Paralysis infantum

Paralysis infantum
Klassifikation nach ICD-10
G80.- Infantile Zerebralparese
G80.0 Spastische tetraplegische Zerebralparese
G80.1 Spastische diplegische Zerebralparese
G80.2 Infantile hemiplegische Zerebralparese
G80.3 Dyskinetische Zerebralparese
G80.4 Ataktische Zerebralparese
G80.8 Sonstige infantile Zerebralparese
G80.9 Infantile Zerebralparese, nicht näher bezeichnet
ICD-10 online (WHO-Version 2006)

Unter dem Ausdruck infantile Zerebralparese oder Cerebralparese − von cerebrum (Gehirn) und parese (Lähmung) − versteht man Bewegungsstörungen, deren Ursache in einer frühkindlichen Hirnschädigung liegt. Die dadurch hervorgerufene Behinderung ist charakterisiert durch Störungen des Nerven- und Muskelsystems im Bereich der willkürlichen Bewegungskoordination. Am häufigsten sind spastische Mischformen und eine Erhöhung der Muskelspannung (Muskelhypertonie).

Inhaltsverzeichnis

Synonyme

Man spricht von Zerebraler Kinderlähmung, Infantiler Paralyse, Paralysis infantum; nach dem englischen Orthopäden William John Little auch (veraltet) von der Littleschen Krankheit („Little's disease“) oder Morbus Little. Die Menschen, die von einer ICP betroffen sind, werden im Allgemeinen auch Spastiker genannt.

Allgemeines

Das menschliche Gehirn ist unter anderem eine Schaltzentrale, die Befehle an den Bewegungsapparat sendet. Dieser wiederum meldet ausgeführte Aktionen an das Gehirn zurück. So entsteht der Kreislauf der menschlichen Motorik. Bei einem Kind mit zerebralen Bewegungsstörungen, deren Ursachen meistens auf die Schwangerschaft, die Geburt oder auf Krankheiten zurückzuführen sind, ist die Funktion einiger Anteile des motorischen Rindengebietes beeinträchtigt. Es entstehen Löcher in diesem Bewegungskreislauf. Eine zerebrale Bewegungsstörung wird zum einen meist durch eine hohe Muskelspannung (Muskelhypertonie) oder ständiges Wechseln von starken und schwachen Muskelverspannungen (Muskelhypotonie) sichtbar. Zum anderen ist die Zusammenarbeit verschiedener Muskeln gestört. Ein Mensch mit Zerebralparese kann seine Muskeln nicht wie üblich kontrollieren.

Eine Zerebralparese lässt sich bei schwer betroffenen Kindern schon bald nach der Geburt erkennen, bei anderen erst nach drei bis vier Monaten. Allgemein spricht man aber erst nach Ende des ersten Lebensjahres von einer Zerebralparese. Es gibt keine bestimmte Behandlungsmethode bei Zerebralparesen, jedes Kind reagiert anders.

Häufigkeit

Statistisch gesehen kann bei etwa einem von 500 lebend geborenen Kindern eine Zerebralparese diagnostiziert werden. Sehr kleine Frühgeborene sind etwa 100 bis 300 Mal häufiger betroffen als reif geborene Kinder.

Symptome

Es kommt zu einer Verhinderung der üblichen Entwicklung des zentralen Nervensystems, zu einer Entwicklungshemmung, einem Weiterbestehen primitiver Reflexe und die Entwicklung physiologischer Reflexbahnen bleibt aus.

Die motorische Entwicklung verläuft verlangsamt. Der Muskeltonus, die Muskelstärke, die Muskelkoordination und die Bewegungsabläufe sind betroffen. Es lassen sich verschiedene Formen von Bewegungs- und Haltungsbesonderheiten unterscheiden, oftmals handelt es sich um Mischformen:

  • Hemiplegie (32 % der betroffenen Menschen): Es sind die Extremitäten einer Körperhälfte (Arme und Beine) betroffen. Es besteht eine typische Steigerung des Muskeltonus und ein Weiterbestehen des Pyramidenbahnreflexes über das dritte Lebensjahr hinaus.
  • Diplegie (40 % der betroffenen Menschen): Hierbei sind die Beine stärker betroffen als die Arme. Die Intelligenz ist wie üblich entwickelt.

Infolge der spastischen Lähmung kommt es zur Gelenkversteifung, wobei die Beugemuskeln und die Adduktoren von der Spastik betroffen sind:

  • Die Hüfte steht angewinkelt gebeugt und nach innen gedreht. (innenrotiert und adduziert)
  • Ellenbogen, Handgelenk, Finger und Kniegelenk neigen zur Beugeversteifung. (Flexion)
  • Der Unterarm ist stark gebeugt und der Daumen ist nach innen gedreht. (Pronation)
  • Das Sprunggelenk und der Fuß stehen in Spitzfußstellung.
  • Die Wirbelsäule zeigt eine hochgradige Verkrümmung (Skoliose).

Bei 15% der Menschen kommt es zu ataktischen Syndromen, d. h., zu Koordinations- und Gleichgewichtsstörungen, Sprachstörungen, Tremor (Muskelzittern), Störung der feinen Muskelbewegungen und muskulärer Hypotonie.

