Lebenskundeunterricht

Lebenskundeunterricht

Der humanistische Lebenskundeunterricht ist ein Weltanschauungsunterricht, der seit 1982 in (West-)Berliner Schulen und seit 2007 an Brandenburger Schulen angeboten wird.

Inhaltsverzeichnis

Deutschland

Geschichte des Lebenskundeunterrichts

Der Begriff Lebenskunde ist älter als das Schulfach. Bereits in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts hatte die Debatte darüber begonnen, ob der dogmatisch-konfessionell geprägte Religionsunterricht noch zeitgemäß sei und als Fach an die öffentlichen Schulen gehöre. Im Zusammenhang dieser Diskussion um eine Alternative zu dem Religionsunterricht entstand der Begriff Lebenskunde im Sinne einer nicht-religiösen ethisch-moralischen Unterweisung.

Die Geschichte der Lebenskunde als Schulfach begann 1920. Die weltliche Schulbewegung forderte einen kirchenfreien Unterricht und leitete so die Trennung von Schule und Kirche in Deutschland ein. Mit Beginn des neuen Schuljahres wurde auf Beschluss der Selbstverwaltungsgremien einiger Berliner Vorortgemeinden in den dortigen Schulen ein neues, freiwilliges Unterrichtsfach eingeführt. Dieses Fach hatte zunächst verschiedene Namen. Begriffe wie weltlicher Moralunterricht, Sittenlehre, Religionskunde und auch Lebenskunde wurden dafür verwendet. Als einheitliche Bezeichnung setzte sich der Begriff Lebenskunde im Verlauf des folgenden Jahres durch. Das Fach richtete sich an Kinder, die vom Religionsunterricht befreit waren und hatte das Ziel, ethisch-moralische Grundsätze und religionsgeschichtliche Zusammenhänge frei von konfessionell-dogmatisch verengter Anschauung zu vermitteln. Vor allem die drei Parteien der Arbeiterbewegung, SPD, USPD und KPD, setzten sich für den Lebenskundeunterricht ein. Dies war die Reaktion darauf, dass es nicht gelungen war, die alte Forderung der Arbeiterbewegung nach der Weltlichkeit des Schulwesens in der Weimarer Verfassung zu verankern.

Die laizistisch orientierten und die meisten der sozialistisch orientierten Schulpolitiker, auch viele Eltern und Lehrer, betrachteten die Einführung von Lebenskunde als eigenes Fach nur als Notlösung. Ihre eigentliche Vorstellung zielte darauf, dass die von ihnen angestrebte weltliche Einheitsschule einen Lebenskundeunterricht überflüssig machen würde, da in einer solchen Schule Lebenskunde dann allgemeines Unterrichtsprinzip wäre. Nachdem es an einigen Orten gelungen war, die Zusammenfassung der vom Religionsunterricht befreiten Kinder in eigenen Schulen zu erreichen, begann eine heftige Diskussion, ob an solchen Schulen Lebenskunde als Fach notwendig sei.

Das preußische Kultusministerium ermöglichte es, die vom Religionsunterricht befreiten Kinder in eigenen Schulen, teilweise auch in Klassen, zusammenzufassen. Diese Einrichtungen hießen offiziell Sammelschulen und -klassen. Da es sich um eine neuartige Einrichtung handelte, wurde für deren Gestaltung größtmögliche Freiheit gewährt. Deshalb gewann der Lebenskundeunterricht, wie er schließlich als Schulfach benannt wurde, große Bedeutung für Lehrer und Schüler. Da die anderen Wege, an Inhalten und Methoden der Schule etwas zu verändern, verstellt waren, wurde der Lebenskundeunterricht zum Brennpunkt für reformpädagogische Ansätze. Gleiches galt für die Simultanschulen in Ländern wie Hessen, Sachsen und Thüringen, wo Lebenskunde mehr oder minder gleichberechtigt neben den jeweiligen konfessionellen Religionsunterricht trat. Diese Entwicklung endete mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Schon im Februar 1933 wurde die Erteilung von Lebenskundeunterricht verboten, wenig später auch in den ehemals weltlichen Schulen wieder der Religionsunterricht eingeführt. Zudem wurden die weltlichen Schulen sukzessive im Verlauf eines Jahres aufgelöst.

