- Kurt Tucholsky
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Kurt Tucholsky (* 9. Januar 1890 in Berlin; † 21. Dezember 1935 in Göteborg) war ein deutscher Journalist und Schriftsteller. Er schrieb auch unter den Pseudonymen Kaspar Hauser, Peter Panter, Theobald Tiger und Ignaz Wrobel.
Tucholsky zählte zu den bedeutendsten Publizisten der Weimarer Republik. Als politisch engagierter Journalist und zeitweiliger Mitherausgeber der Wochenzeitschrift Die Weltbühne erwies er sich als Gesellschaftskritiker in der Tradition Heinrich Heines. Zugleich war er Satiriker, Kabarettautor, Liedtexter, Romanautor, Lyriker und Kritiker (Literatur, Film, Musik[1]). Er verstand sich selbst als linker Demokrat, Sozialist,[2] Pazifist und Antimilitarist und warnte vor rechten Tendenzen – vor allem in Politik, Militär und Justiz – und vor der Bedrohung durch den Nationalsozialismus.
Inhaltsverzeichnis
Leben
Kindheit, Jugend, Studium
Kurt Tucholskys Elternhaus, in dem er am 9. Januar 1890 zur Welt kam, steht in der Lübecker Straße 13 in Berlin-Moabit. Seine frühe Kindheit verbrachte er jedoch in Stettin, wohin sein Vater aus beruflichen Gründen versetzt worden war. Der jüdische Bankkaufmann Alex Tucholsky (1855–1905) hatte 1887 seine Cousine Doris Tucholski (1869–1943) geheiratet, mit der er drei Kinder hatte: Kurt, ihren ältesten Sohn, sowie Fritz und Ellen. 1899 kehrte die Familie nach Berlin zurück.
Während Tucholskys Verhältnis zu seiner Mutter zeitlebens getrübt war, liebte und verehrte er seinen Vater sehr. Alex Tucholsky starb bereits 1905, er hinterließ seiner Frau und den Kindern ein beachtliches Vermögen, das seinem ältesten Sohn gestattete, ohne finanzielle Sorgen sein Studium aufzunehmen.
Kurt Tucholsky war 1899 im Französischen Gymnasium Berlin eingeschult worden. 1903 wechselte er auf das Königliche Wilhelms-Gymnasium, das er 1907 verließ, um sich mit einem Privatlehrer auf das Abitur vorzubereiten. Nach dem Externen-Abitur im Jahre 1909 begann er im Oktober desselben Jahres ein Jurastudium in Berlin, dessen zweites Semester er im Frühjahr 1910 an der Universität Genf absolvierte.
Tucholskys Interesse galt auch während des Studiums vor allem der Literatur. So reiste er mit seinem Freund, dem Zeichner Kurt Szafranski, im September 1911 nach Prag, um den von ihm geschätzten Schriftsteller und Kafka-Freund Max Brod mit einem Besuch und einer selbst gebastelten Miniaturlandschaft zu überraschen. Nach einer Begegnung mit Franz Kafka notierte dieser am 30. September 1911 über Tucholsky in seinem Tagebuch:
„… ein ganz einheitlicher Mensch von 21 Jahren. Vom gemäßigten und starken Schwingen des Spazierstocks, das die Schulter jugendlich hebt, angefangen bis zum überlegten Vergnügen und Mißachten seiner eigenen schriftstellerischen Arbeiten. Will Verteidiger werden …“
Zu einer juristischen Karriere kam es jedoch nicht. Da Tucholsky gegen Ende seines Studiums bereits sehr stark journalistisch engagiert war, verzichtete er 1913 darauf, die erste juristische Staatsprüfung abzulegen. Dies kam einem Verzicht auf eine mögliche Karriere als Anwalt gleich. Um dennoch einen Studienabschluss zu erlangen, bat er im August 1913 bei der Universität Jena um Zulassung zur Promotion.
Erste Erfolge als Schriftsteller
Bereits während seiner Zeit als Schüler hatte Tucholsky seine ersten journalistischen Arbeiten verfasst. Die satirische Wochenzeitschrift Ulk hatte 1907 den kurzen Text Märchen gedruckt, in dem sich der 17-Jährige über den Kunstgeschmack Kaiser Wilhelms II. lustig gemacht hatte. Während des Studiums intensivierte er seine journalistische Tätigkeit, unter anderem für das sozialdemokratische Parteiorgan Vorwärts. Für die SPD zog er 1911 in den Wahlkampf.
Mit Rheinsberg: Ein Bilderbuch für Verliebte (kurz: Rheinsberg) veröffentlichte Tucholsky 1912 eine Erzählung, in der er einen für die damalige Zeit ungewohnt frischen, verspielt-erotischen Ton anschlug und die ihn erstmals einem größeren Publikum bekannt machte. Um den Absatz des Buches zu fördern, eröffnete Tucholsky zusammen mit Szafranski, der die Erzählung illustriert hatte, auf dem Berliner Kurfürstendamm eine Bücherbar. Jeder Käufer bekam dort zusätzlich zu seinem Buch noch einen Schnaps eingeschenkt. Der Studentenulk wurde jedoch nach wenigen Wochen wieder eingestellt.
Viel längerfristig sollte dagegen ein Engagement werden, das Tucholsky Anfang 1913 begann. Am 9. Januar 1913 erschien sein erster Artikel in der linksliberalen Theaterzeitschrift Die Schaubühne, dem später in Die Weltbühne umbenannten Wochenblatt des Publizisten Siegfried Jacobsohn der, bis zu seinem Tod, Tucholskys Mentor und Freund blieb. In dem Lebenslauf, den Tucholsky zwei Jahre vor seinem Tod in Schweden verfassen sollte, schrieb er über dieses besondere Verhältnis: „Dem im Jahre 1926 verstorbenen Herausgeber des Blattes, Siegfried Jacobsohn, verdankt Tucholsky alles, was er geworden ist.“ In jeder Ausgabe der Schaubühne erschienen üblicherweise zwei bis drei Artikel von Tucholsky.
Soldat im Ersten Weltkrieg
Der Beginn der journalistischen Karriere wurde durch den Ersten Weltkrieg unterbrochen. Von August 1914 bis Oktober 1916 erschien nur ein einziger Artikel von Tucholsky. Im Gegensatz zu vielen anderen Schriftstellern und Dichtern ließ er sich nicht von der patriotischen Hurra-Stimmung zu Beginn des Krieges anstecken. Er beendete zunächst sein Studium an der Universität Jena, wo er Anfang 1915 mit der Arbeit „Die Vormerkung aus § 1179 BGB und ihre Wirkungen“ (Hypothekenrecht) cum laude zum Dr. jur. promoviert wurde. Bereits im April desselben Jahres wurde er eingezogen und an die Ostfront geschickt. Dort erlebte er zunächst Stellungskämpfe mit und diente als Armierungssoldat, dann als Kompanieschreiber. Von November 1916 an brachte er die Feldzeitung Der Flieger heraus. In der Verwaltung der Artillerie-Fliegerschule in Alt-Autz in Kurland lernte er seine spätere Frau Mary Gerold kennen. Die Posten als Schreiber und Feldzeitungs-Redakteur sah Tucholsky als gute Möglichkeiten an, einen Dienst im Schützengraben zu umgehen. Rückblickend schrieb er:
„Ich habe mich dreieinhalb Jahre im Kriege gedrückt, wo ich nur konnte. (…) ich wandte viele Mittel an, um nicht erschossen zu werden und um nicht zu schießen – nicht einmal die schlimmsten Mittel. Aber ich hätte alle, ohne jede Ausnahme alle angewandt, wenn man mich gezwungen hätte: keine Bestechung, keine andre strafbare Handlung hätt' ich verschmäht. Viele taten ebenso.“
– Ignaz Wrobel: Wo waren Sie im Kriege, Herr –? In: Die Weltbühne, 30. März 1926, S. 490
Diese Mittel entbehrten zum Teil nicht einer gewissen Komik, wie aus einem Brief an Mary Gerold hervorgeht:
„Eines Tages bekam ich für den Marsch ein altes schweres Schießgewehr eingehändigt. Ein Gewehr? Und im Kriege? Nie, dachte ich mir. Und lehnte es an eine Hütte. Und ging weg. Das fiel sogar in unserm damaligen Verein auf. Ich weiß nicht mehr, wie ich die Sache rangiert habe – aber irgendwie glückte es. Und es ging auch ohne Gewehr.“
– Kurt Tucholsky: Unser ungelebtes Leben. Briefe an Mary. Reinbek 1982, S. 247
Die Begegnung mit dem Juristen Erich Danehl führte schließlich dazu, dass er 1918 als Vizefeldwebel und Feldpolizeikommissar nach Rumänien versetzt wurde. (Tucholskys Freund Danehl tauchte später als „Karlchen“ in mehreren Texten auf, zum Beispiel in Das Wirtshaus im Spessart.) Im rumänischen Turnu Severin ließ Tucholsky sich im Sommer 1918 protestantisch taufen. Aus der jüdischen Gemeinde war er bereits am 1. Juli 1914 ausgetreten.
