Katholisches Milieu

Katholisches Milieu

Katholisches Milieu ist ein Begriff der neueren Geschichtswissenschaft. Er bezieht sich vor allem auf die Zeit des 19. Jahrhunderts und das beginnende 20. Jahrhundert. Von Bedeutung ist er insbesondere im Bereich der historischen Wahlforschung und der (historischen) Untersuchung der politischen Kultur. In die deutsche Diskussion im Kontext kulturhistorischer Forschung wurde der Begriff in den 1960er Jahren von Mario Rainer Lepsius eingeführt, konnte aber erst in den 1980/90er Jahren mit der Aufnahme kulturgeschichtlicher Ansätze in der Sozial- und Gesellschaftsgeschichte an Bedeutung gewinnen.

Katholizismus in Deutschland

Nicht zuletzt zur Untersuchung der katholischen Gesellschaft hat sich in den letzten Jahren der Milieubegriff zu einem der zentralen sozial- und kulturgeschichtlichen Analyseinstrumente entwickelt und hat in gewisser Weise einen ökonomisch verengten Interessen- und Klassenbegriff abgelöst. Anstelle von linearen Erklärungsmustern sozialer Prozesse entlang sozioökonomischer Determinismen trat eine soziokulturelle Überformung von sozialökonomischen, regionalen, konfessionellen und anderen Dispositionen.

Das katholische Milieu war zunächst und vor allem vornehmlich lokal, parochial auf die Kirchengemeinde ausgerichtet. Zentrale Bindekraft war der vom Klerus vermittelte Glauben, gestützt und verfestigt in der Ritualisierung der Alltagswelt. Dazu gehörte der regelmäßige Gottesdienstbesuch, die Teilnahme an den von Zeit zu Zeit stattfindenden „Volksmissionen“, die Beteiligung an Prozessionen, Wallfahrten und anderen Frömmigkeitsübungen.

Das „katholische Milieu“ als historischer Begriff ist jedoch nicht mit dem Begriff der katholischen Konfession zu verwechseln, obwohl die Beziehungen natürlich groß sind.

Die Milieubildung war nicht zuletzt ein Ergebnis primär politischer Vorgänge in der deutschen Innenpolitik. So tat sich das ursprünglich protestantische Preußen schwer, die Einwohner der katholischen Gebiete in den neuen Westprovinzen Rheinland und Westfalen zu integrieren, weil die staatskirchlichen Ansprüche Preußens im Gegensatz zum katholischen Selbstverständnis standen. Ein erster Höhepunkt des Konflikts zwischen Kirche und Staat waren in den 1830er Jahren die sogenannten Kölner Wirren. Erst die staatliche Verfolgung, die bereits seit dem Vormärz Demokraten, Sozialisten und Katholiken traf und ihren Höhepunkt im Kulturkampf und in den Sozialistengesetzen erreichte, führte zu den starken Solidarisierungseffekten, die trotz innerer Heterogenität lange Zeit wirksam blieben. Die deutschen Katholiken erlebten die Anfänge des Deutschen Reichs als ein Staatsgebilde, das sie benachteiligte, diskriminierte und die „berechtigten Interessen“ ihrer Kirche missachtete. So wurde der Kampf mit dem protestantisch geprägten Staat zur wichtigsten Grundlage der interessenmäßigen Formierung des katholischen Milieus.

Nach dem Ende des Kulturkampfes ließ seit den 1890er Jahren die innere Bindekraft allmählich nach. Während das katholische Milieu nach außen – vor allem gegenüber der „gottlosen“ Sozialdemokratie – noch immer geschlossen auftrat, vollzogen sich im Inneren spannungsreiche Differenzierungsprozesse. Dabei bildeten sich zum Teil entlang sozialer Bruchlinien gewisse Strömungen heraus, die mit der Zeit ein immer stärkeres Eigengewicht bekamen. So gab es einen städtisch-bürgerlichen Flügel, einen populistischen Flügel vor allem aus Kleinbauern und Handwerkern, einen konservativen (groß-)agrarisch-aristokratischen Flügel und einen immer stärker werdenden Arbeiterflügel.

In den Industriegebieten und Großstädten reichte die vor allem religiös vermittelte Milieubindung bald nicht mehr aus, um die zuwandernden Arbeiter in das lokale Milieu zu integrieren. Vor allem in diesen Gebieten entwickelte sich daher ein „nachgeschobenes“ Verbandsmilieu. Dazu zählte etwa der Volksverein für das katholische Deutschland, die katholischen Arbeitervereine und trotz ihrer Überkonfessionalität auch die christlichen Gewerkschaften. Hinzu kamen Verbände für Jugendliche, Frauen und zahlreiche andere Gruppen. Auf Hochschulebene formierten sich als Gegengewicht zu den schlagenden Corps und Burschenschaften vermehrt nichtschlagende katholische Studentenverbindungen, namentlich der CV und der KV. Die Reichweite der Vereine und Verbände zusammen mit den traditionellen Gebetsbruderschaften und ähnlicher Gruppierungen war schließlich so dicht, dass man durchaus zu Recht von einer Organisation von der Wiege bis zur Bahre spricht.

Gleichwohl begann die Bindungskraft des Milieus im 20. Jahrhunderts allmählich nachzulassen. Gründe waren der langfristige Säkularisierungsprozess, neue Freizeitangebote, die Auswirkungen der Nationalsozialistischen Diktatur und schließlich das Wirtschaftswunder sowie die neuen Medien nach dem zweiten Weltkrieg. Auch die Auswirkungen des 2. Vatikanischen Konzils trugen zur allmählichen Auflösung des Milieus bei. Allerdings zeigt etwa das langfristige Wahlverhalten in katholischen Regionen, wie stark der Einfluss des katholischen Milieus auch heute noch ist.

