Kontrafaktorische Geschichtsforschung

Kontrafaktorische Geschichtsforschung

In der kontrafaktischen Geschichte (lat.: contra facta = entgegen den Tatsachen), auch virtuelle Geschichte oder Uchronie genannt, wird auf der Grundlage der durch Quellen gesicherten Faktenlage kontrolliert spekuliert, was geschehen wäre, wenn bestimmte historische Tatsachen nicht oder anders eingetroffen wären. Ziel ist ein Erkenntnisgewinn über Kontinuitäten und Brüche, über Zwangslagen und Handlungsspielräume in historischen Situationen oder über die Bewertung von deren Akteuren. Hiermit verwandt ist die belletristische Alternativweltgeschichte, die allerdings in erster Linie Unterhaltungsbedürfnisse befriedigt.

Typische Fragestellungen sind unter anderem:

Es werden also Alternativszenarien im Irrealis der Vergangenheit entworfen, wobei generell gilt: Je weiter ein Ereignis zurückliegt, desto hypothetischer werden die Aussagen für seine Auswirkungen.

Inhaltsverzeichnis

Problem der Wissenschaftlichkeit

Kontrafaktische Geschichte wird von vielen Historikern als unwissenschaftlich abgelehnt, da sie nur unfalsifizierbare Spekulationen hervorbringe. In der Tat existieren keine Bedingungen, unter denen jemand, der eine kontrafaktische Aussage aufstellt, gezwungen ist einzugestehen, dass sie unwahr ist. Um ein konkretes Beispiel zu gebrauchen: Die verbreitete These, dass der deutsche Überfall auf die Sowjetunion 1941 zur Einnahme Moskaus und zu einem Sieg des Deutschen Reiches im Zweiten Weltkrieg geführt hätte, wenn er nur früher im Jahr begonnen worden wäre, kann ebenso wenig bewiesen werden wie ihr Gegenteil – die Geschichtswissenschaft ist eben aus naheliegenden Gründen keine experimentelle Wissenschaft.

Kontrafaktische Geschichte als implizites Argument bei Wertungen

Trotz ihres im strengen Sinne unwissenschaftlichen Charakters spielen kontrafaktische Aussagen in der Geschichtswissenschaft gleichwohl eine erhebliche Rolle. Denn virtuelle Geschichte ist bei den Wertungen und Gewichtungen, die auch betont wissenschaftlich arbeitende Historiker vornehmen, oft implizit entscheidend. Die plausible Annahme etwa, dass eine der Ursachen der Französischen Revolution der wirtschaftliche Aufschwung des Bürgertums war, impliziert die kontrafaktische Spekulation, dass es ohne diesen Aufschwung auch keine Revolution gegeben hätte. Auch die berühmte Behauptung des damaligen Kriegsministers Henry L. Stimson, wonach die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki hunderttausenden amerikanischen Soldaten das Leben retteten, beinhaltet eine unbeweisbare Spekulation darüber, wie der Krieg ohne die Bomben zu Ende gebracht worden wäre.

Überhaupt beruht schlechterdings jede Benennung einer Person oder eines Faktums als „groß“ oder „bedeutend“ auf der meist unausgesprochenen Überlegung, dass ohne diese Person oder dieses Faktum der Rest der Geschichte völlig anders verlaufen wäre.

Außerdem kreisen eine ganze Reihe von geschichtswissenschaftlichen Kontroversen um kontrafaktische Aussagen: Die sog. „Borchardt-Kontroverse“, die der Münchner Wirtschaftshistoriker Knut Borchardt 1979 mit der These auslöste, Reichskanzler Heinrich Brüning habe gar keine Alternative zu seiner krisenverschärfenden Deflationspolitik gehabt, wird hauptsächlich im Irrealis der Vergangenheit geführt: Hätte Brüning eine andere Politik betreiben können oder nicht? Auch der Streit um die Rolle Friedrich Eberts in der Novemberrevolution kreist um eine kontrafaktische Frage: Hätte Ebert auf die Zusammenarbeit mit den monarchistischen Eliten verzichten können, die die Weimarer Republik später so belastete, oder hätten dann die Linksradikalen Deutschland in ein Chaos gestürzt?

Einige Historiker machen auf Grund dieser Einsicht ihre Geschichtsspekulationen sogar explizit. Provokativ tat dies der britische Historiker Niall Ferguson, als er in seinem Buch Der falsche Krieg eine virtuelle Alternative zum Ersten Weltkrieg aufzeigte: Hätte sich Großbritannien 1914 herausgehalten, wäre der Effekt zwar ein deutscher Sieg gewesen – gleichzeitig aber auch ein prosperierendes, demokratisches Europa ohne Zweiten Weltkrieg, da es (nach Ferguson) in Deutschland keinen Nationalsozialismus gegeben hätte, den er vor allem für eine Wirkung des Versailler Vertrags hält.

Kontrafaktische Geschichte im Unterricht

Bedeutsam sind kontrafaktische Spekulationen auch in der Geschichtsdidaktik. Da es für Schüler demotivierend ist, immer nur mit Fragen und Problemen konfrontiert zu werden, die längst entschieden und gelöst sind, hat es sich als fruchtbar erwiesen, ihnen die historischen Situationen als offen darzustellen. Dann kann auch zunächst unabhängig davon, wie die Akteure denn tatsächlich gehandelt haben, von den Schülern kontrovers diskutiert werden, so zum Beispiel:

Dabei entstehen ganz von selbst in der Diskussion kontrafaktische Spekulationen darüber, welche Folgen jeweils welche Option gehabt hätte.

Literatur

  • Kai Brodersen (Hrsg.): Virtuelle Antike. Wendepunkte der Alten Geschichte. Darmstadt 2000, ISBN 3-896-782215.
    (Mit mehreren „Fallbeispielen“, von Alexander über Augustus bis Konstantin.)
  • Robert Cowley (Hrsg.): Was wäre gewesen, wenn? Wendepunkte der Geschichte. Knaur, München 2000, ISBN 3-426-66423-2.
  • Alexander Demandt: Ungeschehene Geschichte. (= Kleine Vandenhoeck-Reihe; Nr. 1501). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1984, ISBN 3525340222.
  • Niall Ferguson (Hrsg.): Virtuelle Geschichte. Historische Alternativen im 20. Jahrhundert. Darmstadt 1999, ISBN 3-896-78201-0.
  • Reinhard Pohanka: Kein Denkmal für Maria Theresia. Eine alternative Geschichte Österreichs. Graz 2007, ISBN 3-701-17594-2.
  • Erik Simon (Hrsg.): Alexanders langes Leben, Stalins früher Tod. München 1999, ISBN 3-453-14912-2.
  • J. C. Squire: Wenn Napoleon bei Waterloo gewonnen hätte und andere abwegige Geschichten. München 1999, ISBN 3-453-14911-4.

Weblinks


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