- Kleinstaaterei
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Kleinstaaterei ist ein in der Regel abwertendes Schlagwort für die innere Struktur des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation in seiner Spätphase und des Deutschen Bundes.
Inhaltsverzeichnis
Begriff
Der staatliche Verdichtungsprozess in der Neuzeit hatte im Heiligen Römischen Reich nicht zum Entstehen eines geschlossenen Staats auf Reichsebene geführt, wie es beispielsweise in Frankreich der Fall gewesen war. Vielmehr bauten die einzelnen Fürsten in ihren Territorien zunehmend effizientere Verwaltungsapparate auf, unter anderem in den Bereichen Militär, Justiz, Zollwesen und Domänenverwaltung. Auf Reichsebene existierten keine vergleichbaren Strukturen. Der Deutsche Bund im 19. Jahrhundert konnte keine ähnliche Zusammengehörigkeit schaffen wie die Schweizerische Eidgenossenschaft.
Ursachen
Ursache für die Kleinstaaterei war das monarchische Prinzip, das in allen Staaten des Alten Reiches mit Ausnahme der Reichsstädte und der Geistlichen Territorien herrschte. Starb der Fürst eines solchen Gebietes und hinterließ mehrere Söhne, so stellte sich die Frage, wer Erbe des Landes werden sollte. Entweder der älteste Sohn erbte das Land allein und die jüngeren Geschwister wurden gegebenenfalls mit Geld oder Sachwerten abgefunden (Prinzip der Primogenitur) oder das Land wurde unter allen Erbberechtigten aufgeteilt, was zur Kleinstaaterei führte.
Germanischer und deutscher Tradition entsprach dabei mehr das Teilungsprinzip, schließlich hatten schon die Merowinger und Karolinger ihre Reiche mehrmals beim Tod eines Monarchen geteilt. Das Prinzip der Primogenitur wurde schließlich 1356 durch die Goldene Bulle des Kaisers Karl IV. für die Kurfürstentümer festgeschrieben, in den anderen Territorien gingen die Landesteilungen jedoch weiter. So entstanden immer kleinere Territorien, mit in der Regel immer längeren Namen (beispielsweise Sachsen-Coburg und Gotha, Schleswig-Holstein-Sonderburg-Glücksburg).
Außerdem wurde meistens so geteilt, dass nicht zusammenhängende Länder entstanden; vielmehr wurde das Land nach Ämtern (damals die kleinste Verwaltungseinheit) aufgeteilt, wobei zumindest in der Theorie darauf geachtet wurde, dass jeder Bruder Ämter erhielt, die ihm ungefähr die gleichen Einnahmen sicherten. So entstand ein Flickenteppich kleinstteiliger Territorien mit En- und Exklaven, wie er unter anderem die thüringische Geschichte (vgl. Thüringische Staaten) bestimmte. Zwar gab es auch den umgekehrten Fall, dass durch das Aussterben einer dynastischen Linie deren Gebiet wieder mit dem Gebiet der Hauptlinie vereint wurde (so 1863 Anhalt-Köthen, Anhalt-Bernburg und Anhalt-Dessau zum Herzogtum Anhalt), in der Tendenz entstanden jedoch immer mehr und immer kleinere Einheiten. Da diese Einheiten so klein waren, dass sie wirtschaftlich kaum überlebensfähig waren, gingen im 19. Jahrhundert viele Fürsten dazu über, für ihr Land durch Hausgesetz das Prinzip der Primogenitur festzuschreiben.
19. Jahrhundert
Nach dem durch Napoleon I. hervorgerufenen Zusammenbruch des Heiligen Römischen Reichs im Jahr 1806 (Rheinbund) blieb die Kleinstaaterei auf deutschem Boden weitestgehend erhalten. Mit dem Siegeszug der Idee der Nation stieß diese Struktur auf immer stärker werdende Ablehnung unter den progressiven Kräften, die für Deutschland ebenfalls eine Entwicklung hin zum Nationalstaat forderten. Ihre Ablehnung der bestehenden Verhältnisse spiegelte sich im abfälligen Gebrauch des Ausdrucks "Kleinstaaterei" wider. Deren Überwindung war auch zentrales Ziel der Märzrevolution von 1848, die aber am Widerstand der regierenden Fürstenhäuser scheiterte. Der „Operettenstaat“ mit seinem „Duodezfürsten“ wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Spottbegriff.
Mit der Gründung des Norddeutschen Bundes durch Otto von Bismarck wurde die Kleinstaaterei überwunden und 1867 die Basis eines kleindeutschen Nationalstaats (ohne Österreich-Ungarn), zunächst ohne Baden, Bayern, Württemberg und dem südlich des Mains gelegenen Landesteil Hessens, geschaffen. Die letztgenannten Länder traten 1871 dem gleichzeitig proklamierten deutschen Kaiserreich bei; und schlossen auf diese Weise die Bildung des kleindeutschen Staats ab. Die Kleinstaaten blieben als Bundesstaaten des Reiches vielfach bestehen, hatten aber nur noch relativ beschränkte Kompetenzen.
20. Jahrhundert
Mit der Abschaffung der Monarchien 1918 auch in den Bundesstaaten wurden weitere Kleinstaaten beseitigt (z. B. die Vereinigung der vier verbliebenen Ernestinischen Herzogtümer, der beiden Reussischen Staaten und der beiden Schwarzburger Staaten (Schwarzburg-Sondershausen, Schwarzburg-Rudolstadt) zum Land Thüringen). Diese Entwicklung wurde nach dem Zweiten Weltkrieg weitergeführt (z. B. Vereinigung von Braunschweig, Hannover, Oldenburg und Schaumburg-Lippe zum Land Niedersachsen).
Die territoriale Vielfalt im Heiligen Römischen Reich und im Deutschen Bund wird heute durchaus auch positiv bewertet, zumal die Polyzentralität wesentlich zur Vielfältigkeit der kulturellen Entwicklung in Deutschland beigetragen hat. Kleine Fürstentümer, wie Weimar oder Anhalt konnten - auch aufgrund der Nähe regionaler Großmächte - nicht durch militärische Machtenfaltung und Eroberung glänzen und entwickelten sich zu kulturellen Leuchttürmen ihrer Zeit.
Von „Kleinstaaterei“ sprach man bis zur Einigung des Landes (Risorgimento) auch im Zusammenhang mit Italien. Der Schweizerische Föderalismus ist eine Sonderform der Kleinstaaterei („Kantönligeist“).
Siehe auch
Kategorien:- Deutsche Geschichte (19. Jahrhundert)
- Zoll
- Politische Geographie
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