Altai ein neues Steppenreich. Es stand unter dem Einfluss des Buddhismus. Zwar hatten die Kasachen (z.B. Tawakkul) und ihre Nachbarn schon vorher gelegentliche Niederlagen gegen dieses kriegerische Volk erlitten, aber jetzt drängten die Oiraten-Reste (z.B. die Kalmücken unter Khu Urluk († 1643)) selbst mit aller Macht westwärts und die Situation verschärfte sich. So kämpften 1635 Ischim (Yesim) und 1643 sein Sohn Jangir erfolglos gegen die Dschungaren und in der Folge verzeichnet man deren Vorherrschaft über die meisten Clans der Großen Horde.

Unter dem Druck der Dschungaren und Russen

Erst Tauke (Tyawka, 1680-1715) vereinigte die Kasachen erneut und führte anstelle des nomadischen Gewohnheitsrechtes ein geschriebenes Gesetz (Dschety Zhargy) ein. Tauke hatte Repräsentanten in allen drei Horden und kontrollierte deren Affären, er empfing Botschafter der Russen (1694) und musste sich zwischen 1681 und 95 und erneut 1710 mehrfach mit den Oiraten (auch: Dschungaren) am Syr-darja auseinandersetzen. So richtete er 1698 die Botschafter des Dschungaren-Khan Tsewangrabtan (reg. 1697–1727) hin und kassierte prompt eine militärische Niederlage. Trotzdem gilt er als mächtiger Fürst, der in der Lage war, diese Feinde noch zurückzuhalten.

Nach Taukes Kontrollverlust[1] bzw. Tod wurde Kaip Khan nur widerwillig gewählt. Es begann die Zeit des „Großen Unglücks“, d.h. ständiger Angriffe der Oiraten (Dschungaren): 1716 zog eine Oiratenarmee vom Ili-Fluss im Zickzack-Kurs bis zum Balchasch-See, wo sie im Frühling 1718 die vereinigten Kasachenstämme am Fluss Ajagus schlug. Taukes Sohn Bolat konnte die Kasachen 1718 schließlich nicht länger zusammenhalten: sie lösten sich trotz großer äußerer Bedrohung wieder in die drei Horden auf. Diese Horden – auch als „Schüs“ (kasachisch Abteilung) bezeichnet – wurden von den Russen fälschlich als „Kleine Kirgisen-Horde“, „Mittlere Kirgisen-Horde“ und als „Große Kirgisen-Horde“ bezeichnet, da diese die Bezeichnung „Kirgisen“ auch auf die Kasachen anwandten.

Die ständigen Raubzüge, Morde, Verschleppungen quer durch das ganze Land bis zum Syr-darja führten um 1723–25 beinahe zum Untergang des kasachischen Volkes. Um dem Druck der Oiraten zu entgehen, taten die Kasachen aber zwei Sachen: Zum einen kam es 1728 – unter einem Khan namens Abu'l-Hayr (1717/28–VIII.1748, ermordet), der auch zwischenzeitlich Erfolge davontragen konnte – zu einer vorübergehenden Wiedervereinigung der kasachischen Nomanden. Zum zweiten unterwarfen sich die drei Horden (dem Beispiel Abu'l-Hayrs 1731 folgend) 1731–42 nacheinander dem Russischen Kaiserreich, so dass die Russen (vergleichsweise) friedlich ihr Einflussgebiet erweitern und durch Forts sichern konnten. Es half den Kasachen über die Runden, bis das Oiratenreich 1754-59 von den Chinesen beseitigt wurde, so dass Ruhe herrschte. Allerdings führten innere Rivalitäten 1740–42 noch einmal zu einem erfolgreichen Angriff der Dschungaren. Sie schlugen Abylai Khan, verwüsteten erneut das Syr-darja-Gebiet und kamen bis zur russischen Grenze.

Die nächsten bedeutenden Khane waren Abu'l Muhammed (reg. 1729/31–71) und Abylai (*1711, reg. 1731/71–81), wobei Abu'l Muhammed um 1750 an Einfluss verlor und relativ eng mit Abylai zusammenarbeitete. Abylai Khan war seit seiner Niederlage 1740/2 ein Vasall der Dschungaren und musste mit deren Untergang 1758/59 erst die Ansprüche der Chinesen zurückweisen, bevor er die Einheit der Kasachen zumindest scheinbar wieder herstellten konnte. Er bemühte sich in diversen, meist diplomatischen Affären zwischen den Russen und den Chinesen zu lavieren und gilt formell als beider Vasall. So ließ er sich den 1771 (nach dem Tod von Abu'l Muhammed und dem Erfolg gegen die zurückwandernden Kalmücken) angenommen Titel „Khan“ sieben Jahre später von der Zarin bestätigen.