Obwohl Tucholsky sich noch im August 1918 an einem Preisausschreiben zur 9. Kriegsanleihe beteiligt hatte, kehrte er im Herbst 1918 als überzeugter Antimilitarist und Pazifist aus dem Krieg zurück.
Kampf um die Republik
Schon im Dezember 1918 übernahm Tucholsky die Chefredaktion des „Ulk“, die er bis zum April 1920 innehatte. Ulk war die wöchentliche satirische Beilage des linksliberalen Berliner Tageblatts des Verlegers Rudolf Mosse.
Auch für die Weltbühne arbeitete er nun wieder regelmäßig. Um das linksdemokratische Wochenblatt nicht allzu „Tucholsky-lastig“ erscheinen zu lassen, hatte er sich bereits 1913 drei Pseudonyme zugelegt, die er bis zum Ende seines publizistischen Wirkens beibehielt: Ignaz Wrobel, Theobald Tiger und Peter Panter. Da Theobald Tiger zeitweise für den Ulk reserviert war, erschienen in der Weltbühne im Dezember 1918 erstmals Gedichte unter einem vierten Pseudonym, Kaspar Hauser. Sehr selten, insgesamt nur fünf Mal, veröffentlichte er Texte unter den Namen Paulus Bünzly, Theobald Körner und Old Shatterhand, wobei die Zuschreibung des letztgenannten Pseudonyms in der Forschung umstritten ist. Die Entstehung seiner Pseudonyme erklärte Tucholsky rückblickend:
„Die alliterierenden Geschwister sind Kinder eines juristischen Repetitors aus Berlin. (…) Die Personen, an denen er das Bürgerliche Gesetzbuch und die Pfändungsbeschlüsse und die Strafprozeßordnung demonstrierte, hießen nicht A und B, nicht: Erbe und nicht Erblasser. Sie hießen Benno Büffel und Theobald Tiger; Peter Panter und Isidor Iltis und Leopold Löwe und so durchs ganze Alphabet. (…)
Wrobel – so hieß unser Rechenbuch;[3] und weil mir der Name Ignaz besonders häßlich erschien, kratzbürstig und ganz und gar abscheulich, beging ich diesen kleinen Akt der Selbstzerstörung und taufte so einen Bezirk meines Wesens.
Kaspar Hauser braucht nicht vorgestellt zu werden.“– Start. In: Mit 5 PS. Berlin 1928, S. 12f.
Die vielen Pseudonyme waren nötig geworden, weil es kaum eine Rubrik gab, zu der Tucholsky nichts beizutragen hatte: von politischen Leitartikeln und Gerichtsreportagen über Glossen und Satiren bis zu Gedichten und Buchbesprechungen. Zudem dichtete er Texte, Lieder und Couplets für das Kabarett – etwa für die Bühne Schall und Rauch – und für Sängerinnen wie Claire Waldoff und Trude Hesterberg. Im Oktober 1919 erschien Tucholskys Gedichtsammlung Fromme Gesänge.
In die unmittelbare Nachkriegszeit fällt ein Engagement Tucholskys, das er rückblickend bereuen sollte: seine von Juli 1920 bis April 1921 währende, sehr gut bezahlte Tätigkeit für das Propagandablatt Pieron. Im Auftrag der Reichsregierung sollte die Zeitschrift vor der Volksabstimmung über die endgültige deutsch-polnische Grenzziehung in Oberschlesien anti-polnische Stimmung machen. Die von anderen Zeitungen stark kritisierte Demagogie und Hetze des Pieron hatte schließlich zur Folge, dass Tucholsky nicht mehr für Blätter der USPD schreiben durfte. Zwar sprach ihn im Juni 1922 eine USPD-Schiedskommission von dem Vorwurf frei, gegen die Bestrebungen der Partei gearbeitet zu haben. Tucholsky urteilte über sein Verhalten jedoch später:
„Von beiden Seiten wurden damals große Fonds in den korrumpierten Volkskörper hineingepumpt wie später in die Ruhr – ich selbst habe die Hände in diesem Bottich gehabt, ich hätte es nicht tun dürfen, und ich bereue, was ich getan habe.“
– Ein besserer Herr. In: Die Weltbühne, 25. Juni 1929, S. 960
Als politischer Autor hatte Tucholsky bereits im Januar 1919 in der Weltbühne die anti-militaristische Artikelserie Militaria gestartet, ein Angriff auf den wilhelminischen Geist der Offiziere, den er durch den Krieg zusätzlich verroht sah und der in der Republik weiterlebte. Seine eigene Haltung als Soldat während des Krieges soll sich aber nicht wesentlich von derjenigen unterschieden haben, die er am deutschen Offizierskorps so scharf kritisierte. Biografen sehen daher in den „Militaria“-Artikeln „eine Art öffentliche Selbstanalyse“ (Hepp). Im ersten Artikel der Serie heißt es unter anderem:
„Wir haben auszufressen, was ein entarteter Militarismus uns eingebrockt hat.
Nur durch völlige Abkehr von dieser schmählichen Epoche kommen wir wieder zur Ordnung. Spartakus ist es nicht; der Offizier, der sein eigenes Volk als Mittel zum Zweck ansah, ist es auch nicht – was wird es denn sein am Ende?
Der aufrechte Deutsche.“– Militaria. Offizier und Mann. In: Die Weltbühne, 9. Januar 1919, S. 39
In ebenso heftiger Weise prangerte Tucholsky auch die zahlreichen politischen Morde an, die die Weimarer Republik in den ersten Jahren erschütterten. Immer wieder wurden Anschläge auf linke, pazifistische oder auch nur liberale Politiker und Publizisten verübt, zum Beispiel auf Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, Walther Rathenau, Matthias Erzberger und Philipp Scheidemann oder Maximilian Harden. Als Prozessbeobachter in Verfahren gegen rechtsradikale Fememörder musste er feststellen, dass die Richter in aller Regel die monarchistischen und nationalistischen Ansichten der Angeklagten teilten und mit ihnen sympathisierten. In seinem Artikel Prozeß Harden schrieb er 1922:
„Der deutsche politische Mord der letzten vier Jahre ist schematisch und straff organisiert. (…) Alles steht von vornherein fest: Anstiftung durch unbekannte Geldgeber, die Tat (stets von hinten), schludrige Untersuchung, faule Ausreden, ein paar Phrasen, jämmerliches Kneifertum, milde Strafen, Strafaufschub, Vergünstigungen – „Weitermachen!“ (…)
Das ist keine schlechte Justiz. Das ist keine mangelhafte Justiz. Das ist überhaupt keine Justiz. (…) Balkan und Südamerika werden sich den Vergleich mit diesem Deutschland verbitten.“– Prozeß Harden. In: Die Weltbühne, 21. Dezember 1922, S. 638
Tucholsky sparte auch nicht mit Kritik an demokratischen Politikern, die seiner Meinung nach zu nachsichtig mit ihren Gegnern umgingen. Nach dem Mord an Außenminister Walther Rathenau 1922 richtete er in einem Gedicht einen Appell an die Selbstachtung der Republik:
„Steh einmal auf! Schlag mit der Faust darein!
Schlaf nicht nach vierzehn Tagen wieder ein!
Heraus mit deinem Monarchistenrichter,
mit Offizieren – und mit dem Gelichter,
das von dir lebt und das dich sabotiert
an deine Häuser Hakenkreuze schmiert.
(…)
Vier Jahre Mord – das sind, weiß Gott, genug
Du stehst jetzt vor dem letzten Atemzug.
Zeig, was du bist. Halt mit dir selbst Gericht.
