NS-Tötungsanstalt Grafeneck

NS-Tötungsanstalt Grafeneck
Grafeneck

In der NS-Tötungsanstalt Grafeneck bei Gomadingen (Landkreis Reutlingen, Baden-Württemberg) wurden während der nationalsozialistischen Krankenmorde, der so genannten Aktion T4, vom nationalsozialistischen Regime 1940 systematisch 10.654 behinderte Menschen, vor allem aus Bayern, Baden und Württemberg ermordet.

Inhaltsverzeichnis

Lage

Das Schloss liegt ca. 25 km südöstlich von Tübingen zwischen Engstingen und Münsingen am östlichen Ortsrand in der Nähe des Landgestüts Marbach (bekannte Pferdezucht).

Geschichte

An der Stelle einer hochmittelalterlichen Burganlage errichteten die Herzöge von Württemberg um 1560 ein Jagdschloss. Herzog Carl Eugen von Württemberg nutzte das Anwesen als Sommerresidenz und erweiterte es in den Jahren 1762 bis 1772 zu einem barocken Schloss mit Opernhaus und zahlreichen Lustbauten. Das Opernhaus wurde später nach Ludwigsburg versetzt, das Schloss gab man auf. Im 19. Jahrhundert wurden einzelne Bauten abgerissen, das Schloss nutzte das Forstamt. 1928 kaufte die Samariterstiftung das Schloss, richtete ein Heim für Behinderte ein und legte 1930 einen eigenen Friedhof an.[1]

Grafeneck im Dritten Reich

Anfänge

Das Württembergische Innenministerium in Stuttgart, das eng mit der Berliner „T4-Behörde“ zusammenwirkte, schlug zur Besichtigung das Samariterstift Grafeneck vor, da es einen Großteil der Voraussetzungen zum Umbau erfüllte. Die Wahl von Grafeneck als Standort für die erste Tötungsanstalt in Deutschland hat mehrere Gründe. Das Schlossgelände liegt abgeschieden im Wald und ist leicht abzuschirmen, da es nur zwei Auffahrten gibt. Außerdem diente das Schloss als Verwaltungsgebäude für das Personal, da es räumliche Arbeits- und Unterbringungsmöglichkeiten bot. Nachdem im Oktober 1939 das Schloss Grafeneck „für Zwecke des Reiches“ beschlagnahmt wurde, wurden etwa 100 Personen aus Stuttgart und Berlin rekrutiert. Dieses Personal bestand aus Ärzten, Polizeibeamten, Büroangestellten, Pflege- und Transportpersonal, Wirtschafts- und Hauspersonal sowie Wachmannschaften und Leichenbrennern. Die seinerzeitigen Patienten/Bewohner wurden in das Kloster Reute umgesiedelt.

Umbau

Von Oktober 1939 bis Januar 1940 wurde das ehemalige Samariterstift Grafeneck zielgerichtet in eine Mordanstalt verwandelt. Im Schlossgebäude wurden Wohn- und Verwaltungsräume, ein Standesamt sowie ein Polizeibüro eingerichtet. Im Schlossgelände wurden eine Holzbaracke mit etwa 100 Betten, ein Stellplatz für die grauen Busse, ein Krematoriumsofen und ein Vergasungsschuppen erbaut.

In Grafeneck war auch die Zentralstelle der Gemeinnützigen Krankentransport GmbH (Gekrat) angesiedelt[2], die für die Transporte zuständig war und von Reinhold Vorberg geleitet wurde.

Ermordungen

Am 18. Januar 1940 begann man in dem umgebauten Schlossgelände die ersten Menschen systematisch zu ermorden. Das war auch der Beginn der sogenannten Euthanasie-Aktion in Deutschland. Grafeneck war eine der ersten Einrichtungen dieser Art, in die eine Gaskammer eingebaut wurde. Die Vergasungen fanden in der als Duschraum getarnten so genannten „Garage“ statt. Der Anstaltsarzt ließ durch Bedienen eines mit einem Manometer versehenen Ventils Kohlenmonoxid in den Vergasungsraum einströmen. Die erforderlichen Stahlflaschen lieferte die Firma Mannesmann, die Befüllung besorgte die IG Farbenindustrie im Werk Ludwigshafen (BASF).[3] Die ersten ermordeten Patienten stammten aus der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar. Die Opfer kamen aus 48 Einrichtungen für Behinderte und psychisch Kranke, davon 40 aus Baden Württemberg, sechs aus Bayern, aus Hessen und Nordrhein-Westfalen jeweils eine.

