- Kopftuchurteil
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Kopftuchurteil verkündet
24. September 2003Fallbezeichnung: Verfassungsbeschwerde gegen Entscheidung der Verwaltungsgerichte Fundstelle: BVerfGE 108, 282 Aussage Ein Verbot für Lehrkräfte, in Schule und Unterricht ein Kopftuch zu tragen, bedarf einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage. Die Exekutive eines Landes darf nicht aus eigener Befugnis einen Bewerber deswegen ablehnen. Richter Hassemer, Sommer, Jentsch, Broß, Osterloh, Di Fabio, Mellinghoff, Lübbe-Wolff abweichende Meinungen Jentsch, Di Fabio, Mellinghoff Angewandtes Recht Art. 4, Art. 33 Abs. 3 GG Das sogenannte Kopftuchurteil ist ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 24. September 2003 (2 BvR 1436/02), in dem es darum ging, ob einer angehenden muslimischen Lehrerin die Einstellung in den Schuldienst verweigert werden darf, weil sie beabsichtigt, ein muslimisch motiviertes Kopftuch in der Schule und während des Unterrichts zu tragen.
Inhaltsverzeichnis
Sachverhalt
Die muslimische Lehrerin Fereshta Ludin strebte die Einstellung als Beamtin auf Probe in den Schuldienst des Bundeslandes Baden-Württemberg an. Das Oberschulamt Stuttgart lehnte den Einstellungsantrag wegen mangelnder persönlicher Eignung ab, da sie nicht bereit war, während des Unterrichts auf das Tragen eines Kopftuchs zu verzichten. Insbesondere sei die mit dem Kopftuch verbundene „objektive“ Wirkung kultureller Desintegration nicht mit einer staatlichen Neutralität in Glaubensfragen zu vereinbaren.
Die gegen die Ablehnung der Einstellung eingereichten Klagen Frau Ludins vor den baden-württembergischen Verwaltungsgerichten und vor dem Bundesverwaltungsgericht wurden abgewiesen.
Urteil
Der Zweite Senat des daraufhin angerufenen Bundesverfassungsgerichts hob das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts auf und verwies die Sache dorthin zurück.
Die entgegenstehenden Entscheidungen der Verwaltungsgerichte und der zuständigen Behörden des Landes Baden-Württemberg verletzen – so das Urteil – die Lehrerin in ihren Grundrechten. Das Gericht führte weiter aus: „Das Tragen eines Kopftuchs macht im hier zu beurteilenden Zusammenhang die Zugehörigkeit der Beschwerdeführerin zur islamischen Religionsgemeinschaft und ihre persönliche Identifikation als Muslima deutlich. Die Qualifizierung eines solchen Verhaltens als Eignungsmangel für das Amt einer Lehrerin an Grund- und Hauptschulen greift in das Recht der Beschwerdeführerin auf gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amt aus Art. 33 Abs. 2 und 3 GG in Verbindung mit dem ihr durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gewährleisteten Grundrecht der Glaubensfreiheit ein, ohne dass dafür gegenwärtig die erforderliche, hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage besteht. Damit ist der Beschwerdeführerin der Zugang zu einem öffentlichen Amt in verfassungsrechtlich nicht tragfähiger Weise verwehrt worden.“
Ein Verbot für Lehrkräfte, in Schule und Unterricht ein muslimisches Kopftuch zu tragen, benötige also laut Urteil eine gesetzliche Regelung des entsprechenden Bundeslandes: Der mit zunehmender religiöser Pluralität verbundene gesellschaftliche Wandel könne für den Gesetzgeber Anlass zu einer Neubestimmung des zulässigen Ausmaßes religiöser Bezüge in der Schule sein. – Da in diesem Fall verschiedene Grundrechtsnormen miteinander konkurrieren, soll (ähnlich wie bei einer Eingriffsermächtigung in ein Grundrecht) die konkrete Ausgestaltung eines Kopftuchverbotes auf eine gesetzliche Grundlage gestellt werden.
Die Entscheidung ist mit fünf gegen drei Stimmen ergangen.