Allgemein verzeichnet man im 18. und 19. Jahrhundert aber eine totale Desintegration der Kasachen (z.B. wiederholte Zweiteilung der "Kleinen Horde"), wo selbst zu Zeiten eines anerkannten Chefs eine ganze Reihe anderer Anführer neben diesem Khan bestanden, die sich auch nicht scheuten, gegen diesen im Ausland um Hilfe zu ersuchen. So begründete der Muslim Bökey Khan (reg. 1812–15, ein Enkel Abu'l-Hayrs) im 19. Jh. die eigenständige Bökey-Horde. Das passierte, weil mehrere Stammesführer mit der Unterdrückung durch Vali Khan (Abylais Sohn, reg. 1781–1818/9) unzufrieden waren und 1795 die Zarin um Hilfe ersuchten. Ein Tribunal wurde einberufen, begann 1806 seine Arbeit und Zar Alexander I. setzte schließlich 1812 Bökey als zweiten Khan neben Vali ein.

Kolonialherrschaft und Nationsbildung

Das bis dahin lockere russische Protektorat wurde zwischen 1822 und 1848 in allen vier(!) Horden – das heißt, in den drei traditionellen und in der Bökey-Horde – durch eine direkte Verwaltung ersetzt und besonders mit Kasan-Tataren besetzt. So wurde allmählich die traditionelle Macht der kasachischen Khane gebrochen.

Trotzdem blieben die Kasachen zunächst vom Militärdienst befreit, sie behielten ihr Gewohnheitsrecht und ihre örtlichen Ältestenräte. Aber die fortschreitende Kolonisierung mit starker Einwanderung von Russen und Ukrainern behinderte die traditionelle Lebensweise und die russische Verwaltung wurde auch nicht mehr ohne weiteres akzeptiert: Es brachen bald antirussische Aufstände aus, insgesamt acht Stück zwischen 1783 und 1870. Zwei dieser letztlich erfolglosen Aufstände fanden unter Enkeln Abylai Khans statt: Sarschan Kasymow (ab 1825, 1831/34) und Kenisari (*1802, reg. 1837–46/47). Mit dem Untergang des kasachischen Feudaladels begannen sich die von intellektuellen Tataren im Generalgouvernement Turkestan und -Steppe verbreiteten Nationalideen durchzusetzen. So waren die Kasachen nicht länger einzelnen Stämmen oder Fürsten zugehörig, sondern nun einer modernen Nation verbunden, die sich vor allem von der Sprache und der traditionellen Kultur ableitete. Dennoch blieb das Stammes- und Clandenken bei den Kasachen bis heute bestehen. Diese bestimmen aber nunmehr nicht mehr das persönliche Leben, sondern gelten als traditionelle Eigenschaften.

Von 1917 bis 1920 war das Gebiet des Kasachen-Khanates die Basis des kasachischen Alasch-Orda-Staates.

Fürstenliste

  • Koirijaq Oglun (ca. 1394–1422)
  • Boraq Khan (1422–1428)
  • Kerei Khan (ca. 1428–1459p.)
  • Janibek Khan (ca. 1440–1480; Mitherrscher)
  • Muryndyq Khan (1480/88–1509/11)
  • Kasym Khan (1480/1511–1518)
  • Mimash Khan (1518–1523)
  • Tahir Khan (1523–1530/33)
  • [1526 Desintegration:]
  • Togim Khan (1526/38; Südgebiet)
  • Boydas Khan (1526/38; Ostgebiet)
  • Uziaq Ahmad Khan (1526/35; Nordgebiet)
  • Aq Nazar Khan (1538–1575/80)
  • Shigai Khan (1575/80–1582)
  • Tawekel Khan (1575/86–1598; seit 1586 Khan aller Kasachen)
  • Yesim Khan (1598–1628/35)
  • Jahangir Khan (1628–1652)
  • Ablaigirim (1628–36; † ca. 1650)
  • Bolat Khan (1698/1718–1731)
  • Abu'l-Hayr (1717/28–1748)
  • Shah Muhammed (1719–1734)
  • Abu'l Muhammed (1729/31–71)
  • Abylai (1731/71–81)
  • Sirim Batyr und Nurali (1748 ff.)

Anmerkungen

  1. In den Verhandlungen der Kasachen mit Sibiriens Gouverneur Matwei Gagarin 1717/18 werden neben Tauke noch Kaip und Abu'l-Hayr als Khane erwähnt. Es ging um russische Hilfe gegen die Dschungaren, aber die Verhandlungen waren angesichts heftiger Meinungsverschiedenheiten unter den Kasachen ineffektiv und wurden mit Taukes Tod abgebrochen. Vgl. Howorth: History of the Mongols, S. 642 und Blackwood's Edinburgh Magazine, January-June 1841.
  2. Der Name stammt aus der Regententabelle bei Paul Georg Geiss, Pre-Tsarist and Tsarist Central Asia: Communal Commitment and Political Order in Change. - London, New York: RoutledgeCurzon Press, 2003, S. 114. Bei Howorth: History of the Mongols, S. 640 folgt allerdings nach Jahangir dessen Sohn Tawke.

Literatur

  • Michael Fergus, Janar Jandosova: Kazakhstan: Coming of Age, 2003
  • Fischer Weltgeschichte: Zentralasien
  • Henry Hoyle Howorth: History of the Mongols from the 9th to the 19th Century. Part 2. The So-Called Tartars of Russia and Central Asia. London 1880

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