Bei 10% der Menschen kommt es zu dyskinetischen Syndromen, d. h. wurmartige, unkontrollierte und unwillkürliche Bewegungsabläufe (Athetose), Tremor, mangelnde Kontrolle der Mimik, häufiges Grimassieren und Überdehnung der Gelenkkapseln.

Neben diesen drei beschriebenen Syndromen treten häufig auf:

Auswirkungen

In Folge der spastischen Lähmungen kommt es zu einer eingeschränkten Bewegungsfähigkeit der betroffenen Extremitäten und ggf. wird die Nutzung eines Rollstuhls notwendig. Dadurch ist die selbstständige Bewältigung des Alltags (z. B. essen und trinken, Toilettengang, an- und ausziehen) erschwert. Durch epileptische Anfälle kann es zu Stürzen kommen. Die Hör- und Sprachstörungen beeinträchtigen die Teilnahme am sozialen Leben. Kognitive Einschränkungen können die Selbstständigkeit und die Bewältigung des Alltags beeinträchtigen. Oftmals sind die Menschen ausgegrenzt und es kann zu sozialer Isolation kommen.

Ursachen

Nachweisbare Ursachen für die Hirnentwicklungsstörung lassen sich in etwa 50% der Fälle finden. Beispiele sind:

Die Diagnose wird nach Ausschluss anderer fortschreitender Erkrankungen und auf Grund des klinischen Befundes gestellt.

Behandlung

Eine multidisziplinäre Therapie aus unterschiedlichen medizinischen und therapeutischen Bereichen steht im Mittelpunkt der Behandlung der ICP. Grundsätzlich sollte diese so früh wie möglich im Verlauf der Erkrankung beginnen. Eine kausale, also die Erkrankung heilende Therapie ist auf Grund der Vielfältigkeit der betroffenen Organsysteme nur in den seltensten Fällen möglich. Von besonderer Bedeutung ist die Ausarbeitung eines die verschiedenen Therapiemöglichkeiten einbeziehenden Rehabilitationsplanes, in dem insbesondere die zu erreichenden Therapieziele erläutert und festgelegt werden sollten. Hierbei stehen unterstützende konservative Therapiemaßnahmen wie Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie, die durch spezielle medikamentöse Therapien und konservative orthopädische Kontrakturvorbeugung durch verschiedene Orthopädietechniken unterstützt werden, im Vordergrund der Behandlung. Erst bei einem fortschreitenden Verlauf, der Ausschöpfung aller konservativen Maßnahmen und unter sehr strenger Operationsindikation sollten operative Maßnahmen zum Einsatz kommen.

Konservative Therapie

Die konservative Therapie umfasst ein großes Spektrum der Rehabilitationsmedizin. Sie sollte so bald als möglich nach der Diagnose beginnen

  • Physiotherapie
Eine krankengymnastische Behandlung zur Kontrakturvorbeugung und Verbesserung der motorischen Störungen. Einbeziehung der Eltern, um tägliche Übungen zu ermöglichen.
1. Methode nach Bobath
Entwicklungsneurologische Behandlung, bei der pathologische Verhaltensmuster gehemmt und normale Bewegungsmuster gebahnt werden. Es werden insbesondere Stell- und Gleichgewichtsreaktionen der Kinder trainiert.
2. Methode nach Vojta
Entwicklungskinesiologische Behandlung, die von einer automatischen Steuerung der Körperlage durch bestimmte Reflexe der höheren Ebenen des Zentralnervensystems ausgehen. Diese Mechanismen der reflektorischen Fortbewegung lassen sich therapeutisch provozieren. Hierdurch können Ersatzmuster für die Aufrichtungsfähigkeit des Körpers geschaffen werden.
  • Ergotherapie
Die Ergotherapie besteht vor allem in der Anleitung zur Selbsthilfe, in speziellen Arbeits-, und Schreibhilfen. Sowie in einer gezielten Therapie für die meist schwer gestörte Sensomotorik der Hände.
  • Logopädie
Ess-, und Sprachtherapie.
  • Konduktive Förderung nach Petö
Diese Ganzheitstherapie wurde Ende 1940 von Prof. Petö entwickelt, um cerebral geschädigte Kinder zu fördern und zu therapieren. Sie ist für Kinder und Erwachsene geeignet. Sie besteht aus krankengymnastischen, pädagogischen, ergotherapeutischen, psychologischen und logopädischen Elementen. Oberstes Ziel dabei ist, den Patienten soweit bewegungsfähig zu machen, dass er einmal ein selbständiges und unabhängiges Leben führen kann. Der Gemeinsame Bundesausschuss hat in einer abschließenden Stellungnahme aufgrund eines fehlenden wissenschaftlichen Nachweises des Nutzens dieser Methode die Aufnahme in den Heilmittelkatalog abgelehnt.[1]
  • Medikamentöse Therapie
Als Medikamente haben sich Antispastika, Myotonolytika und Anticholinergika zur Behandlung der spastischen Komponente sowie Tranquilizer und Psychopharmaka bei begleitenden psychischen Störungen und Unruhezuständen bewährt. Zur Behandlung der Hypertonie kann in die betroffenen Muskeln Botulinumtoxin (auch bekannt als "Botox") lokal injiziert werden, was die Muskelspannung über einen Wirkungszeitraum von ca. drei Monaten senkt.
  • Orthopädietechnik
Die Orthopädietechnik besteht vor allem in einer Kontrakturprophylaxe, sowie in einer Gelenkstabilisierung durch Funktionsschienen, Steh-, Geh-, Sitz- und Greifhilfen.