Stirb oder kämpfe. Drittes gibt es nicht.“– Rathenau. In: Die Weltbühne, 29. Juni 1922, S. 653
Tucholsky beließ es daher auch nicht bei seiner publizistischen Tätigkeit, sondern betätigte sich auch direkt politisch. So wirkte er unter anderem im Oktober 1919 an der Gründung des Friedensbundes der Kriegsteilnehmer mit und engagierte sich in der USPD. Die Mitgliedschaft in einer Partei hielt Tucholsky aber nie von der Kritik an ihren Mitgliedern ab. So urteilte er zum Beispiel über die Leistung von Rudolf Hilferding als Chefredakteur der USPD-Zeitung Freiheit:
„Herr Dr. Rudolf Hilferding wurde vom Reichsverband zur Bekämpfung der Sozialdemokratie in die Redaktion der ‚Freiheit‘ entsandt. Es gelang ihm, das gefährliche Blatt in zwei Jahren derart herunterzuwirtschaften, daß sowohl von einem Blatt wie von einer Gefahr nicht mehr gesprochen werden kann.“
– Dienstzeugnisse. In: Die Weltbühne, 3. März 1925, S. 329
Besonders hart ging er mit der SPD ins Gericht, deren Führung er ihr Versagen, ja Verrat an den eigenen Anhängern während der Novemberrevolution vorwarf. Über Friedrich Ebert schrieb er 1922 in Prozeß Harden:
„Und über allem thront dieser Präsident, der seine Überzeugungen in dem Augenblick hinter sich warf, als er in die Lage gekommen war, sie zu verwirklichen.“
In der Hochphase der Inflation sah Tucholsky sich gezwungen, seine publizistische Arbeit zugunsten einer Tätigkeit in der Wirtschaft zurückzustellen. Doch nicht nur finanzielle Gründe sollen für diesen Schritt eine Rolle gespielt haben. Im Herbst 1922 hatte er eine schwere Depression, zweifelte am Sinn des Schreibens und soll sogar einen ersten Selbstmordversuch begangen haben. Am 1. März 1923 trat er schließlich in das Berliner Bankhaus Bett, Simon & Co. ein, wo er als Privatsekretär des Seniorchefs Hugo Simon arbeitete. Aber bereits am 15. Februar 1924 schloss er erneut einen Mitarbeitervertrag mit Siegfried Jacobsohn. Als Korrespondent der Weltbühne und der angesehenen Vossischen Zeitung ging er im Frühjahr 1924 nach Paris.
Auch in privater Hinsicht gab es 1924 große Veränderungen im Leben Tucholskys. Im Februar 1924 ließ er sich von der Ärztin Else Weil, die er im Mai 1920 geheiratet hatte, wieder scheiden. Am 30. August desselben Jahres heiratete er schließlich Mary Gerold, mit der er seit seiner Abkommandierung von Alt-Autz weiter in Briefkontakt gestanden hatte. Bei einem Wiedersehen in Berlin, im Frühjahr 1920, hatten die beiden jedoch rasch festgestellt, dass sie sich einander entfremdet hatten. Auch in Paris sollte sich zeigen, dass es die beiden nicht über längere Zeit miteinander aushielten.
Zwischen Frankreich und Deutschland
Wie sein Vorbild Heinrich Heine verbrachte Tucholsky darauf bis zu seinem Tode die meiste Zeit im Ausland und kehrte nur noch sporadisch nach Deutschland zurück. Die Distanz schärfte aber eher noch sein Wahrnehmungsvermögen für die Angelegenheiten Deutschlands und der Deutschen. Er beteiligte sich über die Weltbühne weiter an den politischen Debatten in der Heimat. Darüber hinaus versuchte er, wie Heine im 19. Jahrhundert, das gegenseitige Verständnis von Deutschen und Franzosen zu fördern. Tucholsky, der am 24. März 1924 in die Freimaurerloge Zur Morgenröte in Berlin – zum Freimaurerbund zur aufgehenden Sonne gehörig – aufgenommen worden war, besuchte Logen in Paris und wurde im Juni 1925 Mitglied in den beiden Logen L'Effort und Les Zélés Philanthropes in Paris (Grand Orient de France).[4]
1926 wurde Tucholsky in den Vorstand der von Kurt Hiller gegründeten Gruppe Revolutionärer Pazifisten gewählt.
Als Siegfried Jacobsohn im Dezember 1926 starb, erklärte sich Kurt Tucholsky sofort bereit, die Leitung der Weltbühne zu übernehmen. Da ihm die Arbeit als „Oberschriftleitungsherausgeber“ aber nicht behagte, und er dafür dauerhaft nach Berlin hätte zurückkehren müssen, übergab er das Blatt schon bald seinem Kollegen Carl von Ossietzky. Als Mitherausgeber sorgte er immer auch für den Abdruck unorthodoxer Beiträge, wie sie z. B. Kurt Hiller lieferte.
In den Jahren 1927 und 1928 erschienen seine essayistische Reisebeschreibung Ein Pyrenäenbuch, die Textsammlung Mit 5 PS (womit sein Name und die vier Pseudonyme gemeint waren) und Das Lächeln der Mona Lisa. Mit den literarischen Figuren des Herrn Wendriner und des Lottchen beschrieb er typische Berliner Charaktere seiner Zeit.
Gleichzeitig blieb er ein kritischer Beobachter der Zustände in Deutschland. So prangerte er im April 1927 in dem dreiteiligen Artikel Deutsche Richter in der Weltbühne die in seinen Augen reaktionäre Justiz der Weimarer Republik an. Nach Tucholskys Überzeugung war eine zweite, diesmal erfolgreiche Revolution nötig, um eine grundlegende Änderung der undemokratischen Verhältnisse herbeizuführen. Er schrieb:
„Gibt es keine Gegenwehr? Es gibt nur eine große, wirksame, ernste: den antidemokratischen, hohnlachenden, für die Idee der Gerechtigkeit bewußt ungerechten Klassenkampf. … Es gibt, um eine Bürokratie zu säubern, nur eines. Jenes eine Wort, das ich nicht hierhersetzen möchte, weil es für die Herrschenden seinen Schauer verloren hat. Dieses Wort bedeutet: Umwälzung. Generalreinigung. Aufräumung. Lüftung.“
– Deutsche Richter. In: Die Weltbühne. 12., 19. und 26. April 1927
Ganz ähnlich argumentierte er 1928 in dem Artikel November-Umsturz, einer Bilanz von zehn Jahren Republik: „Die deutsche Revolution steht noch aus.“ Vorübergehend näherte sich Tucholsky der KPD an und veröffentlichte klassenkämpferische Propaganda-Gedichte in der parteinahen A.I.Z.. Das Gedicht Asyl für Obdachlose! endet mit dem einprägsamen Vers:
„Wohltaten, Mensch, sind nichts als Dampf.
Hol dir dein Recht im Klassenkampf –!“– Arbeiter Illustrierte Zeitung, 1928, Nr. 37, S. 10
Auch während seiner Zeit im Ausland musste sich Tucholsky in Prozessen mit politischen Gegnern auseinandersetzen, die sich von seinen Äußerungen beleidigt oder attackiert fühlten. Wegen des Gedichts Gesang der englischen Chorknaben wurde 1928 gar ein Prozess wegen Gotteslästerung gegen ihn eingeleitet.
Im gleichen Jahr trennten sich Kurt und Mary Tucholsky endgültig. Tucholsky hatte bereits 1927 Lisa Matthias kennen gelernt, mit der er 1929 einen Urlaub in Schweden verbrachte. Dieser Aufenthalt inspirierte ihn zu dem 1931 im Rowohlt Verlag erschienenen Kurzroman Schloß Gripsholm, in dem noch einmal die jugendliche Unbeschwertheit und Leichtigkeit von Rheinsberg anklang.
