Martha Muchow

Martha Muchow

Martha Muchow (* 25. September 1892 in Hamburg; † 29. September 1933 in Hamburg) war eine deutsche Psychologin.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Sie war das erste von zwei Kindern des Zollinspektors Johannes Muchow und dessen Ehefrau Dorothee Muchow, geb. Korff. Nach dem Abitur (1912) absolvierte sie eine einjährige Lehrerinnenausbildung. Folgend unterrichtete Martha Muchow zwei Jahre an einer Höheren Mädchenschule in Tondern und besuchte in ihrer Freizeit Vorlesungen von William Stern am Kolonial-Institut, dem Vorläufer der Universität, in Hamburg. Bevor sie 1919 ihr Studium der Psychologie, Philosophie und Literaturgeschichte begann, war sie als Lehrerin an Hamburger Volksschulen tätig. 1923 promovierte sie Summa cum laude mit einer Arbeit über Studien zur Psychologie des Erziehers. Es folgten Untersuchungen der Entwicklungspsychologie des Kinder- und Jugendalters sowie der pädagogischen Psychologie. Sie beschäftigte sich mit vorschulischer Erziehung und veröffentlichte ihre Forschungsergebnisse 1929 in der Schrift „Psychologische Probleme der frühen Erziehung“. Martha Muchow, die mit ihren wissenschaftlichen Untersuchungen das Bewusstsein für die psychologische Charakteristik der frükindlichen Sozial, Denk- und Bewusstseinsentwicklung, unter besonderer Berücksichtigung der Position Friedrich Fröbels, schärfte[1] resümierte, dass die Pädagogik der frühen Kindheit... zweifellos einer besonders sorgfältigen kinder- und bildungspsychologischen Unterbauung[2] bedürfe.

Seit 1926 war Martha Muchow ständige Mitarbeiterin der renommierten Fachzeitschrift Kindergarten. Parallel dazu hatte sie engen Kontakt zur Fröbel-Bewegung und zum Hamburger Fröbel-Seminar, wo sie Psychologie unterrichtete. Sie war eine Anhängerin Friedrich Fröbels, über dessen Erziehungsgedanken und Idee des Kindergartens sie schrieb:

Nicht ein System und eine Methode sind es, die Fröbel letztlich zu gestalten versuchte. Es ist eine neue Sicht des Sinns, der im Zusammenleben von Erwachsenen und Kindern liegt, die er eröffnet, und eine neue Form des Verkehrs mit dem Kinde, die er in seinen Schriften anregt und in seinem Kindergarten vorlebt. Wer, wie so viele, Fröbel nur als den Methodiker der Kleinkinder-Erziehung ansieht, mißversteht ihn absolut. Nicht um eine Methode handelt es sich bei ihm, sondern um eine neue Erfassung der Rollen in der Erziehungssituation. Auch der Kindergarten ist ja ursprünglich keineswegs die Kleinkinder-Erziehungsanstalt, sondern der Zusammenschluß der Erwachsenenwelt, um dem Kinde aus seiner neuen Gesinnung heraus den Lebensraum zu erhalten oder zu schaffen, dessen es, seiner Lebensrolle entsprechend, bedarf... Das Ganze der Erziehungsgedanken Fröbels, dessen Grundanschauungen den deutschen Kindergarten schufen und trugen, ist so reich und an so vielen Stellen so geradezu uberraschend nah an unserer Zeit, daß man bei einem Versuch, es zu beleuchten, immer nur einen Teil ans Licht bringen kann[3].

Auch nahm sie Stellung zu der in den 1920er Jahren sehr bewegten Diskussion hinsichtlich der Pädagogik Maria Montessoris. Mit Bezug auf die sich seinerzeit stärker schulisch profilierende pädagogische Psychologie und das schulpädagogische Reformwerk Maria Montessoris betreffend vermerkte sie:

Die Bemühungen der wissenschaftlich-experimentellen Pädagogik hatten bis dahin einzelnen beschrämkten Problemen des Unterrichts und der Didaktik gegolten; sicher war auch schon mancher fördernde Gedanke aus ihren Befunden in den Schulunterricht eingedrungen... aber die Schaffung und Durchführung einer in so weitem Ausmaß neuen Schulform, wie sie das Kinderhaus oder die Montessori-Elementarklasse darstellt, ... das ist eben doch das, was Frau Montessori vorgemacht hat und was immer das große Verdienst der italienischen Ärztin bleiben wird[4].

