Komplexes regionales Schmerzsyndrom

Komplexes regionales Schmerzsyndrom
Klassifikation nach ICD-10
M89 Sonstige Knochenkrankheiten
M89.0 Neurodystrophie (Algodystrophie)
Schulter-Hand-Syndrom
Sudeck-Knochenatrophie
Sympathische Reflex-Dystrophie
ICD-10 online (WHO-Version 2011)

Das komplexe regionale Schmerzsyndrom (Complex regional pain syndrome, CRPS) gehört zu den neurologisch-orthopädisch-traumatologischen Erkrankungen. Der Begriff fasst die synonym verwendeten Bezeichnungen Reflexdystrophie, Morbus Sudeck, Sudeck-Dystrophie, Algodystrophie und sympathische Reflexdystrophie zusammen, die nach vorliegendem Konsens nicht mehr benutzt werden.

Die Krankheit ist dadurch gekennzeichnet, dass es nach äußerer Einwirkung (z. B. Traumen, Operationen und Entzündungen) über längere Sicht zu einer Dystrophie und Atrophie von Gliedmaßenabschnitten kommt. Als Symptome treten Durchblutungsstörungen, Ödeme, Hautveränderungen, Schmerzen und schließlich Funktionseinschränkungen auf. Die Erkrankung tritt bei Erwachsenen häufiger an den oberen Gliedmaßen als an den unteren auf, sie ist relativ häufig nach Radiusfrakturen. Frauen sind häufiger betroffen.

Bei noch nicht zufriedenstellend geklärtem Entstehungsmechanismus wird eine neuronale Entzündungsreaktion, sowohl peripher als auch zentral, in Kombination mit einer kortikalen Reorganisation als Ursache diskutiert. Die Therapie erfolgt rein symptomatisch und sollte im interdisziplinären Austausch stattfinden, wobei sowohl zentral als auch peripher wirksame Analgetika zum Einsatz kommen, ebenso wie Ergotherapie, Physiotherapie und lokal antiphlogistisch wirkende Medikamente. Die Prognose ist insgesamt eher als ungünstig anzusehen, da die Symptome meist erst in einem späteren Stadium dem richtigen Krankheitsbild zugeordnet werden können.

Inhaltsverzeichnis

Pathogenese

Die Pathogenese des CRPS ist noch nicht vollständig geklärt. Es wird ein gestörter Heilungsverlauf des betroffenen Gewebes vermutet. Bemerkenswert ist, dass das Auftreten eines CRPS und dessen Schweregrad nicht vom Schweregrad der Ausgangsverletzung abhängt. Folgendes Entstehungsmodell wird aktuell diskutiert: Es kommt zu einer Entzündungsreaktion, bei der Entzündungsmediatoren (Substanz P, CGrP) ausgeschüttet werden, die nicht mehr in ausreichender Menge abgebaut werden und somit die neurogene Entzündungsreaktion verlängern. Diese Ausschüttung der genannten entzündungsvermittelnden Substanzen (Mediatoren) erfolgt auch im zentralen Nervensystem (ZNS), wodurch es zu einer Sensibilisierung der zentralen schmerzverarbeitenden Nervenzellverbände (Neuron) kommt. Die Veränderungen der Durchblutung und Schweißneigung der Haut kommen durch eine zentral bedingte Fehlfunktion des Sympathikus zustande, wobei der genaue Mechanismus hierbei noch im Dunkeln liegt. Durch die Verengung der Gefäße (Vasokonstriktion) und die Ausbildung von arterio-venösen Shunts[1] kommt es zu einer Unterversorgung des Gewebes mit Sauerstoff (Hypoxie), wodurch vermehrt saure Abbauprodukte anfallen (Azidose), die zu einer Schmerzverstärkung beitragen.

Wie beim Phantomschmerz kommt es auch beim CRPS zu einer kortikalen Reorganisation. Dabei handelt es sich um eine Veränderung der einzelnen Repräsentationsbereiche (z. B. der Hand) in der Großhirnrinde, wodurch auch die Ausweitung der Schmerzen über ein bestimmtes Nervenversorgungsgebiet hinaus erklärt werden kann. Es bestehen Hinweise auf eine genetische Disposition.

CRPS Typ I nach distaler Radiusfraktur

Die distale Radiusfraktur ist das häufigste einem CRPS vorausgehende Trauma. Mit einer Inzidenz von 7 % bis 37 %[2] ist es eine häufige Komplikation dieser Fraktur. Allerdings nimmt die Häufigkeit in den letzten 40 Jahren kontinuierlich ab. Der in gleichem Maße ansteigende Anteil an operativ stabilisierten Radiusfrakturen legt den Schluss nahe, dass hierdurch dem CRPS teilweise vorgebeugt werden kann. Es gilt als sicher, dass einige Faktoren die Entstehung eines CRPS begünstigen. Hier sind vor allem zu nennen: Instabile Retention, sekundäre Verschiebung, mehrfache Repositionsversuche und einschnürende, die Beweglichkeit der Finger einschränkende Gipsverbände.