Der Kontrast zu dem 1929 gemeinsam mit dem Grafiker John Heartfield veröffentlichten gesellschaftskritischen Werk Deutschland, Deutschland über alles könnte kaum größer sein. Darin bringt Tucholsky das Kunststück fertig, die schärfsten Attacken auf alles, was er am Deutschland seiner Zeit hasst, mit einer Liebeserklärung an das Land zu verbinden. Im letzten Kapitel des Buches heißt es unter der Überschrift Heimat:
„Nun haben wir auf 225 Seiten Nein gesagt, Nein aus Mitleid und Nein aus Liebe, Nein aus Haß und Nein aus Leidenschaft – und nun wollen wir auch einmal Ja sagen. Ja –: zu der Landschaft und dem Land Deutschland. Dem Land, in dem wir geboren sind und dessen Sprache wir sprechen. (…)
Und nun will ich euch mal etwas sagen: Es ist ja nicht wahr, daß jene, die sich ‚national‘ nennen und nichts sind als bürgerlich-militaristisch, dieses Land und seine Sprache für sich gepachtet haben. Weder der Regierungsvertreter im Gehrock, noch der Oberstudienrat, noch die Damen und Herren des Stahlhelms allein sind Deutschland. Wir sind auch noch da. (…)
Deutschland ist ein gespaltenes Land. Ein Teil von ihm sind wir. Und in allen Gegensätzen steht – unerschütterlich, ohne Fahne, ohne Leierkasten, ohne Sentimentalität und ohne gezücktes Schwert – die stille Liebe zu unserer Heimat.“– Heimat. In: Deutschland, Deutschland über alles. Berlin 1929, S. 226
Verstummen
Es traf Tucholsky tief, als ihm zu Beginn der 1930er Jahre klar wurde, dass alle seine Warnungen ungehört verhallten und sein Eintreten für die Republik, für Demokratie und Menschenrechte offenbar ohne jede Wirkung blieb. Als klarsichtiger Beobachter der deutschen Politik erkannte er die mit Hitler heraufziehenden Gefahren. „Sie rüsten für die Reise ins Dritte Reich“, schrieb er schon Jahre vor der Machtübergabe, und er machte sich keine Illusionen, wohin eine Reichskanzlerschaft Hitlers das Land führen würde. Das bezeugte Erich Kästner rückblickend im Jahre 1946, als er den Schriftsteller als „kleinen dicken Berliner“ bezeichnete, der „mit der Schreibmaschine eine Katastrophe aufhalten“ wollte. (Erich Kästner: Kurt Tucholsky, Carl v. Ossietzky, ‚Weltbühne‘, in: Die Weltbühne, 4. Juni 1946, S. 22)
1930 verlegte Tucholsky seinen Wohnsitz dauerhaft ins schwedische Hindås bei Göteborg. Nach dem Weltbühne-Prozess erachtete er die Möglichkeiten zu kritischer Publizistik als stark eingeschränkt. Gegen Carl von Ossietzky und den Journalisten Walter Kreiser war seit 1929 wegen Landesverrats und Verrats militärischer Geheimnisse ermittelt worden, da die Weltbühne in dem Artikel „Windiges aus der deutschen Luftfahrt“ die verbotene fliegerische Aufrüstung der Reichswehr offengelegt hatte. Ende 1931 wurde Ossietzky schließlich wegen Spionage zu 18 Monaten Haft verurteilt. Wegen des berühmt gewordenen Tucholsky-Satzes „Soldaten sind Mörder“ klagte man Ossietzky ebenfalls an. Ein Gericht wertete im Juli 1932 diesen Satz jedoch nicht als Verunglimpfung der Reichswehr. Da Tucholsky im Ausland lebte, war gegen ihn auf eine Anklageerhebung verzichtet worden. Dennoch überlegte er, zu dem Prozess nach Deutschland zu kommen, da Ossietzky damals wegen des Luftfahrt-Artikels bereits im Gefängnis saß. Doch die Situation war Tucholsky zu riskant. Er befürchtete, den Nationalsozialisten in die Hände zu fallen. Allerdings war ihm klar, dass die Abwesenheit keinen guten Eindruck machen würde. „Nach außen bleibt ein Erdenrest zu tragen peinlich. Es hat so etwas von Desertion, Ausland, im Stich lassen, der Kamerad Oss im Gefängnis“, schrieb er an Mary Gerold, die ihn „so nett aufmerksam gemacht hat, daß von Seiten der Nazis Lebensgefahr bestehe.“ (Kurt Tucholsky: Unser ungelebtes Leben. Briefe an Mary. Reinbek 1982, S. 537) Wenige Tage vor seinem Tod schrieb er jedoch, dass er die Entscheidung vom Sommer 1932 bereue:
„Aber im Falle Oss bin ich einmal nicht gekommen, ich habe damals versagt, es war ein Gemisch aus Faulheit, Feigheit, Ekel, Verachtung – und ich hätte doch kommen sollen. Daß es gar nichts geholfen hätte, daß wir beide sicherlich verurteilt worden wären, daß ich vielleicht diesen Tieren in die Klauen gefallen wäre, das weiß ich alles – aber es bleibt eine Spur Schuldbewußtsein.“
– Brief an Hedwig Müller vom 19. Dezember 1935, in: Kurt Tucholsky: Briefe. Auswahl 1913–1935. Berlin 1983, S. 325 ff.
Schon seit 1931 war Tucholsky publizistisch zunehmend verstummt. Das Ende seiner Beziehung zu Lisa Matthias, der Tod eines engen Freundes und ein chronisches Atemwegs- und Nasenleiden, dessentwegen er fünfmal operiert worden war, hatten seine resignative Stimmung verstärkt. Tucholskys letzter größerer Beitrag erschien am 8. November 1932 in der Weltbühne. Es waren nur noch Schnipsel, wie er seine Aphorismen nannte. Am 17. Januar 1933 meldete er sich in der Weltbühne noch einmal mit einer kleinen Notiz aus Basel. Zu größeren literarischen Formen fehlte ihm zusehends die Kraft. Zwar legte er dem Rowohlt Verlag ein Exposé für einen Roman vor, die politische Entwicklung in Deutschland verhinderte jedoch dessen Realisierung. 1933 verboten die Nationalsozialisten die Weltbühne, verbrannten Tucholskys Bücher (vgl. Bücherverbrennung) und erkannten ihm die deutsche Staatsangehörigkeit ab.
Über Tucholskys letzte Jahre und seine Gedanken über die Entwicklungen in Deutschland und Europa geben seine Briefe Auskunft, die seit Beginn der 1960er Jahre publiziert wurden. Sie waren unter anderem an Freunde wie Walter Hasenclever oder an seine letzte Geliebte, die Zürcher Ärztin Hedwig Müller, die er „Nuuna“ nannte, gerichtet. Den Briefen an Nuuna legte er zudem lose Tagebuchblätter bei, die heute als Q-Tagebücher bekannt sind. Darin und in den Briefen bezeichnete sich Tucholsky als „aufgehörten Deutschen“ und „aufgehörten Dichter“. An Hasenclever schrieb er am 11. April 1933:
„Daß unsere Welt in Deutschland zu existieren aufgehört hat, brauche ich Ihnen wohl nicht zu sagen. Und daher:
Werde ich erst amal das Maul halten. Gegen einen Ozean pfeift man nicht an.“– Kurt Tucholsky: Politische Briefe. Reinbek 1969, S. 16
Er gab sich auch nicht der Illusion vieler Exilanten hin, dass die Diktatur Hitlers bald zusammenbrechen werde. Mit realistischem Blick stellte er fest, dass sich die Mehrheit der Deutschen mit der Diktatur arrangierte und selbst das Ausland Hitlers Herrschaft akzeptierte. Er rechnete mit einem Krieg innerhalb weniger Jahre.
Tucholsky lehnte es strikt ab, sich an der entstehenden Exilpresse zu beteiligen. Zum einen verstand er sich nicht als Emigrant, da er Deutschland schon 1924 verlassen hatte und erwog, sich um die schwedische Staatsbürgerschaft zu bewerben. Seine tieferen Gründe, warum er sich nicht mehr öffentlich mit Deutschland beschäftigte, schilderte er in einem bewegenden Brief an Mary Gerold:
„Ich habe über das, was da geschehen ist, nicht eine Zeile veröffentlicht – auf alle Bitten hin nicht. Es geht mich nichts mehr an. Es ist nicht Feigheit – was dazu schon gehört, in diesen Käseblättern zu schreiben! Aber ich bin au-dessus de la mêlée, es geht mich nichts mehr an. Ich bin damit fertig.“
– Kurt Tucholsky: Unser ungelebtes Leben. Briefe an Mary. Reinbek 1982, S. 545
Innerlich aber war er noch nicht mit allem fertig, und er nahm sehr wohl Anteil an den Entwicklungen in Deutschland und Europa. Um dem inhaftierten Ossietzky beizustehen, dachte er auch daran, wieder an die Öffentlichkeit zu treten. Kurz vor seinem Tod plante er, in einem scharfen Artikel mit dem einst von ihm verehrten norwegischen Dichter Knut Hamsun abzurechnen. Hamsun hatte sich offen für das Hitler-Regime ausgesprochen und Carl von Ossietzky angegriffen, der, ohne sich wehren zu können, im KZ Esterwegen einsaß. Hinter den Kulissen unterstützte Tucholsky auch die Verleihung des Friedensnobelpreises des Jahres 1935 an den inhaftierten Freund. Tatsächlich erhielt Ossietzky die Auszeichnung im folgenden Jahr rückwirkend für 1935. Den Erfolg seiner Bemühungen erlebte Kurt Tucholsky jedoch nicht mehr.
