- Mendel Beilis
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Die Beilis-Affäre (auch Bejlis) basierte auf einem von 1911 bis 1913 durchgeführten Mordprozess in Kiew. Wegen der Beschuldigung eines jüdischen Ritualmordes an einem christlichen Kind erlangte er weltweite Aufmerksamkeit und entwickelte sich zu einer Affäre, die auf das Verfahren zurückwirkte.
Inhaltsverzeichnis
Tat
Das 12-jährige Opfer Andrej Jušcinskij wurde am 20. März 1911 in einer Höhle auf dem Gelände der jüdischen Sejzew-Fabrik in Kiew tot gefunden. Er wies 47 Stichwunden auf, die ihm offenbar gefesselt und geknebelt stehend beigebracht worden waren. Die Obduktion ließ die Pathologen vermuten, dass die Täter anatomische Kenntnisse besaßen. Um ihn verbluten zu lassen, waren die Stiche gezielt in die Zerebralvene (Nacken), Halsschlagadern und -venen, Leber, Nieren, Lunge und Herz ausgeführt worden.
Ermittlungen und Verfahrensbeginn
Etwa zwei Jahre wurde gegen Verwandte des Getöteten ermittelt, wenngleich vier Monate nach der Tat auch der 37-jährige Menachem Mendel Beilis, ein jüdischer Arbeiter der Fabrik, ebenso wie Wera Tscheberjak, deren Sohn mit dem Opfer befreundet war und denen beiden direkt nichts nachzuweisen war, inhaftiert worden waren. Man bezog sich im Tatvorwurf gegen Beilis auf den zeitlichen Zusammenhang mit dem Pessach-Fest (angebliche Verwendung von Christenblut für Matzebrot) bzw. auf den Jungen als Opfer für die eben stattgefundene Grundsteinlegung einer Synagoge auf dem Fabrikgelände.
Die im Ergebnis fehlerhaften Ermittlungen führten die rivalisierenden Beamten Mischtschuk und Krassowskij. Ein Pferdestall auf dem Fabrikgelände, der als möglicher Tatort in Frage kam, brannte zwei Tage vor Inaugenscheinnahme ab. Krassowskij hatte die Ermittler zunächst davon abgelenkt. Auch war der Weg zum Fundort Jušcinskijs vom Schnee - und damit möglichen Spuren - befreit worden, um dem beleibten Inspektor den Zugang zu erleichtern.
Wegen Fälschung von Beweisstücken tauchte Mischtschuk zur Prozesseröffnung 1913 im teilautonomen Finnland unter. Ein Mitarbeiter Krassowskijs versteckte sich; er selbst wurde entlassen und fungierte dann als Helfer der Verteidigung, für die er eigene Ermittlungen anstellte. Ebenso wie der Journalist und spätere Sekretär des Rates der Volkskommissare Wladimir Dmitrijewitsch Bontsch-Brujewitsch vertrat er die Theorie, dass eine kriminelle Bande um Wera Tscheberjak die Tat ausgeführt habe. Der Sohn und eine Tochter, die wegen Ruhr im Krankenhaus behandelt wurden, starben plötzlich und kurz vor einer Beilis belastenden Zeugenaussage. Wera Tscheberjak beschuldigte Krassowskij des (forensisch bestätigten) Giftmordes; dieser behauptete hingegen, sie selbst sei es gewesen. Das einzige überlebende Kind Ljudmila sagte aus, die Kinder seien von Bejlis und „zwei Juden in seltsamer Kleidung” vom Sejzew-Gelände gejagt worden, Andrej aber wäre gefangen, in Richtung des späteren Leichenfundorts geführt und seitdem nicht mehr lebend gesehen worden.
Wera Tscheberjak versicherte weiter, der Anwalt A. Margolin habe ihr 40.000 Rubel angeboten, damit sie den Ritualmord auf sich nehme und Beilis entlaste. Margolin bestritt dies später vor Gericht, wurde aber mit einer Disziplinarstrafe für unkorrektes Verhalten belegt und wegen Teilnahme an einer Kampagne zugunsten der Legendenbildung von Ritualmorden vom Verfahren ausgeschlossen.
