Letztbegründung

Letztbegründung

Letztbegründung heißt in Philosophie und Wissenschaftstheorie die Rückführung von Geltungsansprüchen hinsichtlich Wahrheit und Gewissheit (Certismus) auf letzte sichere Grundlagen. Eine solche Strategie der Rechtfertigung mit dem Anspruch auf Selbst- und Letztbegründung tritt das Erbe der Ursprungsphilosophie an, denn sie hält die Strategie des voraussetzungslosen Anfangens für unabdingbar. Das Problem, den sog. „archimedischen Punkt“ einer absolut sicheren Erkenntnis aufzufinden, stellt sich innerhalb von Erkenntnistheorie wie folgt:

„Erst anhand von zuverlässigen Kriterien der Geltung unserer Urteile können wir prüfen, ob wir unseres Wissens auch gewiss sein dürfen. Allein, wie könnte vor dem Erkennen das Erkenntnisvermögen kritisch untersucht werden, wenn doch auch diese Kritik selber Erkenntnis zu sein beanspruchen muss?“ (Jürgen Habermas: Erkenntnis und Interesse)[1]

Inhaltsverzeichnis

Geschichte der Letztbegründung

Obwohl der Ausdruck „Letztbegründung“ erst seit dem zweiten Drittel des 20. Jhd. verwendet wird,[2] wurde das Konzept einer letzten Begründung bereits bei Platon und Aristoteles reflektiert und im Laufe der Philosophiegeschichte immer wieder untersucht. Wichtige ältere Ansätze, das Denken auf eine sichere Grundlage zu stellen, finden sich bei Anselm von Canterbury, Descartes, Karl Leonhard Reinhold, beim Deutschen Idealismus (Fichte, Schelling, Hegel) und Jakob Friedrich Fries.

In seiner Spätphilosophie schließt sich auch der Philosoph Husserl der „Wissenschaft aus absoluter Begründung“ an. Als Letztbegründungstheoretiker gelten heute neben Hugo Dingler insbesondere Karl-Otto Apel, Vittorio Hösle und Wolfgang Kuhlmann.

Richtungen der Letztbegründung

Eine Letztbegründung beginnt mit einer geltungsmäßig gesicherten Basis. Dieser Ausgangspunkt ist definitiv begründet und damit einer späteren Widerlegung oder Falsifikation nicht mehr fähig. Vielmehr denkt man von diesem Fundament aus zirkelfrei weiter und greift bei Begründungen immer wieder darauf zurück. Als erste Wahrheiten bzw. Grundwahrheiten werden mindestens seit der Scholastik die Evidenzen gesehen. Sie sind selbst weder beweisbar noch widerlegbar, da jeder Beweis sie bereits voraussetzt.

Nach Descartes besteht die gesicherte theoretische Basis ausschließlich aus den Erkenntnissen, dass ich denke und bin, da ich nicht vermuten kann, nicht zu sein, ohne zu denken.

Mit dem transzendentalpragmatischen Argument versucht Karl-Otto Apel zu begründen, dass Menschen, die über ihre Zwecke reden, diese im Diskurs auch zur Disposition stellen müssen, weil sie sich sonst in einen performativen Selbstwiderspruch begeben. Hieraus entwickelt Apel eine Diskursethik, die sich durch die genannte Zweckdisposition letztbegründen lässt. Eine Theorie ist nach Apel unter anderem dann letztbegründet, wenn sie nicht ohne Selbstwiderspruch negiert werden kann.

Descartes und Apel verwenden somit beide die Figur der Retorsion.

In der Protophysik (Hugo Dingler) wird versucht, den Anfang der Wissenschaften über eine Sicherung der Messgerätenormen zu erreichen. Daraus wird dann die - auf Messungen angewiesene - Physik letztbegründet.

In der Fundamentaltheologie benutzt Hansjürgen Verweyen den philosophischen Erweis eines letzten Grundes, um zu zeigen, dass eine christlich verstandene Offenbarung für die menschliche Vernunft „vernehmbar“ sei (vgl. Natürliche Theologie).

Kritik an Versuchen der Letztbegründung

Besagt „Letztbegründung“ die These, dass für erste Prinzipien eine stringente Begründung möglich ist, so wurde eben dies bereits etwa von Aristoteles dezidiert verneint. Seiner Wissenschaftstheorie zufolge sind gerade die ersten Prinzipien einer Wissenschaft nicht abermals begründbar. Entsprechende Positionen durchziehen weite Teile der Philosophiegeschichte.

Die Möglichkeit einer Letztbegründung wird u.a. von Vertretern des Kritischen Rationalismus in Frage gestellt. Sie verweisen auf ein grundsätzliches Problem eines jeden Versuches einer letzten Begründung. Man kann dieses Problem an einem einfachen Beispiel aus dem Alltag verdeutlichen. Würde ein Kind die Frage stellen, warum der Himmel blau ist und auf jede Antwort mit der Frage „Warum?“ reagieren, so würde man früher oder später nach dem Münchhausen-Trilemma in eine logische Sackgasse geraten, die nach Auffassung der Letztbegründungsgegner lediglich drei Alternativen zur Wahl lässt:

  • Infiniter Regress - unendliche Reihe von Antworten
  • Logischer Zirkel - in der Reihe der Antworten wird irgendwann auf das zu Beantwortende als Voraussetzung zurückgegriffen (Der Himmel ist blau, weil er blau ist)
  • Dogmatismus - an die Stelle einer Begründung tritt eine unbegründete Behauptung (Der Himmel ist blau, weil der liebe Gott wollte, dass wir einen blauen Himmel haben).