Am häufigsten sind Frauen nach der Menopause betroffen. Die Angaben schwanken hierzu zwischen etwa 70% bis 90%. Allerdings erleidet auch diese Patientengruppe die häufigsten Radiusfrakturen.

Unterteilung

  • CRPS Typ I (M. Sudeck): Trauma ohne Nervenverletzung
  • CRPS Typ II (Kausalgie): Trauma mit Nervenverletzung

Stadieneinteilung

Akute Entzündung bei CRPS

Die Krankheit kann unbehandelt einen chronischen Verlauf nehmen. Es kann eine Einteilung nach dem zeitlichen Verlauf als auch nach Symptomen erfolgen.

Zeitlicher Verlauf

  • Akute entzündliche Schwellung (0–3 Monate) mit lokalen Entzündungszeichen (Schwellung, Rötung, Wärme, Schmerz, Funktionsstörung)
  • Dystrophie (drei bis sechs Monate) mit Gelenkversteifung
  • Atrophie (sechs bis zwölf Monate) = Endstadium (keine Funktion mehr)

Symptome

Die Symptome sind anfangs unspezifisch, so dass die Diagnosestellung verzögert werden kann. Ebenso ist der Krankheitsverlauf individuell stark unterschiedlich, wobei von der spontanen Totalremission bis zur Progression mit nicht unerheblicher Einschränkung der Lebensqualität alle Abstufungen zu finden sind.

Motorische Störungen

Bei mehr als drei von vier Patienten besteht eine Schwäche der betroffenen Extremität, die im Akutstadium durch Schmerzen und das Ödem bedingt ist, im chronischen Stadium durch Kontrakturen und Fibrosen. Bei der Hälfte der Patienten besteht ein Tremor und bei jedem Dritten kommt es zu Myoklonien.

Sensorische Störungen

Bei vielen Patienten kommt es zur sogenannten Hyperalgesie, also zu einer stark erhöhten Schmerzempfindlichkeit meist auf mechanische Reize oder zur Allodynie, d. h. Schmerzen bei einer eigentlich nicht schmerzhaften Empfindung (z. B. Bestreichen der Haut mit einem Wattebausch). Bei ca. drei von vier Patienten besteht ein Ruheschmerz, der individuell sehr unterschiedlich ausfällt (bzw. brennend oder prickelnd). In selteneren Fällen kommt es zu Taubheit oder einem Fremdheitsgefühl der betroffenen Extremität.

Autonome Störungen

Fast immer kommt es im Anfangsstadium zu Rötung, Schwellung (Ödem) und Erhitzung der Haut (Zeichen der Entzündung), die sich bei längerem Fortbestehen (Chronifzierung) zu einer Blaufärbung und Kältegefühl verändert. In der Hälfte der Fälle besteht eine erhöhte Schwitzneigung (Hyperhydrosis).

Veränderungen im Röntgenbild

Beim Übergang in das chronische Stadium finden sich typische Veränderungen auf Röntgenaufnahmen des Handgelenkes und der Hand: Es treten fleckige Aufhellungen, also Stellen mit vermehrter Strahlentransparenz, auf, bedingt durch Verringerung des Kalksalzgehaltes im Knochen. Diese nehmen bei fortschreitender Chronifizierung zu, bis das Bild einer hochgradigen Inaktivitätsosteoporose vorliegt. Zu diagnostischen Zwecken im Anfangsstadium ist eine Röntgenuntersuchung allerdings ungeeignet, da hier noch keine Veränderungen sichtbar werden.

Trophische Störungen

In vielen Fällen kommt es im akuten Stadium zu einem vermehrten Nagel- und Haarwachstum, im chronischen Stadium wechselt es ins Gegenteil. In schweren Fällen kann es zum Abbau der Muskulatur (Atrophie) mit der Ausbildung von Kontrakturen und folglicher Bewegungseinschränkung kommen.

Therapie

Die Behandlung ist oft langwierig und kann für Patienten und Therapeuten frustrierend sein. Die Prognose ist am besten, wenn die Krankheit zeitig erkannt und behandelt wird. Chronische schwere Verläufe sind insgesamt mit weniger als 2 % der Fälle eher selten.

