Otto Kirchheimer

Otto Kirchheimer

Otto Kirchheimer (* 11. November 1905 in Heilbronn; † 22. November 1965 in New York City) war ein sozialistisch geprägter Staats- und Verfassungsrechtler, der in Deutschland, Frankreich und Amerika wirkte. Er gilt als einer der wichtigsten deutschen Staats- und Verfassungstheoretiker.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Kirchheimer besuchte von 1912 bis 1924 die Schule in Heilbronn, Heidelberg und Ettenheim. Im Anschluss studierte er Jurisprudenz und Soziologie in München, Köln, Berlin und Bonn. 1928 schloss er sein Studium mit einem Doktortitel (Dr. jur., magna cum laude) der Universität Bonn ab. Er war von Carl Schmitt mit der Arbeit Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus promoviert worden. In Bonn galt Kirchheimer als „Lieblingsschüler“ Schmitts.

Schon in seinen Jugendjahren bekannte sich Kirchheimer zu seiner sozialistischen Gesinnung. Später war er Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.

Von 1930 bis 1933 war Kirchheimer Mitarbeiter der sozialdemokratischen Zeitschrift Die Gesellschaft und Dozent für Politikwissenschaft an der Handelshochschule. 1932 bis 1933 arbeitete er zudem als Anwalt in Berlin.

In der Zeit der Weimarer Republik trat der junge Kirchheimer mit Aufsehen erregenden Analysen über das Verhältnis von sozialer Struktur und Verfassung hervor. Vieldiskutiert war vor allem sein Aufsatz Weimar und was dann? Entstehung und Gegenwart der Weimarer Verfassung, Berlin 1930, in dem Kirchheimer die Weimarer Verfassung als eine nicht zukunftsfähige Staatsgrundlage beschrieben hatte.

Zusammen mit Ernst Fraenkel und Franz L. Neumann stand Kirchheimer dem konservativen Staatsrechtler Carl Schmitt nahe. 1932 veröffentlichte Kirchheimer in der sozialistischen Zeitschrift Die Gesellschaft einen Aufsatz mit dem Titel Legalität und Legitimität (Die Gesellschaft, Band 2, Heft 7, 1932). Carl Schmitt übernahm diesen Titel für eine berühmte, im September 1932 erschienene gleichnamige Schrift. Er bezog sich dabei ausdrücklich lobend auf Kirchheimer. Auch an anderer Stelle hatte Schmitt Kirchheimer wiederholt zitiert. So schrieb er 1929 in einem Aufsatz über den Faschismus: „In hochentwickelten Industriestaaten […] ist die innerpolitische Lage ganz beherrscht von dem Phänomen der 'sozialen Gleichgewichtsstruktur' zwischen Kapital und Arbeit, Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Dieses Phänomen, wohl von Otto Bauer zuerst erkannt und benannt, ist dann von O. Kirchheimer in einem interessanten Aufsatz in der Zeitschrift für Politik (Bd. 17, 1928, S. 596) staats- und verfassungstheoretisch behandelt worden.“ (Schmitt, Wesen und Werden des faschistischen Staates, in: Positionen und Begriffe, 1940, S. 124–130, hier S. 127). In Legalität und Legitimität schrieb Schmitt: „Deshalb halte ich die Formulierung des Aufsatzes von Otto Kirchheimer über Legalität und Legitimität (Die Gesellschaft, Juli 1932) für richtig, der sagt, daß die Legitimität der parlamentarischen Demokratie ‚nur noch in ihrer Legalität besteht‘ und heute ‚offensichtlich die legale Schranke gleichgesetzt wird mit Legitimität‘“ (Schmitt, Legalität und Legitimität, S. 14). Kirchheimer revanchierte sich seinerseits durch positive Bezugnahmen auf Schmitt. So hieß es in einem Aufsatz von 1932: „Wenn eine spätere Zeit den geistigen Bestand dieser Epoche sichtet, so wird sich ihr das Buch von Carl Schmitt über Legalität und Legitimität als eine Schrift darbieten, die sich aus diesem Kreis sowohl durch ihr Zurückgehen auf die Grundlagen der Staatstheorie als auch durch ihre Zurückhaltung in den Schlussfolgerungen auszeichnet.“ (Verfassungsreaktion 1932, Die Gesellschaft, IX, 1932, S. 415ff.)

Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten emigrierte der sozialistische Jude Kirchheimer nach Paris. Hier war er vier Jahre lang als Wissenschaftler in französischen Zweig des Internationalen Instituts für Sozialforschung (Horkheimer-Institut) tätig. Er begann mit der Neubearbeitung von George Rusches Punishment and Social Structure. Die Rusche-Kirchheimer-Version von Punishment and Social Structure wurde 1939 veröffentlicht. Mit seinem Lehrer Carl Schmitt, der im nationalsozialistischen Deutschland zum „Kronjuristen des Dritten Reiches“ aufgestiegen war, hatte Kirchheimer gebrochen.