Nach dem zweiten Weltkrieg

Religionslehre ist das einzige Fach, das im Grundgesetz (Art. 7,3) ausdrücklich als ordentliches Lehrfach genannt und daher für die Länder verbindlich ist. Art. 141 GG lässt Ausnahmen zu in Ländern, in denen am 1. Januar 1949 eine andere landesrechtliche Regelung galt. In Bremen und Berlin gibt es - basierend auf diesem GG-Artikel - keinen staatlichen Religion als Pflichtfach. In den ostdeutschen Ländern wäre die gleiche Ausnahme möglich; nur Brandenburg verzichtete auf die Einführung des konfessionellen Religionsunterrichts und bietet stattdessen ein für alle Schüler verbindliches Fach „Lebenskunde – Ethik – Religion“ (L-E-R) an. Es ist in der Praxis allerdings stark konfessionell geprägt. Teilnehmer des (ebenfalls zugelassenen) Religionsunterrichts dürfen sich vom Fach L-E-R abmelden.[1]

Lebenskundeunterricht in West-Berlin seit 1982 und in Berlin heute

Im Schuljahr 2007/08 nahmen 45.000 Schüler am freiwilligen Fach Lebenskunde teil. Träger dieses Lebenskundeunterrichts ist der HVD-Landesverband Berlin, eine Weltanschauungsgemeinschaft, die nach dem Grundgesetz (Artikel 140 in Verbindung mit Artikel 137 WRV) mit den Kirchen gleichbehandelt wird. In drei anderen Bundesländern hat der HVD auch den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts. Er fordert die Trennung von Schule und Religion bzw. Weltanschauung und plädiert für ein freiwilliges, pluralistisches Angebot der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften an Schulen.

Lebenskundeunterricht in Spanien

2008 führte die spanische Regierung einen Lebenskunde-Kurs ein, in dem Themen wie Homosexualität, Scheidung und Abtreibung offen angesprochen werden. Tausende Eltern bezeichneten ihn als "anti-christlich" bezeichnet; der Papst verurteilte ihn in seiner Neujahrsansprache 2011.[2]

Rahmenplan

Grundlage des Lebenskundeunterrichts ist der „Rahmenplan Lebenskunde“ in seiner 3. Auflage. Zusätzlich existiert eine Praxismappe mit Unterrichtseinheiten und die theoretische Zeitschrift „Theorie und Praxis der humanistischen Erziehung“, in der allgemeine pädagogische und weltanschauliche Fragen diskutiert werden. Lese- und Arbeitsbücher für Schüler liegen vor. Seit 1999 gibt es ein staatlich anerkanntes Ergänzungsstudium am Ausbildungsinstitut Lebenskunde in Zusammenarbeit mit dem Fachbereich Erziehungswissenschaften der Technischen Universität Berlin.

Inhalte und Ziele

Der Lebenskundeunterricht ist ein bekenntnisorientierter Weltanschauungsunterricht, der eine humanistische Lebensauffassung vertritt, mit der Menschen die alleinige Verantwortung für ihr Denken und Handeln begründen. Der Lebenskundeunterricht ist am weltlichen Humanismus, der Aufklärung und den modernen (Natur-) Wissenschaften orientiert. Die Schüler können im Unterricht des Humanistischen Verbandes lernen, dass es keinen vorgegebenen Sinn des Lebens gibt, dass Menschen ihrem Leben aber einen Sinn geben können. Die Wissenschaften sind dabei ein bedeutendes Hilfsmittel, um Probleme und Konflikte zu lösen.