Operative Therapie

Im Vordergrund der operativen Therapie steht die Korrektur und Prophylaxe von Kontrakturen und Deformitäten, sowie die größtmögliche Herstellung des Muskelgleichgewichts zur weitergehenden Verhinderung pathologischer Bewegungsmuster. Es stehen hierfür verschiedene operative Techniken zur Verfügung:

  • Eine Sehnenverlängerung (Tenotomie) und Muskeleinkerbung (Myotomie) sowie Muskelursprungsverlagerung; Ziel dieser Behandlung ist die Beseitigung der Kontraktur unter Schonung der Spannung der Muskulatur. Weiterhin kommen eine Achillessehnenverlängerung und Hüftbeugekontraktur zur Anwendung.
  • Eine Nervendurchtrennung (Neurotomie); sie dient der Behandlung schwerster spastischer Kontrakturen, insbesondere bei Gehunfähigkeit. Hierdurch wird irreversibel eine spastische in eine schlaffe Parese (Lähmung) umgewandelt.
  • Knochenumstellung (Osteotomie); sie kommt häufig zum Einsatz, wenn bereits Deformitäten der Gelenke eingetreten sind und eine einfache Sehnenverlängerung keinen weiteren therapeutischen Nutzen bringt.
  • Eine Gelenkversteifung (Arthrodese); sie führt zu permanenten Korrekturen im Bereich instabiler Gelenke.

Schulischer Aspekt

Bei Kindern mit einer Zerebralparese ist die Einschulung in eine Regelschule meist ein schwerer und bürokratischer Prozess. Viele Lehrer sind nicht dazu ausgebildet, Kinder mit einer Körperbehinderung aufzunehmen, selbst wenn ihre kognitiven Fähigkeiten mit denen eines Regelkindes vergleichbar sind. Deshalb wird z. B. in der Schweiz keinem Lehrer vorgeschrieben, ein Kind mit einer Zerebralparese aufnehmen zu müssen. In vielen Fällen liegt es an den Eltern, sich dafür einzusetzen, dass das eigene Kind in eine Regelklasse aufgenommen wird.

Wenn ein Kind mit körperlichen Schwierigkeiten in die Regelklasse aufgenommen wird, ist dessen Schulalltag oft von vielerlei Hürden geprägt. Problematisch ist schon die Tatsache, dass von einem Kind mit Behinderung meist das Gleiche erwartet wird wie von Kindern ohne Einschränkungen. Andererseits ist es gerade für Kinder mit einer körperlichen Behinderung sehr wichtig, ihnen nicht in gutgemeinter Hilfsbereitschaft jede Arbeit abzunehmen und ihnen das Gefühl zu geben, dass sie gesellschaftlich wichtige Arbeit leisten und selbständig für sich sorgen können. Die Anforderungen an das Lehrpersonal sind daher bei Kindern mit Behinderung enorm. Daher besteht mittlerweile die Möglichkeit eines Integrationshelfers für behinderte Kinder. Die Beantragung ist meist jedoch mit einem hohen büroktratischen Aufwand verbunden. Dazu kommen noch potentielle Konflikte zwischen behinderten und nichtbehinderten Schülern.

Literatur

  • Adriano Ferrari, Giovanni Cioni: Infantile Cerebralparese - Spontaner Verlauf und Orientierungshilfen für die Rehabilitation.
  • R. Holtz: Therapiehilfen und Alltagshilfen für zerebralparetische Kinder.
  • B. Bobath, K. Bobath: Die motorische Entwicklung bei Zerebralparesen.
  • R. Feldkamp, D. von Aufschnaiter, J.U. Baumann: Krankengymnastische Behandlung der Infantilen Zerebralparese.
  • M. Feldkamp: Das zerebralparetische Kind. Konzepte therapeutischer Förderung.
  • F. Heinen (Hrsg.): Botulinumtoxin bei Kindern mit Cerebralparese.
  • Therapieverfahren bei infantilen Cerebralparesen (Materialsammlung)
  • Freeman Miller, Steven J. Bachrach: Cerebral Palsy – A Complete Guide for Caregiving. For family members and health care professionals.
  • Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung: Forschungsbericht Nr. 224, Konduktive Förderung für cerebral geschädigte Kinder, ISSN 0174-4992

Einzelnachweise

  1. Konduktive Förderung nach Petö - Zusammenfassender Bericht des Unterausschusses "Heil- und Hilfsmittel" des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Beratungen gemäß §138 SGB V Volltext online (pdf), zuletzt eingesehen 14.08.08
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