Sondervota
Die Richter, die die Entscheidung nicht mittragen, bemängeln, dass die Senatsmehrheit annimmt, bestimmte Dienstpflichten eines Beamten (die im Zusammenhang mit der Religions- oder Weltanschauungsfreiheit stehen) dürften nur durch parlamentarisches Gesetz begründet werden. Ihrer Ansicht nach ist die Dienstpflicht des Beamten kein Eingriff in eine staatsfreie Gesellschaft, sondern stattdessen die Kehrseite der Freiheit desjenigen Bürgers, dem die öffentliche Gewalt in der Person des Beamten gegenübertritt.
Gutachten
Im Urteil werden die Einschätzungen einer in der mündlichen Verhandlung gehörten Sachverständigen Frau Dr. Karakasoglu referiert. Sie legte dar, „dass das Kopftuch von jungen Frauen auch getragen werde, um in einer Diasporasituation die eigene Identität zu bewahren und zugleich auf die Traditionen der Eltern Rücksicht zu nehmen; als Grund für das Tragen des Kopftuchs sei darüber hinaus der Wunsch genannt worden, durch ein Zeichen für sexuelle Nichtverfügbarkeit mehr eigenständigen Schutz zu erlangen und sich selbstbestimmt zu integrieren. Das Tragen des Kopftuchs solle zwar in der Öffentlichkeit den Stellenwert religiöser Orientierung im eigenen Lebensentwurf dokumentieren, werde aber als Ausdruck individueller Entscheidung begriffen und stehe nicht im Widerspruch zu einer modernen Lebensführung. Die Bewahrung ihrer Differenz ist nach dem Verständnis der befragten Frauen Voraussetzung ihrer Integration. Auf der Grundlage der von der Sachverständigen geführten und ausgewerteten qualitativen Interviews lassen sich zwar keine repräsentativen Aussagen für alle in Deutschland lebenden Musliminnen treffen; die Forschungsergebnisse zeigen jedoch, dass angesichts der Vielfalt der Motive die Deutung des Kopftuchs nicht auf ein Zeichen gesellschaftlicher Unterdrückung der Frau verkürzt werden darf. Vielmehr kann das Kopftuch für junge muslimische Frauen auch ein frei gewähltes Mittel sein, um ohne Bruch mit der Herkunftskultur ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Auf diesem Hintergrund ist nicht belegt, dass die Beschwerdeführerin allein dadurch, dass sie ein Kopftuch trägt, etwa muslimischen Schülerinnen die Entwicklung eines den Wertvorstellungen des Grundgesetzes entsprechenden Frauenbildes oder dessen Umsetzung im eigenen Leben erschweren würde.“
Zu anderen eingeholten Gutachten heißt es in der Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichtes: "Ein von der Lehrerin aus religiösen Gründen getragenes Kopftuch kann allerdings deshalb besonders intensiv wirken, weil die Schüler für die gesamte Dauer des Schulbesuchs mit der im Mittelpunkt des Unterrichtsgeschehens stehenden Lehrerin ohne Ausweichmöglichkeit konfrontiert sind. Es fehlt jedoch eine gesicherte empirische Grundlage für die Annahme, dass vom Tragen des Kopftuchs bestimmende Einflüsse auf die religiöse Orientierung der Schulkinder ausgehen. Die in der mündlichen Verhandlung dazu angehörten Sachverständigen konnten von keinen gesicherten Erkenntnissen über eine solche Beeinflussung von Kindern aus entwicklungspsychologischer Sicht berichten."
Bedeutung und Reaktionen
Mit Spannung war vor der Entscheidung erwartet worden, ob das Gericht den Weg des französischen Laizismus des Staates höchstrichterlich vorschreibt oder ob den Religionen im öffentlichen Raum eine Gestaltungsmöglichkeit gegeben wird und wie dann das Gericht das Verhältnis der Religionen zueinander auslotet. Die Frage, ob dann dem Christentum und dem Islam gleiche Rechte zugebilligt werden müssten, schien nicht auflösbar.
Das Gericht hat diese Alternative aber nicht aufgenommen, sondern im föderalistischen Staat eine Entscheidung der Gesetzgeber zur Grundlage etwaiger Verbote gemacht.
Kritiker meinten, das Gericht sei der eigentlichen Frage ausgewichen und habe sich also vor einer hilfreichen klaren Entscheidung gedrückt.
Auswirkungen
Reaktionen der Länder, neue Regelungen
Aufgrund dieses Urteils haben einige Länderparlamente der Bundesrepublik Deutschland gesetzliche Regelungen zum Tragen religiöser Kleidung von Lehrern erlassen.