Der Lebenskundeunterricht soll dazu anleiten, die Bedeutung moralischen Handelns zu verstehen und insbesondere dabei helfen, moralische Positionen für das eigene Leben zu entwickeln. Dazu gehört die Frage, wozu wissenschaftliche Erkenntnisse benutzt werden sollen, wie auch die Bearbeitung existentieller Erfahrungen wie Tod, Sterben, Krankheit, Trennung und Vereinigung. Der humanistische Lebenskundeunterricht soll Kindern und Jugendlichen helfen, sich derartigen Fragen zu stellen und sie in ihren Alltag zu integrieren - ohne ein religiöses Glaubenssystem. Der Lebenskundeunterricht versteht sich somit als eine Ergänzung des wissenschaftlichen Unterrichts der Schulen und bietet die Gelegenheit, nach Lebenssinn, universellen Werten wie den Menschenrechten und nach dem Rätsel des Lebens zu fragen.

Der humanistische Unterricht stellt die Würde des einzelnen Menschen ins Zentrum seiner Überlegungen. Er versucht, die Kraft zur Toleranz und zur Solidarität zu stärken, und möchte junge Menschen gleichwohl befähigen, gegen Dogmatismus und Fanatismus bewusst Widerstand zu leisten. Viele dieser Positionen werden heute auch vom Religionsunterricht vertreten. Der Humanismus sieht auch in den Religionen humanistische Wertvorstellungen formuliert – z.B. die Gerechtigkeitsforderung in der hebräischen Bibel. Humanisten versuchen deshalb, Religionen als Versuch der Menschen zu verstehen, ihre realen Konflikte zu bewältigen und haltbare gesellschaftliche Zusammenhänge zu begründen. Im Lebenskundeunterricht werden Religionen als von Menschen entwickelte Systeme analysiert, in ihrer Trost- und Hoffnungsstiftung begriffen und in ihrer kulturbildenden, ethischen Funktion dargestellt. Menschen, die ihr Leben nicht in Glaubensvorstellungen interpretieren wollen, sind nach Ansicht des Lebenskundeunterrichts ebenso in der Lage, moralische und ethische Positionen zu entwickeln. Die Bereitschaft zur Solidarität, auch und gerade mit den Schwächeren, ist möglich mit Einfühlungsvermögen (Empathie) und mittels kritischer Reflexion, die gerade die ethischen Konsequenzen menschlicher Entscheidungen berücksichtigt.

Siehe auch

Literatur

  • Humanistischer Verband Deutschlands (Hrsg.): Rahmenlehrplan für den Humanistischen Lebenskundeunterricht Berlin 2008
  • Lexikon der Religionspädagogik Norbert Mette (Hrsg.): Stichwort Lebenskunde
  • Horst Groschopp / Michael Schmidt: Lebenskunde – Die vernachlässigte Alternative Humanitas Dortmund 1995
  • Peter Adloff / Bettina Alavi (Hrsg.): Genau wie Schule, nur ganz anders HVD-Eigenverlag Berlin 2001
  • Martin Ganguly: Ganz normal anders - lesbisch, schwul bi Lebenskundesonderheft o.O., o.J.
  • Schwerpunktthema Lebenskunde in: "Humanismus aktuell", Heft 8, 2001
  • Gerald Warnke: Lebenskundeunterricht - Geschichte und Perspektive des humanistischen Unterrichts in der Schule Humanitas, Dortmund 1997

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Gerhard Rampp: Ratgeber für konfessionslose Eltern, Schüler (Stand: Mai 2005)
  2. zeit.de vom 10. Januar 2011: Papst sieht Religionsfreiheit durch sexuelle Aufklärung bedroht. - Benedikt XVI. hat sich gegen Kurse über sexuelle Aufklärung und Lebenskunde gewandt. Hintergrund ist ein Streit mit der spanischen Regierung.

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