Infolge des Ritualmordvorwurfes kam es zu Debatten in der Duma, ausgelöst durch eine Anfrage des rechten Flügels „was die Regierung gegen eine offenbar kindermordende Sekte zu tun gedenke”. Kampagnen führte in der Folge die rechtsnationalistische Presse, die die Anklage unterstützte, ebenso wie die aufgeklärt-liberale Presse, die im Sinne der Gleichberechtigung Judentum und Chassidismus verteidigte. Infolge der erregten journalistischen Auseinandersetzungen im Fall Beilis wurden unter der zaristischen Zensur 102 Strafen verhängt; sechs Redakteure wurden verhaftet, acht vor Gericht gestellt, 36 Zeitungsausgaben konfisziert, drei Zeitungen geschlossen und 43 mit Geldstrafen von insgesamt 12.850 Rubel belegt. Ursache waren zumeist Verbalangriffe gegen zaristische Behörden, deren Beamte und die Anklageschrift. Nach A.Solschenizyn hatte auch die Ermordung des Ministerpräsidenten Stolypin durch den Juden Dmitri Grigorjewitsch Bogrow ein halbes Jahr nach der Tat Einfluss auf den Verfahrensverlauf, da dieser möglicherweise eine solche Anklageerhebung verhindert hätte.
Wirkung im Ausland
Einem russischen Presseaufruf gegen den Ritualmordvorwurf folgten am 13. März 1912 bedeutende Personen des öffentlichen Lebens in Deutschland und Österreich wie Thomas Mann und Gerhart Hauptmann - mit dem einschränkenden Verweis auf Nichteinmischung in die Sachlage und in fremde Staatsbelange. Drei Tage später folgte ein von Anatole France initiierter französischer Protest. Am 19. April erschien als umfangreichstes ein britisches Manifest in der europäischen und russischen Presse, unterzeichnet von 240 Personen, darunter H.G. Wells und Thomas Hardy. Dazu kamen Proteste tschechischer Abgeordneter in böhmischen Zeitungen, Protestveranstaltungen schweizerischer Sozialdemokraten sowie eine Erklärung der theologischen Fakultät in Kopenhagen. Übereinstimmend wurde geäußert, dass derartige Prozessvorwürfe in zivilisierten Ländern keinen Platz mehr hätten. Ein weiteres Manifest von 75 Vertretern amerikanischer Kirchen war an Zar Nikolaus II. persönlich gerichtet und datierte aus der Zeit des laufenden Verfahrens.
Prozess
Der Beklagte Beilis saß bereits zwei Jahre in Haft, als im September und Oktober 1913, allerdings ohne den Vorwurf des „rituellen Charakters” des Mordes, der erst im Prozess geklärt werden sollte, verhandelt wurde. 185 Zeugen sagten aus. Die Anklage vertraten Staatsanwalt O. Ju. Wipper mit den Anwälten G.G. Zamyslowskij- einem rechten Duma-Abgeordneten aus Wilna-, und dem Moskauer Publizisten A.S. Šmakowei als Zivilkläger. Ihnen standen ebenfalls russlandweit bekannte Anwälte der Gegenseite wie O.O.Grusenberg (David Blondes-Fall 1902), N.P.Karabtschewskij, der Duma-Abgeordnete der Kadetten V.A.Maklakow, A.S.Sarudnyj und D.N.Grigorowitsch-Barskij gegenüber. Den Vorsitz übernahm der Oberste Richter am Kiewer Bezirksgericht F.A. Boldyrew. Ankläger, Richter und Verteidiger, einschließlich dem Vorsitzenden der Geschworenen, wurden wiederholt anonym bedroht.
Im Zentrum des Prozesses stand ein theologisches und wissenschaftliches Gutachten der Anklage, vorgelegt von dem katholischen, antisemitisch gesinnten Geistlichen Justinas Pranaitis und gestützt von dem Psychiater A.I. Sikorskij sowie dem Gerichtsmediziner D.P. Kosorotow, welches die prinzipielle Möglichkeit eines Ritualmordes seitens der Juden befürwortete. Wegen Pogrombefürchtungen richtete sich darauf die Aufmerksamkeit besonders der jüdischen Diaspora, aus der heraus auch die Pressekampagne lanciert worden war. Die Verteidigung lud die Psychiater W. M. Bechterew und A.I. Karpinskij, E.V. Pawlow (Chirurg), A.A. Kad’jan (Gerichtsmediziner) und P.K. Kokovcov (Orientalist) ein und ein Moskauer Rabbiner Maze fertigte ein Gutachten über den Talmud. I. P. Troitzkij, ein Judaist, orthodoxer Theologe und Professor an der Petersburger Geistlichen Akademie, den die Zeitschrift Kolokol als „leidenschaftlich judophil” bezeichnete, brachte ein Gutachten, das die Beschuldigungen gegen Juden im Allgemeinen zurückwies. Die Staatsanwälte forderten die Heranziehung vorhergegangener Ritualmordprozesse zur Untersuchung, was die Verteidigung ablehnte. Sie demontierte im Gegenzug den Gutachter Pranaitis indem sie ihn hebräische Talmudzitate direkt übersetzen ließ, was diesem offenbar nicht gelang.