Trotz eines seitdem gesetzlich vorgeschriebenen Verbots für Lehrer an staatlichen Schulen in Baden-Württemberg, politische, religiöse, weltanschauliche oder ähnliche äußere Bekundungen abzugeben, die geeignet sind, die Neutralität des Landes gegenüber Schülern und Eltern oder den politischen, religiösen oder weltanschaulichen Schulfrieden zu gefährden oder zu stören, durfte eine zum Islam konvertierte Lehrerin ihre Kopfbedeckung dort zunächst auch im Unterricht behalten. Das entschied das Verwaltungsgericht Stuttgart am 7. Juli 2006. Es gab einer Stuttgarter Hauptschullehrerin Recht, die sich auf den Grundsatz der Gleichbehandlung berief. Die Lehrerin wandte sich gegen eine Weisung des Oberschulamtes Stuttgart, mit der ihr untersagt worden war, im Unterricht ein Kopftuch zu tragen. Sie war „der Auffassung, durch das Tragen des ähnlich der Form einer Mütze gebundenen, den Halsbereich nicht bedeckenden Kopftuchs gebe sie keine Bekundung mit politischem, religiösem oder weltanschaulichem Erklärungsinhalt ab. Die Kopfbedeckung trage auch keine abstrakte Gefahr der Störung des Schulfriedens in sich oder gefährde gar die Neutralität des Staates. Weiter verstoße die Weisung gegen den Gleichheitsgrundsatz, wonach niemand wegen seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauung benachteiligt oder bevorzugt werden dürfe, denn das beklagte Land schreite u. a. nicht gegen Ordensschwestern ein, die an der staatlichen Grundschule in Baden-Baden Lichtental in Ordenstracht allgemeinbildende Fächer unterrichteten.“ Das Land Baden-Württemberg vertrat die Auffassung, die Ordenstracht stelle eine christliche Tradition dar, weil die Orden in der geschichtlichen Entwicklung Europas insbesondere im Bereich Bildung und Wohlfahrtspflege kulturschöpferisch gewirkt hätten. § 38 Absatz 2 Satz 3 SchulG, der die Wahrnehmung des Erziehungsauftrags nach der Verfassung des Landes Baden-Württemberg und die entsprechende Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen vom Verbot religiöser Bekundungen durch Lehrkräfte im Unterricht ausnehme, sei nach dem Willen des Gesetzgebers gerade auf die Ordenstracht anzuwenden.[1] Auf die Berufung des Landes bestätigte der Verwaltungsgerichtshof am 14. März 2008 die ursprüngliche Weisung des Oberschulamts Stuttgart und hob die Entscheidung des Stuttgarter Verwaltungsgerichts auf. Die Lehrerin verstoße gegen eine Dienstpflicht aus dem Schulgesetz, die Weisung sei rechtmäßig. Eine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes sah das Gericht nicht, weil das Schulgesetz religiös motivierte Kleidung oder andere äußere religiöse Bekundungen unabhängig von dem Geschlecht der betroffenen Lehrkraft verbietet und sich nicht speziell gegen das von Frauen getragene islamische Kopftuch oder eine entsprechende Kopfbedeckung richtet.[2]
Unter dem Aktenzeichen Vf. 11-VII-05 hat der Bayerischer Verfassungsgerichtshof am 15. Januar 2007 entschieden, dass die bayerischen Gesetze und schulrechtlichen Regelungen – laut Presseerklärung – verfassungsgemäß sind, „wonach äußere Symbole und Kleidungsstücke, die eine religiöse oder weltanschauliche Überzeugung ausdrücken, von Lehrkräften im Unterricht nicht getragen werden dürfen, sofern die Symbole oder Kleidungsstücke bei den Schülerinnen und Schülern oder den Eltern auch als Ausdruck einer Haltung verstanden werden können, die mit den verfassungsrechtlichen Grundwerten und Bildungszielen der Verfassung einschließlich den christlich-abend-ländischen Bildungs- und Kulturwerten nicht vereinbar ist.“[3]
Die föderalistischen Regelungen im Unterricht weichen also von Bundesland zu Bundesland ab.