Martha Muchow gilt als Pionierin der ökologischen Psychologie. Ihr Werk „Der Lebensraum des Großstadtkindes“ von 1935 (posthum von ihrem Bruder Hans Heinrich Muchow in der Schriftenreihe Ertrag der Hamburger Erziehungsbewegung herausgegeben) ist eine der ersten Arbeiten auf diesem Gebiet, die als ihr Hauptwerk gilt. Es entstand in Anlehnung an William Sterns Studien zur Personalistik (1930) und Jakob Johann von Uexkülls Umweltlehre. Ihre Arbeit kann als frühes Werk der Wahrnehmungsgeographie betrachtet werden.

Als nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten ihr Lehrer William Stern entlassen wurde, denunzierte man sie in einem Brief vom 10. Juli 1933 als Judengenosse:

Fräulein Dr. Muchow, die engste Vertraute von Prof. Stern, die ihn auch heute täglich besucht und mit ihm alle Pläne ausarbeitet, ist die gefährlichtse.. Sie war aktives Mitglied des marxistischen 'Weltbundes für Erneuerung der Erziehung'... Ihr Einfluß ist unheilvoll und einer deutschen Staatsauffassung direkt zuwiderlaufend[5].

Am 25. September 1933, ihrem 41. Geburtstag, wurde die Psychologin all ihrer öffentlichen Ämter enthoben. Daraufhin beging Martha Muchow am 27. September 1933 einen Suizidversuch. Sie starb zwei Tage später am 29. September 1933 an dessen Folgen.

Nach Martha Muchow wurde Januar 2007 die Bibliothek der Fakultät für Erziehungswissenschaft, Psychologie und Bewegungswissenschaft der Universität Hamburg benannt.[6] 2008 wurde das Martha-Muchow-Institut ins Leben gerufen.[7] Im Garten der Frauen auf dem Hamburger Ohlsdorfer Friedhof wird auf der Erinnerungspirale an Martha Muchow erinnert.

Der Lebensraum des Großstadtkindes

Martha Muchow hatte viele Vorträge über die Lebenswelt des Großstadtkindes gehalten. So hielt sie z.B. anlässlich eines Zwischentreffens der Deutschen Sektion des Weltbundes für Erneuerung der Erziehung, vom 3. bis 5. Oktober 1931 in Dortmund, einen Vortrag zum Thema Die Lebenswelt des Kindes unserer Zeit und die Erziehung. Dieser wurde mit folgenden Worten rezensiert:

Martha Muchon zeigte am Beispiel der Großstadtwelt, wie sich das Kind verschiedener Altersphasen aus dem, was es als Umwelt umgibt, seine Lebenswelt aufbaut, wie an dieser Umwelt zwar die entwicklungspsychologisch bekannten, generellen kindlichen Gestaltungstendenzen sich betätigen, wie aber auch durch die Eigenart unserer technifizierten, mechanisierten Großstadtwelt von heute hier eine ganz andere Kindeswelt zustande kommt, als es etwa die unsere vor 20-30 Jahren war, aus der wir so gern mehr oder weniger bewußt unser Verständnis für das Kind und sein Erleben noch schöpfen. An lebendigen Beispielen , z. B. des heimatkundlichen Unterrichts oder der Deutung gewisser sog. moralischer (oder unmoralischer) Verhaltensweisen des Kindes (der Großstadtstraße) zeigte sie, welche pädagogischen Probleme hier entstanden sind[8].