Die überwiegend aus Bauern sowie einigen Beamten bestehenden Geschworenen sprachen nach 35 Tagen den Beschuldigten Beilis mangels Beweisen frei. Wegen des kryptisch formulierten Urteils fühlten sich angeblich Nationalisten wie auch Liberale zuletzt als Sieger des Prozesses.
Folgen
Diesem seither letzten Ritualmordprozess gegen einen Juden weltweit folgten noch im Zarenreich einige Zivilverfahren ehemals Beteiligter untereinander wegen Verleumdung und Lüge. Der Philosoph und Kolumnist der „Novoe vremja”, Vasilij Rozanov, der sich einen religionsphilosophischen Disput mit jüdischen Liberalen geliefert hatte, wurde im Januar 1914 auf ausländisches sowie Bemühen des Kollegen Dmitrij Filosofov hin aus der St. Petersburger „Religiös-Philosophischen Gesellschaft ausgeschlossen und ins öffentliche Abseits gedrängt.
Beilis reiste, möglicherweise wegen Rachedrohungen rechtsnationaler Schwarzhunderter, mit Familie und dank persönlicher Finanzhilfe des Londoner Bankiers Nathan M. Rothschild nach Palästina aus. Er zog 1920 weiter nach New York wo er mit 60 Jahren eines natürlichen Todes starb.
Der Gutachter der Anklage Pranaitis starb zur Zeit der Februarunruhen 1917 in St.Petersburg. Sein Tod aufgrund von Krankheit wurde deshalb gelegentlich in Zweifel gezogen.
A. Solschenizyn:
„Justizminister Schtscheglowitow, der angeblich »die Anweisung erteilte, der Fall möge als Ritualmord untersucht werden« wurde von den Bolschewiken erschossen.
Im Jahr 1919 stand Wera Tscheberjak vor Gericht. Das Verfahren fand nicht mehr nach der alten Ordnung des verhassten Zarismus statt, also ohne Geschworene, und dauerte vor der Kiewer Außerordentlichen Kommission ungefähr 40 Minuten. Ein in demselben Jahr in Kiew verhafteter Tschekist sagte vor Weißgardisten aus, dass »Wera Tscheberjak von lauter jüdischen Tschekisten verhört wurde, angefangen mit Sorin« [dem Tscheka-Vorsitzenden Bluwstein]. Dabei habe sie der Tschekakommandant Fajerman »verhöhnt, indem er ihr die Oberkleidung herabriss und sie mit der Revolvermündung schlug … Sie antwortete: >Ihr könnt mit mir tun, was ihr wollt, doch was ich gesagt habe …, davon gehe ich auch jetzt nicht ab … Beim Prozess gegen Beilis habe ich selbst gesprochen …, niemand hatte mich unterwiesen oder bestochen. .. <«. Sie wurde zum Tode verurteilt und sofort erschossen.
1919 wurde in Kaluga in der Rolle eines sowjetischen Beamten der ehemalige Staatsanwalt Wipper ausfindig gemacht und vor dem Moskauer Revolutionstribunal angeklagt. Staatsanwalt Krylenko äußerte: »Angesichts seiner erwiesenen Gefährlichkeit für die Republik … möge es bei uns einen Wipper weniger geben.« (Damit war gemeint, dass R. Wipper, Professor für mittelalterliche Geschichte, übrig blieb.) Das Tribunal schickte Wipper jedoch »in ein Konzentrationslager …, bis in der Republik die kommunistische Ordnung fest eingerichtet sei«.” Seine Spur verlor sich im Gulag.
Quellen
- Solschenizyn, Alexander: Zweihundert Jahre zusammen. Die russisch-jüdische Geschichte 1795-1916. Herbig Verlag. München. 2002.
- Elfering, Raimund: Die „Bejlis-Affäre“ im Spiegel der liberalen russischen Tageszeitung „REC’“. Magisterarbeit. Philosophischen Fakultät Münster, Westfalen. 2004
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