Keine Anwendbarkeit auf angehende Lehrkräfte
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes bezieht sich nicht auf angehende Lehrkräfte, die das Referendariat absolvieren wollen.
Eine Bestimmung im bremischen Schulgesetz, die nach Ansicht der Vorinstanz auch Referendarinnen das Kopftuch verbot, wurde vom Bundesverwaltungsgericht für von Verfassungs wegen nicht anwendbar erklärt, sofern der Schulfrieden nicht konkret gestört werde.[4]. Für Lehrer verfügt der Staat über das Ausbildungsmonopol, obwohl der Beruf, beispielsweise an Privatschulen, auch im nicht-staatlichen Bereich ausgeübt werden. Das sei im Rahmen des Art. 12 GG zu Gunsten der angehenden Lehrerin in die Abwägung einzubeziehen; ebenso die Tatsache, dass die Schulverwaltung Referendare stärker beaufsichtige und bei Konflikten schneller und effektiver reagieren könne als bei verbeamteten Lehrkräften.
Sonstiges
2011 ist wieder ein Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht anhängig. Wenn das Urteil gesprochen ist, wird es ab dann ein zweites 'Kopftuchurteil' geben.[5]
Literatur
- Ulrich Battis, Peter Friedrich Bultmann: Was folgt für die Gesetzgeber aus dem Kopftuchurteil des BVerfG? In: JZ. 59. Jg., 2004, S. 581–588.
- Robert Dübbers, Zemfira Dlovani: Der „Kopftuchstreit“ vor dem Bundesverfassungsgericht – ein Zwischenspiel. In: Arbeit und Recht. Zeitschrift für Arbeitsrechtspraxis (AuR). 52. Jg., 2004, ISSN 0003-7648, S. 6–11.
- Klaas Engelken: Nach dem Kopftuchurteil des Bundesverfassungsgerichts – Bindungswirkung des Urteils und Entscheidungsmöglichkeiten der Länder. In: BayVBl. 50. Jg., 2004, S. 97–101.
- Silke Laskowski: Der Streit um das Kopftuch geht weiter – warum das Diskriminierungsverbot wegen der Religion nach nationalem und europäischem Recht immer bedeutsamer wird. In: KJ. 2003, S. 421–444.
- Martin Morlok: Der Gesetzgeber ist am Zug – Zum Kopftuchurteil des Bundesverfassungsgerichts. In: Recht der Jugend und des Bildungswesens (RdJB). 51. Jg., 2003, ISSN 0034-1312, S. 381–392.
- Robert Christian van Ooyen: Die „Kopftuch-Entscheidung“ des Bundesverfassungsgerichts zwischen Pluralismustheorie (Kelsen/Fraenkel) und Staatstheologie (Hegel/Schmitt). In: JöR. Neue Folge, Bd. 56, 2008, S. 125–140.
- Ronald Pofalla: Kopftuch ja – Kruzifix nein? Zu den Widersprüchen der Rechtsprechung des BVerfG. In: NJW. 57. Jg., 2004, S. 1218–1220.
- Michael Sachs: Wiederbelebung des besonderen Gewaltverhältnisses? In: Nordrhein-westfälische Verwaltungsblätter (NWVBl.). 18. Jg., 2004, ISSN 0932-710X, S. 209–214.
Weblinks
Direkte Quellen zum Urteil selbst:
Verschiedene Weblinks zur Sache:
- Ein Stück Identität, Uni Kassel
- Französisches Gesetz vom 15. März 2004 (Wortlaut, französisch)
- Die Lüge von der Freiheit der Frau unterm Schleier, Hamburger Abendblatt 27. März 2004
- Kopftuchstreit: Die Falle des Laizismus (FAZ)
Siehe auch
Einzelnachweise
- ↑ Verwaltungsgericht Stuttgart Kopftuchstreit – Pressemitteilung 7. Juli 2006
- ↑ Urteil des VGH Baden-Württemberg, Az. 4 S 516/07[1].
- ↑ VerfGH 60, 1[2]
- ↑ Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes vom 26. Juni 2008, Az. 2 C 22.07, Pressemitteilung Nr. 38
- ↑ Der Streit um das Kopftuch ist zurück. - Das Kopftuch kommt wieder vor das Bundesverfassungsgericht. Zwei Lehrerinnen klagen. Aber die Länder halten an ihren Verbotsgesetzen fest.
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