Klassenjustiz

Klassenjustiz

Der Begriff Klassenjustiz wird unter anderem[1] von Marxisten zur Charakterisierung der Justiz als Instrument der Klasse der Herrschenden (Kapitalisten) im Klassenkampf zur Aufrechterhaltung der Klassengesellschaft bezeichnet. Im real existierenden Sozialismus wurde der Begriff der Klassenjustiz als Beschreibung der eigenen Justiz hingegen positiv verwendet. Im demokratischen Rechtsstaat gilt der Gleichheitsgrundsatz, der eine Klassenjustiz im Sinne einer unterschiedlichen rechtlichen Behandlung Angehöriger unterschiedlicher Klassen formal verbietet. Dass der finanziell und bildungsmäßig schlechter Gestellte in einem Strafverfahren auch in demokratischen Rechtsstaaten erhebliche Nachteile haben kann, ist unterdessen vielfach belegt worden. Der Vorwurf der Klassenjustiz wird auch in der Politik erhoben, um einzelne Ergebnisse der Rechtsprechung zu kritisieren.

Inhaltsverzeichnis

Recht und Justiz im Marxismus

Nach Karl Marx wäre seit Denkern wie Machiavelli, Hobbes, Spinoza, „die Macht als Grundlage des Rechtes dargestellt worden ...; womit die theoretische Anschauung der Politik von der Moral [emanzipierte].“ Im achtzehnten und 19. Jahrhundert wäre „das gesamte Recht auf das Privatrecht ... und dies auf eine ganz bestimmte Macht, die Macht der Privateigentümer, reduziert“ worden.[2]

Marx stellt in der Kritik des Gothaer Programms die Frage, ob die ökonomischen Verhältnisse durch Rechtsbegriffe geregelt werden, oder ob nicht umgekehrt die Rechtsverhältnisse aus den ökonomischen entspringen.[3] Nach Marx Theorie ist die Justiz ein Teil des gesellschaftlichen „Überbaus“, der sich aus der ökonomischen Basis erhebt. Das Recht kann demnach „nie höher sein als die ökonomische Gestaltung und dadurch bedingte Kulturentwicklung der Gesellschaft.“[4]

„Die Gesamtheit [der] Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, [welchem] bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen.“[5]

Der „Standpunkt der juristischen Illusion“ betrachte „nicht das Gesetz als Produkt der materiellen Produktionsverhältnisse, sondern umgekehrt die Produktionsverhältnisse als Produkt des Gesetzes.“[6]

Nach Marx könne das Recht „seiner Natur nach nur in Anwendung von gleichem Maßstab bestehn“, die ungleichen Individuen, dies sind die Menschen nach Marx, „sind nur an gleichem Maßstab meßbar, soweit man sie unter einen gleichen Gesichtspunkt bringt, sie nur von einer bestimmten Seite faßt, … von allem andern absieht.“ Gleiches Recht wäre in der kapitalistischen Produktion ungleiches Recht.[7] Diese Missstände wären auch in der ersten Phase der kommunistischen Gesellschaft unvermeidbar, „wie sie eben aus der kapitalistischen Gesellschaft nach langen Geburtswehen hervorgegangen ist.“[7]

„[Erst in einer] höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Produktivkräfte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen - erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“[7]

Klassenjustiz im Realsozialismus

Dem Zitat Kurt Tucholskys folgend: »Ich habe ja nichts gegen die Klassenjustiz. Mir gefällt nur die Klasse nicht, die sie macht. Und daß sie noch so tut, als sei das Zeug Gerechtigkeit – das ist hart und bekämpfenswert.«, wurde die Justiz im Realsozialsmus in den Dienst der Partei gestellt.

Auch das Strafrecht sollte dazu dienen, dass „die Arbeiterklasse“ „den Aufbau des Sozialismus“ vollendet (Eingangssatz des DDR-Strafgesetzbuchs).

Neben einer Vielzahl von Strafvorschriften, die dem Rechtsstaatsprinzip nicht entsprachen, war vor allem die Rechtspraxis ein wirksames Mittel, den angestrebten Zwang auszuüben. Um der Klassenzugehörigkeit statt dem Gesetz verstärkte Wirkung zu verschaffen, diente vor allem der Einsatz von Laienrichtern. Bereits in der ersten Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik forderte der Art. 130: „An der Rechtsprechung sind Laienrichter im weitesten Umfange zu beteiligen“.

In der Weimarer Republik

Der Justiz der Weimarer Republik wird vielfach der Vorwurf gemacht "auf dem rechten Auge blind" gewesen zu sein, d.h. Taten rechtsextremer Straftäter milde, diejenigen der Linksextremen jedoch mit der vollen Härte des Gesetzes verfolgt zu haben. Besonders deutlich wird das an der Emil Julius Gumbel in seinem Buch Vier Jahre politischer Mord aufgestellten Statistik, die deutlich macht, dass die Höhe der Strafen von linken Straftätern ein Vielfaches jener von rechts ausmacht.

Ein Grund hierfür war, dass die Beamten- und Richterschaft nach dem Ende des Kaiserreichs nicht entlassen wurden sondern in ihren Ämtern verblieben. Die Richter standen in der Mehrheit konservativen politischen Positionen nahe. So sprachen in der Weimarer Republik Richter Recht, die vorher noch Sozialdemokraten bekämpft hatten.

Von linker Seite wurde der Justiz der Weimarer Republik daher vielfach der Vorwurf der Klassenjustiz gemacht.

