Neue Perspektive auf Paulus

Neue Perspektive auf Paulus

Die Neue Perspektive auf Paulus (englisch New Perspective on Paul) ist eine wichtige Richtung in der neutestamentlichen Forschung, in der manche Forscher die Schriften des Paulus von Tarsus interpretieren, vor allem im Blick auf sein Verhältnis zum Judentum und der traditionellen lutherischen Vorstellung von der Rechtfertigung des Glaubenden.

Inhaltsverzeichnis

Entwicklung

Die Neue Perspektive auf Paulus (so zusammenfassend erst nachträglich 1982 von James Dunn benannt) machte ihren Anfang mit den Werken von Krister Stendahl.[1] Dieser bemängelte an der deutschen Exegese, dass die Rechtfertigungslehre bei Paulus nicht wie bei Luther aufgrund der quälenden Frage nach dem individuellen Heil, sondern rein im Dienste der Legitimation der Heidenmission entstanden sei und dass es deshalb unangemessen sei, die Rechtfertigungslehre im Zentrum paulinischer Theologie zu sehen.

Bekannt wurde die „Neue Perspektive“ insbesondere durch die Ergebnisse der Arbeiten von E. P. Sanders, vor allem in Paul and Palestinian Judaism (1977).[2] Dort argumentiert er, dass das antike Judentum von christlicher Theologie als eine Gesetzesreligion karikiert wurde, in der die Tora eingehalten werden müsse, um an das Heil zu gelangen, wohingegen Paulus einen neuen Heilsweg – nicht durch die Einhaltung von Gesetzeswerken, sondern durch die Rechtfertigung durch Glauben an Christus – angeboten hätte. Sanders belegt anhand diverser frühjüdischer Texte, dass das Halten der Gesetze im antiken Judentum ein Zeichen für das Im-Bund-Bleiben („staying in“) und eben nicht das Mittel zum Heil („getting in“) war. Dieses Religionsmuster nennt er „Bundesnomismus“. Sanders' Untersuchung hinterfragt den Interpretationshintergrund von Martin Luther, welcher die traditionelle protestantische Vorstellung von der Rechtfertigung des Sünders im Gegensatz zu einer angeblichen jüdisch-pharisäischen Werkgerechtigkeit prägte. Auch Augustinus' Theologie, welche die gesamte westliche Christenheit beeinflusst hat, wird durch ihn in Frage gestellt. Denn nach Sanders kritisiere Paulus am Judentum nicht dessen Werkgerechtigkeit, sondern ausschließlich, „daß es kein Christentum ist.“[3]

Heute der bedeutendste Vertreter der „New Perspective on Paul“ ist deren Namensgeber James Dunn.[4] Er erweiterte Sanders' Überlegungen zum Bundesnomismus um den Verweis darauf, dass Gebote im Judentum nicht nur „identity markers“, sondern vor allem „boundary markers“ seien, mit denen sich das jüdische Volk von den Heiden abgrenzte. Entsprechend sei Paulus' Kritik am Gesetz und den „Werken des Gesetzes“ in erster Linie als eine Kritik an der Abgrenzung von den Heiden zu verstehen, da für Paulus die Frage nach der Rechtfertigung jener untergeordnet sei, wie auch die Heiden zum Heil kommen können. Kurz: Paulus kritisiere nicht die Werkgerechtigkeit der Juden, sondern deren Streben nach ethisch-sozialer Abgrenzung.

Ansonsten hat auch Nicholas Thomas Wright, Bischof von Durham die Arbeiten von Sanders aufgenommen und die Neue Perspektive auf Paulus signifikant weiterentwickelt. Im deutschsprachigen Raum hat die Neue Perspektive verschiedene Versuche angeregt, das zeitgenössische Umfeld des Urchristentums und des historischen Jesus mit Hilfe sozialgeschichtlicher Methoden zu erforschen (u.a. Luise Schottroff, Wolfgang Stegemann, Marlene Crüsemann und Claudia Janssen). Eine zentrale Rolle spielt dabei die Kritik antijudaistischer Stereotypen in der christlichen Tradition und auch in der älteren historisch-kritischen Exegese.[5]

Vorläufer

E. P. Sanders zufolge hat Albert Schweitzer mit seiner Paulus-Interpretation wesentliche Einsichten der Neuen Perspektive vorweggenommen. Schweitzers Erkenntnisse seien dann allerdings durch das Auftreten Rudolf Bultmanns und seiner Schule in den Hintergrund gerückt.[6]

Kritik

Die Neue Perspektive auf Paulus wird von theologisch konservativen Forschern (vor allem von reformierten Theologen[7]) stark kritisiert. Diese mahnen an, dass sie nicht dogmatisch korrekt die Lehren Johannes Calvins widerspiegeln (wie N. T. Wright argumentiert). Die Neue Perspektive war auch Inhalt von heftigen Debatten in evangelikalen Kreisen, insbesondere in den konservativen presbyterianischen Kirchen in den USA.[8][9]

Die stärkste Kritik, wenn auch implizit, kommt von Jacob Neusner, einem Forscher für rabbinische Literatur. Er hinterfragt die von E. P. Sanders u.a. entwickelte Methodik; bzw. wie sie die rabbinischen Quellen benutzen und bezeichnet dies als eine anachronistische Vereinnahmung verschiedener Schriften.

