Kirchentheorie

Kirchentheorie

Der Begriff Kirchentheorie ist ein seit Beginn des 20. Jahrhunderts verwendeter Begriff für ein spezifisches theologisches Selbstverständnis von Kirche hinsichtlich ihrer Organisationsgestalt und funktionalen Aufgaben. Der Begriff hat dabei verschiedene Umdeutungen erfahren. In den aktuellen Diskussionen um das Bild und das Selbstverständnis von evangelischen Kirchen erlebt der Begriff der Kirchentheorie in bewusster Abgrenzung zur Ekklesiologie erneut eine Neuinterpretation durch die Vernetzung mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen wie Betriebswirtschaft, Organisationslehre, Geographie oder Soziologie.

Inhaltsverzeichnis

Die ältere Debatte – Kirchentheorie als negativer Abgrenzungsbegriff (um 1900)

Der Begriff „Kirchentheorie“ wurde erstmals im Zusammenhang mit der Modernismusdebatte des Katholizismus Ende des 19. bzw. Anfang des 20. Jahrhunderts verwendet. Als Klassifizierung des Kirchenverständnisses der „Modernisten“ ist der Begriff bei den katholischen Antimodernisten nachweisbar. Als Gegner wird von den Antimodernisten einerseits der protestantisch-theologische „Modernismus“ mit Adolf von Harnack („Wesen des Christentums“) angesehen. Andererseits wird seitens der katholischen Amtskirche die katholische Reformbewegung des Modernismus mit dem Begriff „Kirchentheorie“ negativ belegt. Die negative Abgrenzung des Begriffs liegt in der innerweltlichen Interpretation von Kirche. Diese Vorstellung von einer innerweltlichen Organisation Kirche wurde seitens Papst Pius X. in der Enzyklika Pascendi von 1907 mit dem seinerzeitigen Schmähgriff „Modernisten“ disqualifiziert. Die negative Deutung führt in der katholischen Kirche 1910 zum Antimodernisteneid, der von katholischen Klerikern bis 1967 abgelegt werden musste.

Diese Negativdeutung der „Kirchentheorie“ wurde jüngst von Papst Benedikt XVI. in seiner Regensburger Rede vom 12. September 2006 konkret wieder aufgegriffen und als zweites der drei grundlegenden Problemfelder der „Ent-Hellenisierung“ des Christentums (mit Nennung des evangelischen Theologen Adolf von Harnack) ausgeführt. Die damit aktuell erneuerte katholische Abgrenzung wurde aber aufgrund der Debatten um das so genannte Papstzitat von Regensburg kaum diskutiert.

Positive Deutung: Funktionale Kirchentheorie (um 1970)

Erst in den 1960er Jahren und besonders seit ca. 1970 findet der Begriff in der theologischen sowie kirchlichen Landschaft erneut häufige Verwendung. Dagegen tritt der Gebrauch des Begriffs Ekklesiologie stärker zurück. In Anlehnung an die gesellschaftstheoretischen Debatten (Gesellschaftstheorie, Institutionentheorie, „Organisationstheorie“, „Staatstheorie“ oder auch „Systemtheorie“) entsteht der Begriff Kirchentheorie neu. Er erhält eine positive Umdeutung. Eine Gruppe von Personen um Karl-Wilhelm Dahm beschäftigte sich intensiv mit der Suche nach einem positiven Begriff der einerseits eine dogmatisch-ekklesiologische Engführung vermied als auch sich von einer gesellschaftspolitischen Ausrichtung einvernehmen ließ. Als Geburtsstunde des Begriffs „Kirchentheorie“ in seiner soziologisch-funktionalen Dimension wird das Buch „Beruf: Pfarrer“ des Soziologen und Theologen Karl-Wilhelm Dahm angesehen. Das im Herbst 1971 erschienene Buch etablierte die „funktionale Theorie des kirchlichen Handelns“. Obgleich Dahm den Begriff „Kirchentheorie“ intern schon ausführte und mit ihm als Person identifiziert wurde, verwendet er den Begriff selbst nicht in seinem Buch. Seine Theorie wurde aber sofort als „funktionale Kirchentheorie“ rezipiert. Mit Dahms „funktionaler Theorie kirchlichen Handelns“ erhielt der Begriff „Kirchentheorie“ eine programmatische Ausrichtung, die geeignet war, einerseits eine theologische Position (Lebensbegleitung und Wertevermittlung) und andererseits eine soziologische Variante (soziologisch-empirische Beschreibung von Kirche) über die inhaltlich bestimmte Adjektivjunktion „funktional“ angemessen auszusagen. Diese Verbindung wurde als „funktionale Kirchentheorie“ tragfähige Alternative zu bisherigen ekklesiologischen Kirchenmodellen.