Vorwurf der Klassenjustiz in der Bundesrepublik

Artikel 3 des Deutschen Grundgesetzes garantiert die Gleichheit vor dem Gesetz: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ Ob es in der Bundesrepublik Klassenjustiz dennoch gibt ist fraglich. Der Begriff Klassenjustiz wird in der Rechtswissenschaft nicht diskutiert, weil es sich um keinen juristischen Fachausdruck handelt, sondern um ein politisches Schlagwort. Insbesondere gibt es keine Vorschläge, wie man über die bisher eingeführten Maßnahmen zur Vermeidung einer Klassenjustiz (Unabhängigkeit der Richter, Prozesskostenhilfe etc.) hinaus eine denkbare Bevorzugung einzelner Gruppen (insbesondere der Vermögenden) bekämpfen könnte. Verwendet wird der Begriff von Journalisten, Bürgern der DDR, die sich kritisch mit der heutigen BRD auseinandersetzen und anderen Personen, die von einem marxistischen Standpunkt aus Gesellschaftskritik treiben.

Eine bedeutendere Rolle spielte der Vorwurf der Klassenjustiz nach dem Untergang der DDR. Vorgeworfen wurde, dass der deutsche Staat die ehemaligen Anhänger des DDR-Regimes ungleich härter verfolge als die Handlanger von Nazi-Deutschland (siehe hierzu auch Bestrafung nationalsozialistischer Verbrechen). Aber auch bei der Strafverfolgung des Altkanzlers Helmut Kohl nach der CDU-Spendenaffäre von 1998 und im Mannesmann-Prozess von April 2004 bis November 2006 hörte man diesen Vorwurf. Im Jahre 2009 bezeichneten der Vize-Präsident des Deutschen Bundestages Wolfgang Thierse (SPD) und andere SPD-Politiker in Interviews sowie siebzehn namhafte ehemalige DDR-Bürgerrechtler in einem offenen Brief die fortlaufende Rechtsprechung der Arbeitsgerichtsbarkeit zur Verdachtskündigung als Klassenjustiz. Anlass dafür waren der Fall Emmely und ähnlich gelagerte.

Literatur

Zur marxistischen Verwendung des Begriffs

  • Rechtsstaat und Klassenjustiz : Texte aus der sozialdemokratischen "Neuen Zeit" 1883 - 1914, hrsg. und mit einem Anh. vers. von Detlef Joseph, Freiburg [Breisgau] [u.a.] : Haufe, 1996
  • Ernst Fraenkel: Zur Soziologie der Klassenjustiz, Berlin 1927, auch in: ders., Gesammelte Schriften, Band 1, Recht und Politik in der Weimarer Republik, hrg. von Hubertus Buchstein, Baden-Baden: Nomos, 1999, S. 177-211
  • Hilde Benjamin: Karl Liebknecht zum Wesen und zu Erscheinungen der Klassenjustiz. Akademie für Staats- u. Rechtswissenschaften der DDR, Potsdam-Babelsberg 1976.
  • Friedrich K. Kaul: … ist zu exekutieren! Ein Steckbrief der deutschen Klassenjustiz. Verlag Neues Leben, Berlin 2006, ISBN 978-3-355-01724-4.

Zur Klassenjustiz im Realsozialismus

  • Dr. Hermann Wentker: Die Errichtung der Klassenjustiz nach 1945 in der SBZ/DDR in diktaturvergleichender Perspektive. Institut für Zeitgeschichte, Außenstelle Potsdam.
  • Petra Weber: Justiz und Diktatur: Justizverwaltung und politische Strafjustiz in Thüringen 1945-1961. In: Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte. Bd. 46, München 2000.
  • Hermann Wentker (Hrsg.): Volksrichter in der SBZ/DDR 1945 bis 1952. Eine Dokumentation. München 1997.

Zur politischen Verwendung des Begriffs

  • Friedrich-Martin Balzer (Hrsg.): Justizunrecht im Kalten Krieg. Die Kriminalisierung der westdeutschen Friedensbewegung im Düsseldorfer Prozess 1959/60. PapyRossa Verlag, Köln 2006, ISBN 3-894383-41-0.
  • Heinrich Hannover: Die Republik vor Gericht 1954-1975. Erinnerungen eines unbequemen Rechtsanwalts. Aufbau-Verlag, Berlin 1998, ISBN 3-351024-80-0.
  • Heinrich Hannover:Die Republik vor Gericht 1975-1995. Erinnerungen eines unbequemen Rechtsanwalts. Aufbau Verlag, Berlin 1999. ISBN 3351024819

Zur historischen Dimension in Großbritannien

  • Peter Linebaugh: The London Hanged. Crime and Civil Society in the Eighteenth Century. Verlag Verso, London 2003, ISBN 1-85984-638-6.
Analyse der britischen Justiz des 18. Jahrhunderts in Bezug auf die Sozialstruktur der Verurteilten; Rezension unter [8]
Einzelnachweise
  1. Die Welt-Online: Urteil im Lustreisen-Prozess Ex-VW-Betriebsrat Volkert muss hinter Gitter
  2. Vgl. Marx, Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3: 304
  3. Marx, Kritik des Gothaer Programms, MEW 19: 18
  4. Marx, Kritik des Gothaer Programms, MEW 19: 18
  5. Marx, Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13: 8f.
  6. Marx, Das Kapital I, MEW 23: 643 Anm. 73
  7. a b c Vgl. Marx, Kritik des Gothaer Programms, MEW 19: 21
  8. geschichte-transnational: Rezension zu: Peter Linebaugh: The London Hanged. …

Weblinks


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