Die letzten Ermordungen fanden am 13. Dezember 1940 statt.[4]

Schließung

Die Schließung der Tötungsanstalt Grafeneck im Dezember 1940 hatte verschiedene Gründe. Der Versuch die Morde geheim zu halten scheiterte, aber auch immer häufiger auftretende Proteste von seitens der Kirche und den Anstalten waren Gründe gewesen. Nach der Schließung im Dezember 1940 wurde das Personal in die hessische Tötungsanstalt Hadamar bei Limburg an der Lahn verlegt. Dort und in anderen Tötungsanstalten gingen die Krankenmorde bis August 1941 ungehindert weiter. Das Schlossgebäude diente in den folgenden Jahren der so genannten Kinderlandverschickung. 1945 wurde das Heim von der französischen Besatzungsbehörde genutzt und 1946/47 wieder an die Samariterstiftung zurückgegeben. Die bei Kriegsbeginn aus Grafeneck vertriebenen behinderten Menschen, die den Krieg überlebten, zogen wieder ins Schloss.

Zahl der Opfer

Es gibt verschiedene Angaben über die Gesamtzahl der Opfer in Grafeneck.

Nach der so genannten Hartheimer Statistik wurden in der Tötungsanstalt Grafeneck in den zwölf Monaten zwischen Januar und Dezember 1940 insgesamt 9.839 Menschen in einer Gaskammer ermordet:[5]

Jan. Febr. März April Mai Juni Juli Aug. Sept. Okt. Nov. Dez. Insgesamt
95 234 500 410 1.119 1.300 1.262 1.411 1.228 761 971 548 9.839

Der württembergische Grafeneck-Prozess stellte im Sommer 1949 insgesamt 10654 Opfer fest.[6]

Tötungsärzte

Die T4-Organisatoren Viktor Brack und Karl Brandt ordneten an, dass die Tötung der Kranken ausschließlich durch das ärztliche Personal erfolgen durfte, da sich das Ermächtigungsschreiben Hitlers vom 1. September 1939 nur auf Ärzte bezog. Die Bedienung des Gashahns war in den Tötungsanstalten somit Aufgabe der Vergasungsärzte. Allerdings kam es im Laufe der Aktion auch vor, dass bei Abwesenheit der Ärzte oder aus sonstigen Gründen der Gashahn vom nichtärztlichen Personal bedient wurde. Alle Ärzte von Grafeneck verwendeten im Schriftverkehr nach außen ausschließlich Tarnnamen.

In Grafeneck waren als Tötungsärzte tätig:

  • Leiter: Horst Schumann („Dr. Klein“): Januar 1940 bis Juni 1940
  • Stellvertreter: Ernst Baumhard („Dr. Jäger“): Januar 1940 bis April 1940, von da ab leitender Arzt bis Dezember 1940
  • Stellvertreter: Günther Hennecke („Dr. Fleck“): 25. April 1940 bis Dezember 1940

Erinnerung, Gedenken

Seit den 1950er und 1960er Jahren wird mit zwei Urnengräbern und einem Gedenkort auf dem Friedhof mit einer offenen Kapelle an die Morde in der Zeit des Nationalsozialismus erinnert. 1965 wurde die „Garage“ abgerissen. 1982 entstand ein „Arbeitskreis Euthanasie“, um die Gedenkstätte auszubauen und eine ständige Ausstellung zu ermöglichen. Im Jahr 1995 wurde das Gedenk- und Namensbuch erstmals vorgestellt. Seit Oktober 1998 ist dieses Gedenkbuch mit über 8000 Namen der Opfer in der Nähe der Gedenkstätte untergebracht und für alle Besucher frei zugänglich. Die Recherche nach den weiteren unbekannten Namen ist immer noch in Arbeit. Für diese Opfer, deren Namen noch nicht bekannt sind, wurde im August 1998 ein Alphabet-Garten angelegt. Die Idee dazu stammte von der amerikanischen Künstlerin Diane Samuels. Seit Oktober 2005 beherbergt Grafeneck ein Dokumentationszentrum.