Kirchentheorie in der aktuellen Diskussion

Reiner Preul: Kirchentheorie (1997)

Reiner Preul veröffentlichte 1997 die erste Monografie mit dem Titel "Kirchentheorie". Darin wird der praktisch-theologischen Versuch unternommen, kybernetisches Gedankengut und systemtheoretische Begrifflichkeiten in eine ekklesiologische Gedankenwelt einzuführen. Er siedelt Kirchentheorie als Bindeglied zwischen Praktischer und Systematischer Theologie an.

Aktuelle Facetten der Kirchentheorie

Seit Preul wurden unterschiedliche Versuche unternommen, Kirche in ihrer Verbindung zwischen soziologischer Gestalt und theologischer Verortung zu beschreiben. Die verschiedenen Zugänge zur vorfindlichen Kirchen bzw. zu kirchlichen Anforderungen in der Welt sind seither weder in ihrem Zugangsverständnis homogen noch nach einer einheitlichen Methodik entwickelt und auch nicht auf soziologische Aspekte beschränkt. Folgende Zugänge sind nachweisbar:

  • Betriebswirtschaftlicher (Becker, 1995; McKinsey, 1996),
  • Ökumenischer (Scherle, 1998),
  • Städtischer (Löwe, 1999),
  • Kontextueller (Anselm, 2000),
  • Berufssoziologischer (Karle, 2001), oder
  • Geografischer Zugang (Scherz, 2005).

Die Analysen und Bewertungen der „empirischen Kirche“ ergeben sich häufig aufgrund von festgestellten Frakturen zwischen (kirchen-) theoretischen Vorstellungen und empirischen Praxiserfahrungen. Diese Brüche werden beschrieben u. a. als Konflikt zwischen Parochie und NichtParochie , als Diskrepanz zwischen Mitgliedermobilität und Stadtgemeinden , als differierende Interessen (z. B. evangelikale zu evangelischen, Bildungs- zu Hauskreisinteressenten) unterschiedlicher Mitgliedergruppen innerhalb einer Kirchengemeinde , als Minderheitenkirche in Ostdeutschland oder auch als Profilkrise .

Inhaltliche Deutungsansätze des Begriffs „Kirchentheorie“

Es lassen sich heute mindestens vier Aspekte der Kirchentheorie unterscheiden:

  1. Zunächst ist der Begriff eine Abgrenzung zu dem dogmatischen Begriff „Ekklesiologie“. Die Sozialgestalt der Kirche als Institution oder als Organisation tritt in den Fokus der Betrachtung. Kirche wird somit zu einer fassbaren Einheit, die mittels Beobachtungs-, Mess- und hermeneutischen Methoden hinsichtlich ihrer Funktionen, Strukturen und Ausprägungen erfasst und beschrieben werden kann
  2. Kirchentheorie versucht, Antworten auf die strategische Frage nach den innerweltlichen Funktionen der Kirche zu geben. Welche Aufgaben und Funktionen hat Kirche in der Welt bzw. Gesellschaft wahrzunehmen? Diese zweite Intention wirft die Kirchenorganisation auf ihre eigenen Strukturen und Prozesse zurück. Sie fragt nach dem Ziel kirchlicher Praxis und wird zu einer planerischen bzw. strategischen Komponente der Kirchentheorie. Kirchliche Funktionen und Aufgaben sind aber ursächlich mit den Berufsfunktionen (primär: Pfarrberuf) innerhalb der Kirchenorganisation verbunden.
  3. Kirchentheorie ist immer auch in der Verbindung zu den Aufgabenstellung der kirchlichen Berufsfunktionen (z.B. pastorale, pädagogische, verwaltende) verbunden. Dahms Kirchentheorie etabliert sich über den Beruf des Pfarrers. Heute dürften alle Berufe der Kirche und ihre kirchentheoretischen/-praktischen Funktionen in einer Konzeption zur Theorie von Kirche zu entwerfen sein, um dem eigenen und gesellschaftlichen Anspruch zu genügen.
  4. Die Diskussion um eine Kirchentheorie offenbart letztlich ein grundlegendes theologisches Wissenschaftsproblem. Mit der Kirchentheorie erhalten empirische Methoden der Sozialforschung gleichrangigen Zugang zur Kirche wie die hermeneutischen Methoden. Die Hermeneutik ist bisher noch die Leitmethode theologischer Wissenschaft. Auch wenn sie erst maximal 100 Jahre in dieser Form etabliert ist, scheint ein Paradigmenwechsel anzustehen. Mit Thomas Kuhn Hinweis auf die Formen einer wissenschaftlichen Revolution kann von einer außerordentlichen Wissenschaftsphase in der Theologie gesprochen werden, der sich am Forschungsgegenstand Kirche offenbart.

Somit eröffnen sich auch die neuen „Richtungen“ für kirchentheoretische Ansätze, die sich durch sozioempirische Wirklichkeitszugänge mit den neusten Sozial- und Gesellschaftstheorien (z.B. „Kirche als Netzwerkorganisation“) ergeben.

Literatur

  • Reiner Anselm: Ekklesiologie als kontextuelle Dogmatik, Göttingen 2000
  • Dieter Becker: Die Herausforderung der Zukunft – Anregungen für eine marktwirtschaftliche Kirchenstruktur, in: DtPfrBl 10/1995, 647-650
  • Dieter Becker: Kirchentheorie, in Pastoraltheologie 7/2007, S. 274-290 http://www.agentur-aim.com/kirchentheorie.pdf
  • Michael Beintker: Artikel „Ekklesiologie“, in: RGG 4. Auflage, Bd. 2, Tübingen 1999, 1183.
  • Karl-Wilhelm Dahm: Beruf: Pfarrer, München 1971; 2. Aufl. 1972; 3. Aufl. 1974.
  • Adolf v. Harnack : Das Wesen des Christentums, Leipzig (1. Aufl. 1900) 2. Aufl. 1902.
  • Isolde Karle: Der Pfarrberuf als Profession, Gütersloh 2. Aufl. 2001
  • Frank Löwe: Das Problem der Citykirchen unter dem Aspekte der urbanen Gemeindestruktur, Münster 1999.
  • Uta Pohl-Patalong: Ortsgemeinde und übergemeindliche Arbeit im Konflikt. Eine Analyse der Argumentationen und ein alternatives Modell, Göttingen 2003.
  • Reiner Preul: Kirchentheorie, Berlin-New York 1997.
  • Peter Scherle: Fragliche Kirche: Ökumenik und Liturgik – Barths unerhörte Anfrage an eine ökumenische Kirchentheorie, Münster 1998
  • Peter Scherle: Kirchentheorie in der Praxis, in: Herborner Beiträge – Band 1, Zur Theologie der Praxis, hg. v. Theologischen Seminar Herborn, Frankfurt a. M. 2002, 10-30.
  • Florian Scherz: Kirche im Raum. Kirchliche Raumplanung zwischen theologischer Re-flexion und konkreter Gestaltung, Gütersloh 2005

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