In keinem Fall würde vollkommen unabhängig von der gestellten Frage jedoch eine Letztbegründung möglich.

Gegner der Letztbegründung scheinen mit folgendem logischen Problem konfrontiert: Ihre These „Es gibt keine Letztbegründung“ scheint nicht auf sich selbst anwendbar zu sein. Denn was begründet sie? Entweder es sind zwingende letzte Gründe, im direkten Widerspruch zur These - oder es sind schwächere Gründe, in Reibung mit dem apodiktischen Charakter der These. Gegner der Letztbegründung könnten sich daher darauf zurückziehen, zeigen zu können, dass nur bisherige Versuche von Letztbegründungen gescheitert sind und zukünftige vermutlich scheitern werden - ohne zwingende Gründe dafür zu haben, dass dies mit Notwendigkeit so sein muss. Überhaupt aber ist unklar, ob "Letztbegründer" tatsächlich für Sätze derjenigen Klasse, welcher die besagte These zugehört, letzte Gründe beanspruchen.

Auch kritische Rationalisten beanspruchen übrigens, dass man weiter von „absoluter Wahrheit“ reden könne, nicht aber, dass man wissen könne, ob man in konkreten Fällen Wahres erwägt - denn dazu stünden uns keine geeigneten Kriterien zur Verfügung. Begründungen münden außerdem, so diese Position, nicht in Evidenzen, sondern in einen Regressabbruch bei unproblematischen Thesen.[3]

Auch beispielsweise von Theoretikern, die dekonstruktive oder diskursanalytische Instrumentarien zugrunde legen und in ihren Intuitionen entsprechenden Traditionen folgen, wurden immer wieder auf unterschiedliche Weise Formen der Letztbegründung kritisiert. Die dabei vorgebrachten Argumente sind vielfältiger und komplexer Natur. Sie haben oft zu tun mit dem Aufweis von kontingenten Faktoren, beispielsweise von Machtkonstellationen, Normierungen, Konventionen und Gewohnheiten, die ganz bestimmte Ordnungsmuster, Deutekategorien, Begriffsschemata und Theoriekriterien bevorteilen, so dass eine davon abgetrennte Form „letzter“ Begründung aus prinzipiellen Gründen scheitern müsse. Oft stehen derartige Kritiken in direktem Zusammenhang mit grundsätzlicher Skepsis gegenüber bestimmten Begriffen von Rationalität, Subjektivität, Wissenschaft und Begründung.

Quellen

  1. Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse. Mit einem neuen Nachwort, 3. Aufl. Frankfurt 1975, S. 14 ff.
  2. der früheste Beleg ist laut Gethmann bei Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie: Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie (1936), S. 52, zu finden
  3. Siehe unter 'Unproblematisches' in: Lexikon des Kritischen Rationalismus, Tübingen 2004.

Literatur

Primärliteratur

Letztbegründungsversuche
  • Karl-Otto Apel: Diskurs und Verantwortung. Das Problem des Übergangs zur postkonventionellen Moral. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1988
  • Hugo Dingler: Aufbau der exakten Fundamentalwissenschaft München 1944, 1964²
  • Wolfgang Kuhlmann: Reflexive Letztbegründung. Untersuchungen zur Transzendentalpragmatik. Alber, Freiburg/München 1985
  • Hansjürgen Verweyen: Gottes letztes Wort. Grundriß der Fundamentaltheologie. Düsseldorf: Patmos 1991. [1] Dritte, vollst. überarb. Aufl. Regensburg: Pustet 2000.
Kritik
  • Hans Albert: Traktat über kritische Vernunft. Tübingen 1968.
  • Hans Albert: Transzendentale Träumereien. Hamburg 1975.

Einführungen und Überblicksdarstellungen

Einführungen
  • Reinhold Aschenberg: Letztbegründung? Beitrag zu einer typologischen Orientierung, in: R. Hiltscher / A. Georgi (Hg.), Perspektiven der Transzendentalphilosophie im Anschluß an die Philosophie Kants, Freiburg / München 2002, S. 11-42.
Interpretationen klassischer Letztbegründungsversuche
  • Dieter Wandschneider: Grundzüge einer Theorie der Dialektik. Rekonstruktion und Revision dialektischer Kategorienentwicklung in Hegels "Wissenschaft der Logik". Klett-Cotta, Stuttgart 1995
Diskussion des Letztbegründungskonzepts
  • Jürgen Fritz: Das Kartenhaus der Erkenntnis. Warum wir Gründe brauchen und weshalb wir glauben müssen. VDM Verlag Dr. Müller, Saarbrücken 2007
  • Vittorio Hösle: Die Krise der Gegenwart und die Verantwortung der Philosophie. C. H. Beck, München 1990
  • Hartmut Ihne: Letztbegründung in der Ethik. Zu den Begründungsversuchen einer transzendentalpragmatischen Ethik bei Karl-Otto Apel und Wolfgang Kuhlmann und einer konstruktivistischen Ethik bei Oswald Schwemmer, Bern 1990 (Diss.)
  • Hans-Dieter Klein: Letztbegründung als System? Bonn 1994
  • Hanul Sieger: Die Logik der Liebe. Von Erich Fromm zur Letztbegründung. Peter Lang, Frankfurt am Main 1997

Weblinks


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