Galerie

Literatur

  • Ernst Klee: „Euthanasie“ im NS-Staat. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1983, ISBN 3-10-039303-1. – Standardwerk bis heute mit vielen Informationen über Grafeneck.
  • Karl Morlok: Wo bringt ihr uns hin? Geheime Reichssache Grafeneck, Stuttgart 1985. – Erste kleine Monographie.
  • Ernst Klee (Hrsg.): Dokumente zur „Euthanasie". Fischer, Frankfurt am Main 1985, S. 232 f., ISBN 3596243270.
  • Klaus-Peter Drechsel: Beurteilt Vermessen Ermordet. Praxis der Euthanasie bis zum Ende des deutschen Faschismus. Duisburg 1993, ISBN 3-927388-37-8.
  • Roland Müller u. a.: Krankenmord im Nationalsozialismus – Grafeneck und die „Euthanasie“ in Südwestdeutschland. Stuttgart: Archiv der Stadt Stuttgart, Hohenheim Verlag. 2001. 150 Seiten, ISBN 3-89850-971-0.
  • Henry Friedlander: Der Weg zum NS-Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung. Berlin Verlag, Berlin 2002, ISBN 3-8270-0265-6. – Ergänzung zu Klee. Gestützt im Wesentlichen auf Akten aus Ermittlungsverfahren und Prozessen, wird der enge Zusammenhang zwischen dem Krankenmord und dem Mord an den Juden in der „Aktion Reinhardt“ herausgearbeitet.
  • Thomas Stöckle: Grafeneck 1940. Die Euthanasie-Verbrechen in Südwestdeutschland, Tübingen 2002, Silberburg-Verlag, ISBN 3-87407-507-9
  • Jörg Kinzig, Thomas Stöckle (Hrsg.): 60 Jahre Tübinger Grafeneck-Prozess: Betrachtungen aus historischer, juristischer, medizinethischer und publizistischer Perspektive. Verlag Psychiatrie und Geschichte, Zwiefalten 2011; ISBN 978-3-931200-17-6
  • Henning Tümmers: Justitia und die Krankenmorde: Der „Grafeneck-Prozess“ in Tübingen. In: Stefanie Westermann, Richard Kühl, Tim Ohnhäuser (Hrsg.): NS-„Euthanasie“ und Erinnerung: Vergangenheitsaufarbeitung – Gedenkformen – Betroffenenperspektiven. Medizin und Nationalsozialismus 3, LIT Verlag, Münster 2011, S. 95-122; ISBN 978-3-643-10608-7
  • Werner Blesch, Konrad Kaiser u. a.: Uns wollen sie auf die Seite schaffen. Deportation und Ermordung von 262 behinderten Menschen der Johannesanstalten Mosbach und Schwarzach in den Jahren 1940 und 1944 In: Mosbach im Dritten Reich. Heft 2, Mosbach 1993. Im Selbstverlag zu beziehen bei der Stadtverwaltung, Rathaus, 74821 Mosbach
  • Hans-Werner Scheuing: „…als Menschenleben gegen Sachwerte gewogen wurden.“ Die Anstalt Mosbach im Dritten Reich und die Euthanasie-Diskussion heute. 2. Auflage. Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2004, ISBN 3-8253-1607-6. Zu den Opfern aus den Johannes-Anstalten Mosbach

Weitere Literaturhinweise siehe im Hauptartikel: Die Euthanasiemorde in der NS-Zeit oder Aktion T4

Weblinks

Einzelnachweise

  1. http://www.gedenkstaette-grafeneck.de/271.htm
  2. Henry Fiedlander: Der Weg zum NS-Genozid. Berlin 1997, ISBN 3-8270-0265-6, S. 314.
  3. Webseite der Gedenkstätte.
  4. http://www.schule-bw.de/unterricht/faecheruebergreifende_themen/landeskunde/modelle/epochen/zeitgeschichte/ns/grafeneck/1hintergrundinfo.htm
  5. Ernst Klee (Hrsg.): Dokumente zur „Euthanasie". Fischer, Frankfurt am Main 1985, ISBN 3596243270. Dokument 87, S. 232.
  6. http://www.landesarchiv-bw.de/web/52078
48.39259.4292722222222

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