Die neuere Diskussion innerhalb der Neuen Perspektive zwischen Sanders und Wright wird meist von den Kritikern nicht beachtet. 2003 hat sich N. T. Wright von Sanders und Dunn distanziert: „[T]here are probably almost as many ‘New Perspective’ positions as there are writers espousing it – and I disagree with most of them.“[10]

Siehe auch

Literatur

Englisch
  • Robert Badenas: Christ. The End of the Law. Romans 10.4 in Pauline Perspective. JSOT, Sheffield 1985, ISBN 0-905774-93-0 (Journal for the study of the New Testament Supplement Series 10).
  • James D. G. Dunn: The New Perspective on Paul. In: Bulletin of the John Rylands University Library of Manchester 65, 1983, ISSN 0301-102X, S. 95–122 (öfters nachgedruckt, u. a. in: James D. G. Dunn: Jesus, Paul and the Law. Westminster – John Knox Press, Louisville KY 1990, ISBN 0-664-25095-5, S. 183–214).
  • Simon J. Gathercole: Where Is Boasting? Early Jewish Soteriology and Paul's Response in Romans 1–5. Eerdmans, Grand Rapids MI u.a. 2002, ISBN 0-8028-3991-6.
  • Michael B. Thompson: The New Perspective on Paul. Grove Books, Cambridge 2002, ISBN 1-85174-518-1 (Grove Biblical Series 26).
  • N. T. Wright: What St Paul Really Said. Was Paul of Tarsus the Real Founder of Christianity? Eerdmans, Grand Rapids MI u.a. 1997, ISBN 0-8028-4445-6.
  • N. T. Wright: Paul. Fresh Perspectives. Society for Promoting Christian Knowledge, London 2005, ISBN 0-281-05739-7.
Deutsch
  • Krister Stendahl: Der Jude Paulus und wir Heiden. Anfragen an das abendländische Christentum. Kaiser, München 1978, ISBN 3-459-01177-7 (Kaiser-Traktate 36).
  • E. P. Sanders: Paulus. Eine Einführung. Reclam, Stuttgart 1995, ISBN 3-15-009365-1 (Reclams Universal-Bibliothek 9365).
  • E. P. Sanders: Paulus und das palästinische Judentum. Ein Vergleich zweier Religionsstrukturen. Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 1985, ISBN 3-525-53371-3, (Studien zur Umwelt des Neuen Testaments 17).

Weblinks

  • The Paul Page Umfangreiche Sammlung von Artikeln über die Neue Perspektive (englisch)
  • Paul's Perspective (Archivversion vom 6. November 2007) Kritik der Neuen Perspektive aus konservativ-presbyterianischer Sicht (englisch)

Einzelnachweise

  1. Krister Stendahl: The Apostle Paul and the Introspective Conscience of the West. In: HThR 56 (1963), S. 199–215 (u.a. Schriften).
  2. E. P. Sanders: Paulus und das Palästinische Judentum. Ein Vergleich zweier Religionsstrukturen. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1985.
  3. E. P. Sanders, Paulus und das palästinische Judentum. Ein Vergleich zweier Religionsstrukturen, Göttingen 1985, S. 513.
  4. J.D.G. Dunn, The New Perspective on Paul, Tübingen 2005 (WUNT 185); ders., Romans, Dallas 1988 (WBC 38); ders., The Theology of Paul the Apostle, Edinburgh 1998.
  5. Claudia Janssen u.a.: Antijudaismus im Neuen Testament? Grundlagen für die Arbeit mit biblischen Texten. Christian Kaiser/Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1997.
  6. E. P. Sanders: Paulus. Eine Einführung. Reclam, Stuttgart 1995, S. 171.
  7. Lee Irons: Seyoon Kim's Critique of the New Perspective on Paul. Website von Lee Irons. Abgerufen am 24. November 2004.
  8. Report on Justification Presented to the 73rd General Assembly of the Orthodox Presbyterian Church (PDF-Datei; 690 kB). Website der Orthodox Presbyterian Church. Abgerufen am 24. November 2010.
  9. Mississippi Valley Presbytery Report (PDF-Datei). Website des Mississippi Valley Presbytery der Presbyterian Church in America. Abgerufen am 24. November 2010.
  10. N. T. Wright: New Perspectives on Paul. Website von N. T. Wright. Abgerufen am 24. November 2010.

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