In seinem letzten Brief an den nach Palästina emigrierten Schriftsteller Arnold Zweig vom 15. Dezember 1935 setzte er sich vor allem kritisch mit dem ausgebliebenen Widerstand der deutschen Juden gegen das NS-Regime auseinander. Er zog darin resigniert Bilanz aus seinem politischen Engagement in und für Deutschland:
„Das ist bitter, zu erkennen. Ich weiß es seit 1929 – da habe ich eine Vortragsreise gemacht und „unsere Leute“ von Angesicht zu Angesicht gesehen, vor dem Podium, Gegner und Anhänger, und da habe ich es begriffen, und von da an bin ich immer stiller geworden. Mein Leben ist mir zu kostbar, mich unter einen Apfelbaum zu stellen und ihn zu bitten, Birnen zu produzieren. Ich nicht mehr. Ich habe mit diesem Land, dessen Sprache ich so wenig wie möglich spreche, nichts mehr zu schaffen. Möge es verrecken – möge es Rußland erobern – ich bin damit fertig.“
– Kurt Tucholsky: Politische Briefe. Reinbek 1984, Seite 121
Tod
Vom 14. Oktober bis zum 4. November 1935 war Tucholsky wegen ständiger Magenbeschwerden in stationärer Behandlung. Seit diesem Krankenhausaufenthalt konnte er ohne Barbiturate nicht mehr einschlafen. Am Abend des 20. Dezember 1935 nahm er in seinem Haus in Hindås eine Überdosis an Tabletten. Tags darauf wurde er, schon im Koma liegend, aufgefunden und ins Sahlgrensche Krankenhaus nach Göteborg gebracht. Dort verstarb Kurt Tucholsky am Abend des 21. Dezember. Es wurde jahrzehntelang davon ausgegangen, dass Tucholsky Suizid beging; diese These wird in jüngster Zeit von Tucholskys Biographen Michael Hepp jedoch angezweifelt. Er hält eine Selbsttötung aus Versehen für möglich.[5]
Die Asche Kurt Tucholskys wurde im Sommer 1936 unter einer Eiche nahe Schloss Gripsholm im schwedischen Mariefred beigesetzt. Die Grabplatte mit der Inschrift „Alles Vergängliche Ist Nur Ein Gleichnis“ aus Goethes Faust II wurde erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges auf das Grab gelegt. Tucholsky selbst hatte 1923 in der Satire Requiem folgenden Grabspruch für sein Pseudonym Ignaz Wrobel vorgeschlagen:
Rezeption und Einzelaspekte
Tucholsky gehörte zu den gefragtesten und am besten bezahlten Journalisten der Weimarer Republik. In den 25 Jahren seines Wirkens veröffentlichte er in fast 100 Publikationen mehr als 3.000 Artikel, die meisten davon, etwa 1.600, in der Wochenzeitschrift Die Weltbühne. Zu seinen Lebzeiten erschienen bereits sieben Sammelbände mit kürzeren Texten und Gedichten, die zum Teil dutzende Auflagen erzielten. Manche Werke und Äußerungen Tucholskys polarisieren bis heute, wie die Auseinandersetzung um seinen Satz „Soldaten sind Mörder“ in den 1990er Jahren belegt. Seine Kritik an Politik, Gesellschaft, Militär, Justiz und Literatur, aber auch an Teilen des deutschen Judentums, rief immer wieder Widerspruch hervor.
Im Schloss Rheinsberg befindet sich heute das Kurt-Tucholsky-Literaturmuseum, das sein Leben und Wirken ausführlich dokumentiert.
Der politische Schriftsteller
Tucholskys Rolle als politischer Journalist wurde von jeher kontrovers beurteilt. Sein Selbstverständnis als linker Intellektueller legte er in dem programmatischen Text „Wir Negativen“ dar, in dem er schon im März 1919 zu den Vorwürfen Stellung beziehen musste, die junge Republik nicht positiv genug zu sehen. Sein Fazit lautete damals:
„Wir können nicht zu einem Volk Ja sagen, das, noch heute, in einer Verfassung ist, die, wäre der Krieg zufälligerweise glücklich ausgegangen, das Schlimmste hätte befürchten lassen. Wir können nicht zu einem Land Ja sagen, das von Kollektivitäten besessen ist, und dem die Korporation weit über dem Individuum steht.“
– „Wir Negativen“, in: Die Weltbühne, 13. März 1919, S. 279
Tucholsky stand der Weimarer Republik zunehmend kritisch gegenüber. Die Novemberrevolution hatte in seinen Augen keine wahren Fortschritte gebracht:
„Wie haben sie das getauft? Revolution? Das war keine.“
– Theobald Tiger: Vor acht Jahren[7]
In Schulen, Universitäten, Verwaltungen und Gerichten herrsche noch derselbe Ungeist und die deutsche Verantwortung für den Ersten Weltkrieg werde weiterhin geleugnet. Statt eine echte Friedenspolitik zu treiben, werde heimlich schon der nächste Krieg vorbereitet. Aus all diesen Zuständen zog er im Frühjahr 1928 den Schluss:
„Wir halten den Krieg der Nationalstaaten für ein Verbrechen, und wir bekämpfen ihn, wo wir können, wann wir können, mit welchen Mitteln wir können. Wir sind Landesverräter. Aber wir verraten einen Staat, den wir verneinen, zugunsten eines Landes, das wir lieben, für den Frieden und für unser wirkliches Vaterland: Europa.“
– Ignaz Wrobel: „Die großen Familien“, in: Die Weltbühne, 27. März 1928, S. 471
Trotz dieser Enttäuschung hatte Tucholsky nicht aufgehört, in linken Blättern die erklärten Feinde der Republik und der Demokratie in Militär, Justiz und Verwaltung, in den alten monarchistisch gesinnten Eliten und in den neuen, antidemokratischen, völkischen Bewegungen scharf anzugreifen. Zeitweilig näherte sich Tucholsky, der von 1920 bis 1922 Mitglied der USPD gewesen war, auch der KPD an, wobei er als bürgerlicher Schriftsteller stets auf Distanz zu den kommunistischen Parteifunktionären blieb.