Vor allem Heinz Werner hat Martha Muchows Untersuchungen über den Lebensraum des Großstadtkindes in seiner Einführung in die Entwicklungspsychologie (Comparative Psychology of Mental Development) unter Verwendung von unveröffentlichtem Material gewürdigt und auf die durch eine zweite Studie kartierten Unterschiede zum Standpunkt des Erwachsenen hingewiesen:

Die kindliche Welt ist eine ‚Nahwelt‘ – sie ist umso näher, je jünger das Kind, und um so ferner, je älter es ist[9].

Schriften

  • Studien zur Psychologie des Erziehers. Hamburg 1923.
  • Beiträge zur psychologischen Charaktersitik des Kindergarten- und Grundschulalters. Auf Grund experimentalpsychologischer Untersuchungen über die Auffassung und das Senken der Drei- bis Zehnjährigen. Berlin 1926.
  • Das Montessori-System und die Erziehungsgedanken Friedrich Fröbels. In: Hilde Hecker, Martha Muchow (Hrsg.): Friedrich Fröbel und Maria Montessori. Leipzig 1927.
  • Psychologische Probleme der frühen Erziehung. Erfurt 1929.
  • Zur Frage einer Lebensraum- und epochaltypologischen Entwicklungspsychologie des Kindes und Jugendlichen. Hamburg 1931.
  • Friedrich Fröbels Erziehungsgedanken und der moderne Kindergarten im Lichte der gegenwärtigen Kinder- und Bildungspsychologie. In: Paul Oestreich: Das Kleinkind, seine Not und seine Erziehung. Jena 1932, S. 66–77.
  • Aus der Welt des Kindes. Beiträge zum Verständnis des Kindergarten- und Grundschulalters. Ravensburg 1949.

Literatur

  • Elisabeth Zorell: Erinnerungen an Martha Muchow. Privatdruck, München 1948.
  • Heinz Werner: Einführung in die Entwicklungspsychologie. München 1959.
  • Ilse Brehmer, Karin Ehrich: Mütterlichkeit als Profession? Lebensläufe deutscher Pädagoginnen in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts. Band 2: Kurzbiographien. Pfaffenweiler 1993, S. 186–187.
  • Manfred Berger: Frauen in der Geschichte des Kindergartens. Ein Handbuch. Frankfurt am Main 1995, S. 146–150.
  • Mauri Fries: Mütterlichkeit und Kinderseele. Zum Zusammenhang von Sozialpädagogik, bürgerlicher Frauenbewegung und Kinderpsychologie zwischen 1899 und 1933. Ein Beitrag zur Würdigung Martha Muchows. Frankfurt 1996.
  • Karl-Heinz Hintze: Matha Muchow und ihr Beitrag zur Erforschung der frühkindlichen Sozial-, Denk- und Bewusstseinsentwicklung. Unveröffentlichte Diplomarbeit. München 2001.
  • Paul Probst: Muchow, Martha. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 18, Duncker & Humblot, Berlin 1997, S. 253 f.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Karl-Heinz Hintze: Matha Muchow und ihr Beitrag zur Erforschung der frühkindlichen Sozial-, Denk- und Bewusstseinsentwicklung. Unveröffentlichte Diplomarbeit. München 2001, S. 4
  2. Martha Muchow: Psychologische Probleme der frühen Erziehung. Erfurt 1929, S. 12
  3. Martha Muchow. Friedrich Fröbels Erziehungsgedanken und der moderne Kindergarten im Lichte der gegenwärtigen Kinder- und Bildungspsychologie. In: Paul Oestreich: Das Kleinkind, seine Not und seine Erziehung. Jena 1932, S. 67ff.
  4. Hecker/Muchow 1927, S. 107f.
  5. zitiert nach Karl-Heinz Hintze: Matha Muchow und ihr Beitrag zur Erforschung der frühkindlichen Sozial-, Denk- und Bewusstseinsentwicklung. Unveröffentlichte Diplomarbeit. München 2001, S. 197
  6. Walter Thorun: Wer war Martha Muchow?, Website der Universität Hamburg
  7. Website des Martha-Muchow-Instituts
  8. zit. n. Hintze 2001, S. 87
  9. Heinz Werner: Einführung in die Entwicklungspsychologie. München 1959, S. 269

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