Identität, Inferiorität und Intransigenz

Beginnend mit dem Pontifikat des Papstes Pius IX. hat das Papsttum seinen Charakter als universale spirituelle Instanz inmitten der modernen Zivilisation ausgeprägt. Der Verlust des Kirchenstaates einerseits und die Definition von Unfehlbarkeit und Primat des Papstes andererseits zwangen zu klareren Konturen der katholischen Identität inmitten der Nationen.

Mit besonderer Deutlichkeit in Deutschland, aber auch in katholischen Nationen wie Frankreich oder Italien, fühlten sich die frommen Katholiken in einer „minderwertigen“ Situation gegenüber dem aufstrebenden Bürgertum; im Bismarckreich befanden sich die katholischen Gläubigen überdies auch in der Minderzahl. Diese Inferiorität bewirkte eine starke Identifikation der „Herde“ mit dem „Hirten“ in Rom.

Insoweit fand die Intransigenz (Unnachgiebigkeit) des kirchlichen Lehramts gegenüber den Neuerungen des 19. Jahrhunderts den Beifall der frommen Massen. Vom intellektuellen Standpunkt aus betrachtet, mag es zu bedauern sein, dass „Rom“ sich nicht zügiger mit wissenschaftlichem Fortschritt, demokratischen Staatsideen und religiöser Toleranz anfreunden konnte. Das Papsttum argumentiert jedoch immer im Interesse der „größeren Zahl“ und gerade der „kleinen Leute“. Von diesem Standpunkt aus betrachtet: Es wäre wahrscheinlich nicht zu verantworten gewesen, einer noch zu euphorischen, selbstgewissen und sogar mitunter inhumanen „Modernität“ nachzugeben, zu deren bösen Früchten, neben viel Fortschritt, auch die Kriege und humanitären Katastrophen des 20. Jahrhunderts gehören.

Literatur

  • Arbeitskreis für kirchliche Zeitgeschichte: Das katholische Milieu als Forschungsaufgabe; in: Westfälische Forschungen 43 (1993); S. 588–654.
  • Michael Hirschfeld: Katholisches Milieu und Vertriebe. Eine Fallstudie am Beispiel des Oldenburger Landes 1945–1965. Dissertation. Köln / Weimar / Wien 2002. 620 S.
  • Doris Kaufmann: Katholisches Milieu in Münster 1928–1933. Politische Aktionsformen und geschlechtsspezifische Verhaltensräume; Düsseldorfer Schriften zur Neueren Landesgeschichte und zur Geschichte Nordrhein-Westfalens, 14; Düsseldorf 1984
  • Arnold Klein: Katholisches Milieu und Nationalsozialismus. Der Kreis Olpe 1933–1939; 1995
  • Michael Klöckner: Das katholische Milieu. Grundüberlegungen – in besonderer Hinsicht auf das Deutsche Kaiserreich von 1871; in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 44 (1992), S. 241–262
  • M. Rainer Lepsius: Parteiensystem und Sozialstruktur: Zum Problem der Demokratisierung der Deutschen Gesellschaft; in: Gerhard A. Ritter (Hrsg.): Deutsche Parteien vor 1918; Köln, 1973; S. 56–80
  • Antonius Liedhegener: Marktgesellschaft und Milieu. Katholiken und katholische Regionen in der wirtschaftlichen Entwicklung des Deutschen Reiches 1895–1914; in: Historisches Jahrbuch 113 (1993), 1. Halbband; S. 283–354
  • Karl-Egon Lönne: Katholizismusforschung; in: GG 1/2000; S. 128–170
  • Wilfried Loth: Integration und Erosion: Wandlungen des katholischen Milieus in Deutschland; in: Wilfried Loth (Hrsg.): Deutscher Katholizismus im Umbruch zur Moderne; Konfession und Gesellschaft, 3; Stuttgart, Berlin, Köln 1991; S. 266–281
  • Medien-Dienstleistungs GmbH: „Religiöse und kirchliche Orientierungen in den Sinus-Milieus 2005“: Milieuhandbuch; München: MDG, 2005
  • Hans-Jürgen Smula: Milieus und Parteien. Eine regionale Analyse der Interdependenz von politisch-sozialen Milieus, Parteiensystem und Wahlverhalten am Beispiel des Landkreises Lüdinghausen 1919 bis 1933; Münster 1987
  • Maria Anna Zumholz: Volksfrömmigkeit und Katholisches Milieu – Marienerscheinungen in Heede 1937–1940 im Spannungsfeld von Volksfrömmigkeit, nationalsozialistischem Regime und kirchlicher Hierarchie; Schriften des Instituts für Geschichte und Historische Landesforschung, 12; Cloppenburg 2004 (Entstehung und Ausprägung des katholischen Milieus im Emsland)
  • Maria Anna Zumholz: Das Emsland – ein antisemitisches katholisches Regionalmilieu?; in: Studiengesellschaft für Emsländische Regionalgeschichte (Hrsg.): Emsländische Geschichte, Bd. 12; Haselünne 2005; S. 72–132.
  • Maria Anna Zumholz: Anpassung – Verweigerung – Widerstand? Katholisches Milieu im Emsland 1933–1945; in: Emsländische Geschichte, Bd. 13; Haselünne 2006; S. 22–104
  • Carsten Wippermann und Marc Calmbach: Lebenswelten von katholischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Grundorientierung, Vergemeinschaftung, Engagement, Einstellung zu Religion/Kirche vor dem Hintergrund der Sinus-Milieus 2007. Heidelberg: Sinus Sociovision 2007.

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