Angesichts seiner kompromisslosen Haltung gegenüber den Nationalsozialisten war es auch folgerichtig, dass Tucholsky seinen Namen auf der Ersten Ausbürgerungsliste des Deutschen Reichs von 1933 wiederfand und dass seine Werke nach 1933 verboten wurden. Bei den Bücherverbrennungen durch Studenten in Berlin und anderen Städten am 10. Mai wurden er und Ossietzky explizit genannt: „Gegen Frechheit und Anmaßung, für Achtung und Ehrfurcht vor dem unsterblichen deutschen Volksgeist! Verschlinge, Flamme, auch die Schriften von Tucholsky und Ossietzky!“ Tucholsky kommentierte entsprechende Nachrichten nur noch gleichgültig, etwa in einem Brief an Walter Hasenclever vom 17. Mai 1933:
„In Frankfurt haben sie unsere Bücher auf einem Ochsenkarren zum Richtplatz geschleift. Wie ein Trachtenverein von Oberlehrern. Nun aber zu Ernsthafterem. …“
– Kurt Tucholsky: Politische Briefe. Reinbek 1969, S. 23
In der Nachkriegszeit wurden aber auch in der Bundesrepublik Stimmen laut, die linken Literaten wie Tucholsky und Bertolt Brecht eine Mitschuld am Scheitern der Weimarer Republik gaben. Mit ihrer unbarmherzigen Kritik hätten Zeitschriften wie die Weltbühne letztlich den Nationalsozialisten in die Hände gespielt, lautete der Tenor der Vorwürfe. Einer der bekanntesten Vertreter dieser Auffassung war der Historiker Golo Mann. Er schrieb 1958:
„Die hellsichtige Bosheit, mit der Kurt Tucholsky die Republik verspottete, alle ihre Lahmheiten und Falschheiten, erinnerte von ferne an Heinrich Heine. Von Witz und Haß des großen Dichters war ein Stück in ihm, nur leider wenig von seiner Liebe. Die radikale Literatur konnte kritisieren, verhöhnen, demaskieren, und erwarb sich eine leichte, für die Gediegenheit des eigenen Charakters noch nichts beweisende Überlegenheit damit. Sie war ihr Handwerk gewöhnt von Kaisers Zeiten her und setzte es fort unter der Republik, die es an Zielscheiben für ihren Hohn auch nicht fehlen ließ. Was half es?“
– Golo Mann: Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 161982 (11958), S. 727
Sein Kollege Heinrich August Winkler meint, die bevorzugte Zielscheibe von Tucholskys Spott sei die Sozialdemokratie mit ihren notwendigen Kompromissen gewesen:
„In der Wirkung war der Kampf, den Tucholsky und seine Freunde gegen die Sozialdemokratie führten, ein Kampf gegen die parlamentarische Demokratie. In dieser Hinsicht standen die Intellektuellen des Kreises um die ‚Weltbühne‘ den Antiparlamentariern der ‚konservativen Revolution‘ sehr viel näher, als beiden Seiten bewußt war.“
– Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte 1806–1933. C. H. Beck: München 2000, S. 467
Tucholsky selbst sah seine Kritik immer als konstruktiv an: In seinen Augen hatte das Scheitern von Weimar nichts damit zu tun, dass Autoren wie er zu viel, sondern damit, dass sie zu wenig Wirkung erzielten. Im Mai 1931 schrieb er an den Publizisten Franz Hammer:
„Das, worum mir manchmal so bange ist, ist die Wirkung meiner Arbeit. Hat sie eine? (Ich meine nicht den Erfolg; er läßt mich kalt.) Aber mir erscheint es manchmal als so entsetzlich wirkungslos: da schreibt man und arbeitet man – und was ereignet sich nun realiter in der Verwaltung? Bekommt man diese üblen und verquälten, quälenden invertierten Anstaltsweiber fort? Gehen die Sadisten? Werden die Bürokraten entlassen (…)? Das bedrückt mich mitunter.“
– Kurt Tucholsky: Briefe. Auswahl 1913–1935. Berlin 1983, S. 255
Wie eine vorweggenommene Antwort auf die Kritiker der Nachkriegszeit liest sich auch eine Stelle aus dem bereits zitierten Brief an Hasenclever vom 17. Mai 1933:
„Ich werde nun langsam größenwahnsinnig – wenn ich zu lesen bekomme, wie ich Deutschland ruiniert habe. Seit zwanzig Jahren aber hat mich immer dasselbe geschmerzt: daß ich auch nicht einen Schutzmann von seinem Posten habe wegbekommen können.“
– Kurt Tucholsky: Politisch Briefe, Reinbek 1969, S. 24
Tucholsky und die Arbeiterbewegung
Tucholsky verstand sich als linker Intellektueller, der für die Arbeiterbewegung eintrat. Er engagierte sich vor dem Ersten Weltkrieg für die SPD, ging aber spätestens ab 1918 zunehmend auf Distanz zu dieser Partei, deren Führung er Verrat an ihrer Basis vorwarf, da der Parteivorsitzende Friedrich Ebert während der Novemberrevolution den geheimen Ebert-Groener-Pakt mit General Wilhelm Groener, dem Chef der Obersten Heeresleitung, zur Niederschlagung der in den Augen der SPD-Parteiführung sozialistisch eskalierenden Revolution vereinbart hatte, und ihm dafür weitgehende Zugeständnisse in Bezug auf den Erhalt der alten kaiserlichen Strukturen beim Militär, in der Justiz und staatlichen Verwaltung der neu entstehenden Republik zugesagt hatte.
Tucholsky war zwischen 1920 und 1922 Mitglied der USPD. Nach der zweiten Spaltung dieser linkssozialdemokratischen Partei, bei der ein großer Teil ihrer verbliebenen Anhänger sich wieder der SPD angeschlossen hatte, war auch er zumindest 1922 kurzfristig SPD-Parteimitglied (über die Dauer dieser Mitgliedschaft besteht in den Quellen Unklarheit). Gegen Ende der 20er Jahre näherte er sich stärker der KPD an, wobei er Wert darauf legte, kein „Kommunist“ zu sein. Insgesamt beharrte er jedoch gegenüber allen Arbeiterparteien auf einem unabhängigen Standpunkt abseits der Parteidisziplin.
Dass er die Weltbühne nicht als dogmatisches Verkündigungsorgan, sondern als Diskussionsforum für die gesamte Linke betrachtete, brachte ihm 1929 folgende Kritik der kommunistischen Zeitschrift Die Front ein:
„Die Tragödie Deutschlands ist nicht zuletzt die jämmerliche Halbheit seiner ‚linken‘ Intellektuellen, die da über den Parteien thronten, weil es ‚einem in den Reihen nicht leicht gemacht wird‘ (um mit Kurt Tucholsky zu sprechen). Diese Leute haben 1918 glänzend versagt, sie versagen noch heute.“
Tucholsky antwortete darauf in seinem Artikel „Die Rolle des Intellektuellen in der Partei“:
„Der Intellektuelle schreibe sich hinter die Ohren:
Er ist nur unter zwei Bedingungen überhaupt befugt, in die Führung einer Arbeiterpartei einzutreten: wenn er soziologische Kenntnisse besitzt und wenn er für die Arbeitersache politische Opfer bringt und gebracht hat. (…)
Die Partei schreibe sich hinter die Ohren:
Fast jeder Intellektuelle der zu ihr kommt, ist ein entlaufener Bürger. Ein gewisses Mißtrauen ist am Platz. Aber dieses Mißtrauen darf nicht jedes Maß übersteigen. (…)
Es kommt nur auf eins an: zu arbeiten für die gemeinsame Sache.“– „Die Rolle des Intellektuellen in der Partei“, in: Die Front, Nr. 9, S. 250
Anders als in der Bundesrepublik versuchte man in der DDR nach dem Krieg, Tucholsky in die eigene Traditionsbildung einzubeziehen. Dabei wurde jedoch unterschlagen, dass er den moskauhörigen Kurs der KPD, den er für die Zersplitterung der Linken und den Sieg der Nationalsozialisten mit verantwortlich machte, aufs schärfste abgelehnt hatte. In einem Brief an den Journalisten Heinz Pol schrieb er kurz nach Hitlers Machtübernahme am 7. April 1933, als in ganz Europa Boykott-Maßnahmen gegen Deutschland diskutiert wurden:
„Wichtig erscheint mir ferner: die Haltung Russlands gegenüber Deutschland. Wäre ich Kommunist: ich spuckte auf diese Partei. Ist das eine Art, die Leute in der Tinte sitzen zu lassen, weil man die deutschen Kredite braucht?“
– Kurt Tucholsky: Politische Briefe. Reinbek 1969, S. 76f.
In einem Schreiben an denselben Adressaten heißt es am 20. April:
„Die KPD hat in Deutschland von vorn bis hinten dummes Zeug gemacht, sie hat ihre Leute auf der Straße nicht begriffen, sie hat die Massen eben nicht hinter sich gehabt. Und wie hat sich Moskau dann benommen, als es schief gegangen ist? (…) Und dann haben die Russen nicht einmal den Mut, aus ihrer Niederlage – denn es ist ihre Niederlage – zu lernen? Auch sie werden nach bittern Erfahrungen eines Tages einsehen, dass es nichts ist mit:
der absoluten Totalität der Staatsherrschaft;
mit dem einseitigen vulgären Materialismus;
mit der frechen Dreistigkeit, die ganze Welt über einen Leisten zu hauen, der nicht einmal Moskau passt.“– Kurt Tucholsky: Politische Briefe. Reinbek 1969, S. 77 f.
Der Literaturkritiker und Dichter
Als Literaturkritiker gehörte Kurt Tucholsky zu den einflussreichsten deutschen Publizisten seiner Zeit. In seiner festen, mehrseitigen Rubrik „Auf dem Nachttisch“, die in der Weltbühne erschien, besprach er oft ein halbes Dutzend Bücher auf einmal. Insgesamt rezensierte er mehr als 500 literarische Werke. Tucholsky sah es aber als das „erste Bestreben“ seiner Buchkritik an, „nicht das Literaturpäpstlein zu spielen“.
Zu seinen Verdiensten auf diesem Gebiet gehört es, als einer der ersten auf das Werk Franz Kafkas aufmerksam gemacht zu haben. Als „tief und mit den feinfühligsten Fingern gemacht“ beschrieb er bereits 1913 Kafkas Prosa in dessen erster Buchveröffentlichung Betrachtung; das Romanfragment Der Process bezeichnete er in seiner Rezension als „das unheimlichste und stärkste Buch der letzten Jahre“.