Es gibt keine Standardtherapie, jegliche Therapieoptionen sind rein symptomatisch:

  • Krankengymnastik: Zwar ist physiotherapeutische Beübung in der Prophylaxe nach frischen Frakturen unumstritten, jedoch hilft in der Therapie nur stadiengerecht angepasste Krankengymnastik. Nie verboten sind kontralaterale Aktivitäten. Übungen der betroffenen Extremität hingegen sollte im akuten, von Ödem, Rötung und Schmerz betroffenen Abschnitt unterlassen werden. Ist die akute Entzündungsphase vorbei, ist milde Aktivität hilfreich, später mit einsetzender Dystrophie fortdauernd beizubehalten. Ärztliche Überwachung des Effekts und ggf. Anpassung der Verordnung sind notwendig.
  • In der Ergotherapie können zusätzlich in den Anfangsstadien Lagerungsschienen angefertigt werden, um den Bewegungsschmerz zu reduzieren und Fehlstellungen z. B. in der Nacht vorzubeugen; Die Ergotherapie arbeitet ganzheitlich und berücksichtigt unter gezielter Verwendung eines sehr breiten Spektrums an Behandlungsmethoden auch die psychische Situation der betroffenen Patienten; eine weitere wichtige Behandlung ist die Ödembehandlung.
  • Schmerztherapie: trizyklische Antidepressiva, Calciumantagonisten, periphere Analgetika (NSAID, z. B. Ibuprofen oder Diclofenac) oder Opioide (wie Morphin).
  • lokale Anwendung von steroidhaltiger Salbe oder DMSO (Dimethylsulfoxid als Radikalfänger).[3]
  • In bestimmten Fällen (Harden/Swan)ist eine Blockade des sympathischen Ganglion stellatum angezeigt. Sie sollte nach Möglichkeit innerhalb der ersten sechs Monate der Krankheitsdauer erfolgen, da nur dann Besserungsraten von bis zu 70 % erzielt werden können.
  • Der frühzeitige Einsatz von Calcitonin (Nasenspray) kann den Verlauf positiv beeinflussen.
  • Durch Rheologika wie Haes kann die Durchblutung in den Kapillaren verbessert werden.[1]
  • Eine weitere Möglichkeit, CRPS zu behandeln, besteht darin, den Patienten für bis zu fünf Tage in Narkose zu versetzen. Alle bisher so behandelten Patienten wachten beschwerdefrei auf, jedoch kehrten die Schmerzen bei jedem zweiten nach einigen Monaten zumindest ansatzweise wieder zurück. Diese Methode wird nur bei absolutem Versagen der anderen Möglichkeiten angewandt.

Die Therapie gehört auf jeden Fall in die Hände von in der Schmerztherapie erfahrenen Fachärzten für Unfallchirurgie, Physikalische Medizin und Rehabilitation, Handchirurgen, Orthopäden, Neurologen oder Anästhesisten im interdisziplinären Austausch.

Siehe auch

Quellen

  • Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie; 4. überarbeitete Auflage 2008, ISBN 978-3-13-132414-6; Georg Thieme Verlag Stuttgart
  • R. N. Harden, M. Swan (et al.): Treatment of Complex Regional Pain Syndrome: Functional Restoration. Clinical Journal of Pain. 2006 Jun; 22 (5): 420–424.
  • D. V. Nelson, B. R. Stacey: Interventional Therapies in the Management of Complex Regional Pain Syndrome. Clinical Journal of Pain. 2006 Jun; 22 (5): 438–442.
  • J. Klingelhöfer, M. Rentrop: Klinikleitfaden „Neurologie, Psychiatrie“, S. 252.
  • Interne Fortbildung der Abteilung für Neurologie, Dr. Landgrebe, Krankenhaus der BB R., April 2005.
  • F. U. Niethard, J. Pfeil: Orthopädie. 4. Auflage, 2003, ISBN 3-13-130814-1.
  • G. Wasner, J. Schattschneider (et al.): Das komplexe regionale Schmerzsyndrom. Der Anaesthesist. 2003 Oct; 0(10): 883–895.
  • M. Rizzo, SS Balderson, DH Harpole, LS Levin: Thoracoscopic sympathectomy in the management of vasomotor disturbances and complex regional pain syndrome of the hand. Orthopedics. 2004 Jan; 27(1): 49–52.
  • Bild der Wissenschaft 8/2006 „Heilung am Rande des Todes“.

Einzelnachweise

  1. a b E. Scola: Diagnostik und Therapie der Algodystrophie, in Trauma und Berufskrankheit, 2006 · 8 [Suppl. 2], S. 225–228.
  2. C. Kübler: Behandlungsergebnisse nach operativer Versorgung bei distalen Radiusfrakturen mit und ohne Carpaltunnelspaltung, Diss., Stuttgart 2007 hier als PDF-Datei, S. 90.
  3. W. W. A. Zuurmond et al.: Treatment of acute reflex sympathetic dystrophy with DMSO 50% in a fatty cream, in Acta Anaesthesiologica Scandinavica, 40/1996, S. 364–367.
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