Am 11. November 1937 emigrierte Kirchheimer mit seiner Frau Hilde Kirchheimer und seiner Tochter (geb. 1930) in die Vereinigten Staaten. Die Ehe wurde dort allerdings 1941 geschieden. In New York setzte Kirchheimer seine Arbeit für das International Institute of Social Research als Wissenschaftlicher Assistent für Recht und Sozialwissenschaften fort, 1937 bis 1942. Parallel war er Dozent für das Institutsprogramm an der Columbia University.

1943 zog Kirchheimer mit seiner zweiten Frau, Anne Rosenthal, nach Washington, D.C., wo 1945 ihr gemeinsamer Sohn Peter geboren wurde. Der Jurist arbeitete zunächst ein Jahr (1943 bis 1944) in Teilzeit, dann von 1944 bis 1952 in Vollzeit als Research Analyst in der Research and Analysis Branch des U.S. Office of Strategic Services (OSS), einem Vorläufer der CIA. Am 16. November 1943 erhielt Kirchheimer die amerikanische Staatsbürgerschaft. Er war Gastdozent für Soziologie am Wellesley College(1943). Daneben arbeitete er als Dozent an der American University (1951 bis 1952) und an der Howard University (1952 bis 1954). Von 1952 bis 56 war Otto Kirchheimer Chef der Zentraleuropa-Sektion des Dienstes im State Department. Kirchheimer verließ das OSS und nahm eine Gastprofessur an der Graduate Faculty of the New School for Social Research an (1954). Im nächsten Jahr wurde er dort ordentlicher Professor für Political Science (bis 1961). Hier schrieb er sein zweites Buch mit dem Titel: Political Justice: The Use of Legal Procedures for Political Ends, das 1961 abgeschlossen war. 1960 bis 1965 war Otto Kirchheimer Professor für Political Science an der Columbia University. Von 1961 bis 1962 war er zudem Fulbright Professor an der Universität Freiburg.

Am 22. November 1965 starb Kirchheimer an einem Herzanfall, als er am Dulles Airport ein Flugzeug besteigen wollte.

Werk

Otto Kirchheimer verstand sich selbst als „Hersteller politischer Analysen“, dessen Ziel es war, „Regierungssysteme in voller Aktivität zu dechiffrieren, zu diagnostizieren oder in seinem Geist bessere für sie zu substituieren“.

Seine publizistischen Aktivitäten begann Kirchheimer als Jungsozialist in der Weimarer Republik. Schwerpunkt seiner Arbeiten war hier das Verhältnis von Verfassung und Sozialstruktur sowie die Analyse der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse und deren Auswirkung auf das Staatsrecht. Er untersuchte an verschiedenen Beispielen die Spannung zwischen politischer „Legalordnung“ und ökonomischer „Machtordnung“. Mit Carl Schmitt teilte Kirchheimer die Ablehnung des Parlamentarismus und die Kritik am Pluralismus. Kirchheimer wird daher auch dem "linken Schmittianismus" zugerechnet. Wilhelm Hennis hatte die Übereinstimmung zwischen beiden Denkern auf die prägnante Formel gebracht: „Schmitts Methoden für linke Zwecke“.[1] Für Kirchheimer und Schmitt war ein parlamentarischer Konsens im Klassenstaat prinzipiell unmöglich. Das Majoritätssystem war für beide an die Voraussetzung der Homogenität gebunden, weil andernfalls nicht das Parlament über die Politik entscheide, sondern ökonomische Machtkomplexe. Die Weimarer Verfassung betrachtete Kirchheimer nur als Episode. Sie sei ein überkommener Rechtsmechanismus, der zwangsläufig an den realen Machtverhältnissen scheitern müsse. Daher stellte er bereits 1930 die Frage: „Weimar und was dann?“

Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten verlagerte sich der Schwerpunkt von Kirchheimers Arbeiten auf die Analyse des „deutschen Faschismus“. Dabei stellte sich Kirchheimer ausdrücklich gegen die These vom Doppelstaat, die sein Mitstreiter aus Weimarer Tagen, Ernst Fraenkel, aufgestellt hatte. Auch wandte er sich gegen die Auffassung der Frankfurter Schule, nach der der nationalsozialistische Primat der Politik den Monopolkapitalismus in einen Staatskapitalismus verwandelt habe. Ähnlich wie in Franz L. Neumanns Behemoth existieren auch bei Kirchheimer vom Staat abgekoppelte Hoheitsbereiche, deren Politik vom Machtkampf unterschiedlicher Machtgruppen bestimmt wird. Wie bei Neumann kann es also auch für Kirchheimer im Nationalsozialismus keine strukturell einheitliche Staatsgewalt geben, das Dritte Reich erscheint somit als „Unstaat“. Laut Kirchheimer bemächtigen sich – wieder schmittianisch gedacht – die gesellschaftlichen Gruppen des Staates und seiner Funktionen, die sie unter sich aufteilen. So entstünde ein Neben- und Gegeneinander unterschiedlicher Machtkomplexe, bei dem die Frage der verbindlichen Entscheidungskompetenz offen bliebe.