Kritisch beurteilte er dagegen Ulysses von James Joyce: „Ganze Partien des ‚Ulysses‘ sind schlicht langweilig.“ Über einzelne Passagen schrieb er aber auch: „Wahrscheinlich ist das mehr als Literatur – auf alle Fälle ist es die allerbeste“, und zog abschließend einen Vergleich mit „Liebigs Fleischextrakt. Man kann es nicht essen. Aber es werden noch viele Suppen damit zubereitet werden.“
Als Dichter von Chansons und Couplets trug Tucholsky dazu bei, diese Genres für die deutsche Sprachwelt zu erschließen. „Die Mühe, die es macht, der deutschen Sprache ein Chanson – und nun noch gar eins für den Vortrag – abzuringen, ist umgekehrt proportional zur Geltung dieser Dinge“, klagte er in dem Text „Aus dem Ärmel geschüttelt“. Als Lyriker verstand er sich jedoch nur als „Talent“, im Gegensatz zum „Jahrhundertkerl“ Heinrich Heine. Das Gedicht „Mutterns Hände“, das 1929 in der AIZ erschien, ist ein typisches Beispiel seiner „Gebrauchslyrik“, wie Tucholsky diese poetische Richtung, deren Hauptvertreter Erich Kästner war, in einem gleichnamigen Artikel bezeichnete. Zum Tucholsky-Repertoire in Schullesebüchern gehören auch Gedichte wie „Augen in der Großstadt“ und „Das Ideal“.
Tucholsky und das Judentum
Kontrovers wird auch Tucholskys Einstellung zum Judentum gewertet. Der jüdische Wissenschaftler Gershom Scholem bezeichnete ihn als einen der „begabtesten und widerwärtigsten jüdischen Antisemiten“[8]. Ursache für dieses Urteil waren unter anderem die „Wendriner“-Geschichten, die nach Ansicht Scholems die jüdische Bourgeoisie in „erbarmungslosesten Nacktaufnahmen“ darstellten. Dagegen wurde vorgebracht, dass Tucholsky in der Figur des „Herrn Wendriner“ nicht den Juden bloßstelle, sondern den Bourgeois. Ihm ging es darum, die gesinnungslose Mentalität eines Teils des konservativen jüdischen Bürgertums anzuprangern, der seiner Meinung nach selbst die größten Demütigungen durch eine nationalistische Umwelt hinnehme, so lange er seinen Geschäften nachgehen könne.
Scholems Kritik ist umso bemerkenswerter, da Tucholsky selbst aus Sicht der Konservativen und Rechtsextremen – auch der deutschnationalen Juden – geradezu das perfekte Feindbild vom „zersetzenden, jüdischen Literaten“ abgab. Dass Tucholsky aus dem Judentum ausgetreten war und sich protestantisch hatte taufen lassen, spielte für diese Kritiker keine Rolle. Auch das heute noch gegen Juden vorgebrachte Argument, dass sie mit ihren Äußerungen selbst den Antisemitismus provozierten, wurde schon gegen Tucholsky ins Feld geführt. In seiner Literaturgeschichte des deutschen Volkes brachte Josef Nadler 1941 den Hass der Nationalsozialisten gegen den bereits Verstorbenen aufs Deutlichste zum Ausdruck: „Kein Volk dieser Erde ist jemals in seiner eigenen Sprache so geschmäht worden wie das deutsche durch Tucholsky.“ Seinen letzten langen Brief vor seinem Tod widmete Tucholsky erstaunlicherweise vollständig der Situation des deutschen Judentums. An den nach Palästina emigrierten Arnold Zweig schrieb er: „Es ist nicht wahr, daß die Deutschen verjudet sind. Die deutschen Juden sind verbocht.“
Tucholsky und die Frauen
Spätestens seit dem Erscheinen von Lisa Matthias’ Autobiografie Ich war Tucholskys Lottchen verfügen die Tucholsky-Forscher über genügend Stoff, um ausgiebig Spekulationen über das Verhältnis Tucholskys zu den Frauen anzustellen. Matthias schilderte in ihren Erinnerungen Tucholsky als einen beziehungsunfähigen Erotomanen, der sie, selbst eine Geliebte, mit mehreren Frauen gleichzeitig betrogen habe. Die Veröffentlichung der Memoiren wurde 1962 als Skandal empfunden, weil Matthias nach Auffassung der Literaturkritiker zu sehr die Sexualität Tucholskys zum Thema gemacht habe. Dass sie Tucholsky „in noch weniger als Unterhosen“ (Walther Karsch) geschildert habe, trifft allerdings nicht zu. Auch Tucholskys erste Frau Else Weil bestätigte, dass dieser es mit der Treue nicht sehr genau genommen habe. Von ihr ist der Satz überliefert: „Als ich über die Damen wegsteigen musste, um in mein Bett zu kommen, ließ ich mich scheiden.“ Tucholskys zweite Frau Mary Gerold äußerte sich dagegen nie über das Privatleben ihres Mannes.
Für das Scheitern der beiden Ehen Tucholskys machen Biografen meist sein schlechtes Verhältnis zu seiner Mutter verantwortlich, unter deren Regiment er nach dem frühen Tod des Vaters gelitten habe. Tucholsky und seine beiden Geschwister beschrieben sie übereinstimmend als tyrannischen Typus der „alleinstehenden Hausmegäre“. Dies habe es dem „erotisch leicht irritierten Damenmann“ (Raddatz) unmöglich gemacht, auf Dauer die Nähe einer Frau zu ertragen. Kurz vor seinem Tod, als er noch mit Hedwig Müller und Gertrude Meyer liiert war, bekannte sich Tucholsky allerdings wieder zu seiner zweiten Frau Mary Gerold, die er auch zu seiner Alleinerbin machte. In seinem Abschiedsbrief an sie schrieb er über sich selbst: „Hat einen Goldklumpen in der Hand gehabt und sich nach Rechenpfennigen gebückt; hat nicht verstanden und hat Dummheiten gemacht, hat zwar nicht verraten, aber betrogen, und hat nicht verstanden.“
Gerhard Zwerenz vertritt in seiner Biografie die These, Tucholsky sei nicht in der Lage gewesen, „intellektuelle Fähigkeiten beim Weib zu akzeptieren, ohne die Frau zugleich zu maskulinisieren“. Als Belege dafür führt er Aussagen an wie: „Frankfurt hat zwei große Männer hervorgebracht: Goethe und Gussy Holl“, oder die Tatsache, dass er Mary Gerold in seinen Briefen meist mit „Er“ angesprochen habe. Letztlich bleiben nachträgliche psychologische Betrachtungen dieser Art immer Spekulation. Fest steht, dass Tucholsky in seinen Erzählungen Rheinsberg und Schloß Gripsholm ein für damalige Verhältnisse fortschrittliches Frauenbild propagierte. „Claire“, die „Prinzessin“ und „Billie“ sind selbständige Frauen, die ihre Sexualität nach eigenen Vorstellungen ausleben und sich nicht überkommenen Moralvorstellungen unterwerfen. Dies gilt auch für die Figur des flatterhaften „Lottchen“. Seine Abneigung gegen asexuelle Intellektuelle im Reformkleid brachte Tucholsky in der Figur der Lissy Aachner in Rheinsberg zum Ausdruck. Die bösartige Direktorin des Kinderheims in Schloß Gripsholm entspricht dagegen eher dem Typus, den Tucholsky in seiner Mutter Doris gesehen haben könnte.
Siehe auch
Werke
- Rheinsberg: Ein Bilderbuch für Verliebte. Bilder von Kurt Szafranski. Axel Juncker Verlag, Berlin 1912. Aktuelle Ausgabe: Anaconda, Köln 2010, ISBN 978-3-866474-98-7. Hörbuch: Gelesen von Anna Thalbach, Argon Verlag, Berlin 2009, ISBN 978-3866107465.
- Der Zeitsparer. Grotesken von Ignaz Wrobel. Reuß & Pollack, Berlin 1914. Faksimile: Herausgegeben von Annemarie Stoltenberg, Verlag am Galgenberg, Hamburg 1988. ISBN 3-925387-13-7.
- Fromme Gesänge Von Theobald Tiger mit einer Vorrede von Ignaz Wrobel. Felix Lehmann Verlag, Charlottenburg 1919, Berlin 1979.
- Träumereien an preußischen Kaminen. Von Peter Panter, mit Bildern von Alfons Wölfe. Felix Lehmann Verlag, Charlottenburg 1920. Aktuelle Ausgabe: WFB Verlagsgruppe, Bad Schwartau 2009. ISBN 978-3-86672-300-9.
- Ein Pyrenäenbuch. Verlag Die Schmiede, Berlin 1927. Aktuelle Ausgabe: Insel-Verlag, Frankfurt am Main 2007, ISBN 978-3458349938.
- Mit 5 PS. Rowohlt Verlag, Berlin 1928. Aktuelle Auflage: 1985, ISBN 3-499-10131-9.
- Deutschland, Deutschland über alles. Ein Bilderbuch von Kurt Tucholsky und vielen Fotografen. Montiert von John Heartfield. Universum Bücherei für alle, Berlin 1929. Aktuelle Ausgabe: biblioviel Verlag, Bochum 2006. ISBN 978-3938081914.
- Das Lächeln der Mona Lisa. Rowohlt Verlag, Berlin 1929. 1985 (5. Aufl.).
- Lerne lachen ohne zu weinen. Rowohlt Verlag, Berlin 1931. Originalgetreuer Nachdruck: Olms-Verlag, Hildesheim/Zürick/New York City 2008, ISBN 978-3-487-13618-9. Hörbuch: Gelesen von Jürgen von der Lippe, Bell-Musik, Aichtal 2008, ISBN 978-3-940994-01-1.
- Schloß Gripsholm. Rowohlt Verlag, Berlin 1931. Aktuelle Ausgabe: Greifenverlag, Rudolstadt/Berlin 2009, ISBN 978-3-86939-239-4.
- Walter Hasenclever, Kurt Tucholsky: Christoph Kolumbus oder Die Entdeckung Amerikas. Komödie in einem Vorspiel und sechs Bildern. Von Walter Hasenclever und Peter Panter (1932). Ms. Neuer Bühnenverlag, Zürich 1935, Das Arsenal, Berlin 1985. ISBN 3-921810-72-8.
Werkausgaben
- Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände. Rowohlt, Reinbek 1996 ff. ISBN 3-498-06530-0 ff.
- Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt, Reinbek 1975. ISBN 3-499-29011-1
- Deutsches Tempo. Gesammelte Werke. Ergänzungsband 1. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und J. Raddatz. Rowohlt, Reinbek 1985. ISBN 3-498-06483-5
- Republik wider Willen. Gesammelte Werke. Ergänzungsband 2. Hrsg. von Fritz J. Raddatz. Rowohlt, Reinbek 1989. ISBN 3-498-06497-5
- Gesammelte Werke. Bde. 1–3, 1907–1932. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt, Reinbek 1960f
- Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Hrsg. von Roland Links, Volk und Welt, Berlin 1969–1973
Briefe und Tagebücher
- Sudelbuch. Rowohlt, Reinbek 1993. ISBN 3-498-06506-8
- Die Q-Tagebücher. 1934–1935. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Gustav Huonker. Rowohlt, Reinbek 1978, 1985. ISBN 3-499-15604-0
- Ausgewählte Briefe 1913–1935. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt, Reinbek 1962.
- Unser ungelebtes Leben. Briefe an Mary. Hrsg. von Fritz J. Raddatz. Rowohlt, Reinbek 1982, 1990. ISBN 3-499-12752-0
- Briefe aus dem Schweigen. 1932–1935. Briefe an Nuuna. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Gustav Huonker. Rowohlt, Reinbek 1977, 1990. ISBN 3-499-15410-2
- Briefe an eine Katholikin. 1929–1931. Rowohlt, Reinbek 1969, 1970. ISBN 3-498-06463-0
Literatur
- Klaus Bellin: Es war wie Glas zwischen uns: Die Geschichte von Mary und Kurt Tucholsky. Verlag für Berlin-Brandenburg, Berlin 2010, ISBN 978-3-86650-039-6
- Antje Bonitz, Thomas Wirtz: Kurt Tucholsky. Ein Verzeichnis seiner Schriften. Bd. 1–3. Marbach am Neckar 1991 (Deutsches Literaturarchiv: Verzeichnisse, Berichte, Informationen 15).
- Helga Bemmann: Kurt Tucholsky. Ein Lebensbild. Verl. der Nation, Berlin 1990, Ullstein 1994. ISBN 3-548-35375-4
- Helga Bemmann: In mein’ Verein bin ich hineingetreten. Kurt Tucholsky als Chanson- und Liederdichter. Lied der Zeit Musikverl, Berlin 1989. ISBN 3-7332-0037-3
- Michael Hepp: Kurt Tucholsky. Biographische Annäherungen. Rowohlt, Reinbek 1993, 1999. ISBN 3-499-22629-4
- Michael Hepp: Kurt Tucholsky. Rowohlt Monographie, Reinbek 1998, 2002. ISBN 3-499-50612-2
- Fritz J. Raddatz: Tucholsky. Ein Pseudonym. Reinbek 1989, 1993. ISBN 3-499-13371-7
- Regina Scheer: Kurt Tucholsky. „Es war ein bisschen laut“, Hentrich & Hentrich Verlag Berlin 2008, ISBN 978-3-938485-57-6.
- Dieter Mayer: Kurt Tucholsky - Joseph Roth - Walter Mehring. Beiträge zu Politik und Kultur zwischen den Weltkriegen. Peter Lang, Frankfurt am Main 2010. ISBN 978-3-631-60893-7
- Renke Siems: Die Autorschaft des Publizisten. Schreib- und Schweigeprozesse in den Texten Kurt Tucholskys. Heidelberg 2004. ISBN 3-935025-34-3
- R. v. Soldenhoff (Hrsg.): Kurt Tucholsky – 1890–1935. Ein Lebensbild. Weinheim u. Berlin 1987. ISBN 3-88679-138-6, ISBN 3-88679-154-8
- Gerhard Zwerenz: Kurt Tucholsky. Biographie eines guten Deutschen. Bertelsmann, München 1979, Goldmann 1986. ISBN 3-442-06885-1
Weblinks
Commons: Kurt Tucholsky – Sammlung von Bildern, Videos und AudiodateienWikiquote: Kurt Tucholsky – ZitateWikisource: Kurt Tucholsky – Quellen und Volltexte- Literatur von und über Kurt Tucholsky im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Sonja Kock/Janca Imwolde: Tabellarischer Lebenslauf von Kurt Tucholsky im LeMO (DHM und HdG)
- Werke von Kurt Tucholsky bei Zeno.org
- Werke von Kurt Tucholsky im Projekt Gutenberg-DE
- Linksammlung der Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin
- Werke von Kurt Tucholsky bei textlog.de
- Kurt Tucholsky-Gesellschaft (mit Biografie, Bibliografie und Texten)
- Leben und Werk von Kurt Tucholsky Biographie, Interpretationen, Kurzinhalte, Bibliographie
- Kurt-Tucholsky.info – Lebenslauf, Sammlung seiner Werke, Hintergrundinformationen
- Eigenhändige Vita Tucholskys 1934
- Linksammlung zu Tucholsky-Texten
- Katalog einer Ausstellung mit vielen Originaldokumenten (PDF, 4 MB)
- Kostenlose Hörbücher mit Gedichten und Texten Tucholskys
- Tucholsky bei LibriVox
- Kurt Tucholsky Literatur Museum im Schloss Rheinsberg
- Sudelblog.de – Das Weblog zu Kurt Tucholsky
- Erich Kuby: Kein Tucholsky heute (Tucholsky-Rezeption im Nachkriegsdeutschland)
- Christoph Schottes: Tucholsky und Ossietzky nach; 1933 (PDF)
- Süddeutsche Zeitung: Tucholsky als journalistisches Vorbild
- Kurt Tucholsky in Who’s Who
- Bundesarchiv: 70. Todestag von Kurt Tucholsky
Einzelnachweise
- ↑ Mitteldeutsche-Zeitung-Gespräch mit Peter Böthig vom 20. Dezember 2005: Tucholsky hatte seinen Tod gewollt
- ↑ Klaus-Peter Schulz, Kurt Tucholsky mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, rororo, Reinbek 1992, S. S. 64–74 u.ö.
- ↑ Gemeint ist das Übungsbuch zur Arithmetik und Algebra des Rostocker Gymnasiallehrers Eduard Wrobel.
- ↑ Eric Saunier: Encyclopédie de la Franc-Maconnerie. In: Humanität Nr. 7/1985 S. 8ff. 2000, S. 867f.
- ↑ Michael Hepp: Kurt Tucholsky. Biographische Annäherungen, S. 369–374, 567
- ↑ Ignaz Wrobel: Requiem. In: Die Weltbühne, 21. Juni 1923, S. 732.
- ↑ Theobald Tiger: Vor acht Jahren, in: Die Weltbühne', 16. November 1926, S. 789
- ↑ Rede von Gershom Scholem auf der Fünften Plenartagung des Jüdischen Weltkongresses, in: Deutsche und Juden. Frankfurt am Main 1967, S. 39
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