In der Nachkriegszeit waren die Themenschwerpunkte Kirchheimers die Analyse der deutschen und zentraleuropäischen Nachkriegsentwicklung und die Untersuchung der Formen und Wirkungen „Politischer Justiz“. Kirchheimer war einer der Nestoren der vergleichenden Parteienforschung. Seine Schriften zur Transformation westeuropäischer Parteiensysteme, mit der in ihr enthaltenen These eines Trends zur Allerweltspartei („Catch-All-Party“) und einem damit einhergehenden „Verfall der Opposition“, gelten als Meisterwerke des Fachs. Im Zuge einer Entideologisierung, so die These Kirchheimers, näherten sich die großen Parteien der westeuropäischen Länder einander an, und die „Weltanschauungsparteien“ auf konfessioneller oder klassenstruktureller Basis wandelten sich zu Allerweltsparteien. In seinem Werk über die Politische Justiz beschrieb Kirchheimer das Problem der rechtsstaatlichen Erschleichung von politischer Ausgrenzung durch normales Gesetz bzw. der „Verwendung juristischer Verfahrensmöglichkeiten zu politischen Zwecken“, wie auch der Untertitel der Untersuchung lautete. Von Politischer Justiz sprach Kirchheimer, „wenn Gerichte für politische Zwecke in Anspruch genommen werden, so dass das Feld politischen Handelns ausgeweitet und abgesichert werden kann. Die Funktionsweise der politischen Justiz besteht darin, dass das politische Handeln von Gruppen und Individuen der gerichtlichen Prüfung unterworfen wird. Eine solche gerichtliche Kontrolle des Handelns strebt an, wer seine eigene Position festigen und die seiner politischen Gegner schwächen will.“ (Politische Justiz, S. 606).

Obgleich Kirchheimer nach 1945 nicht nach Deutschland zurückkehrte, übten seine Theorien auch in Deutschland einen erheblichen Einfluss auf die Konstituierung der Politikwissenschaft aus.

Schriften

  • Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus. Heymann, Berlin 1928.
  • Weimar – und was dann? Entstehung und Gegenwart der Weimarer Verfassung. Laub, Berlin 1930.
  • Die Grenzen der Enteignung. de Gruyter, Berlin 1930.
  • mit George Rushe: Punishment and Social Structure. Columbia University Press, New York 1939.
    • Sozialstruktur und Strafvollzug. Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main, Köln 1974.
  • The Government of Eastern Germany. 1950.
  • Political Justice. 1961.
    • Politische Justiz. Luchterhand, Neuwied 1965.
  • Politik und Verfassung. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1964. Neuauflage 1981.
  • Politische Herrschaft – Fünf Beiträge zur Lehre vom Staat. Aufsatzsammlung. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1967. Neuauflage 1981.
  • Politics, Law and Social Change. Selected Essays of Otto Kirchheimer. New York, London 1969.
  • Funktion des Staates und der Verfassung – 10 Analysen. Aufsatzsammlung. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1972.
  • Von der Weimarer Republik zum Faschismus: Die Auflösung der demokratischen Rechtsordnung. Aufsatzsammlung. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1976.

Einzelnachweise

  1. Roland Czada: Hersteller politischer Analysen. In: Journal für Sozialforschung. 26. Jg., Heft 1, 1986, S. 109 (online, PDF-Datei; 95 kB)

Literatur

  • Riccardo Bavaj: Otto Kirchheimers Parlamentarismuskritik in der Weimarer Republik. Ein Fall von “Linksschmittianismus”? In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 55 (2007), S. 33–51.
  • Wolfgang Luthardt, Alfons Söllner (Hrsg.): Verfassungsstaat, Souveränität, Pluralismus. Otto Kirchheimer zum Gedächtnis. 1989
  • Volker Neumann: Verfassungstheorie politischer Antipoden: Otto Kirchheimer und Carl Schmitt. In: Kritische Justiz. 14/1981, S. 31ff.
  • Robert Chr. van Ooyen / Frank Schale (Hrsg.): Kritische Verfassungspolitologie. Das Staatsverständnis von Otto Kirchheimer. Reihe Staatsverständnisse, Bd. 37, Nomos, Baden-Baden 2011, ISBN 978-3-8329-5404-8.
  • Roland Czada: Hersteller politischer Analysen. Zur Aktualität von Werk und Person Otto Kirchheimers. Tagungsbericht. In: Journal für Sozialforschung. 26. Jg., Heft 1, 1986. (online, PDF-Datei; 95 kB)
  • Frank Schale: Zwischen Engagement und Skepsis. Eine Studie zu den Schriften von Otto Kirchheimer. Baden-Baden 2006.
  • Ernst C. Stiefel, Frank Mecklenburg: Deutsche Juristen im amerikanischen Exil (1933–1950). Mohr, Tübingen 1991, ISBN 3-16-145688-2.

Weblinks


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