Rheinsberg: Ein Bilderbuch für Verliebte

Rheinsberg: Ein Bilderbuch für Verliebte

Mit der Erzählung Rheinsberg: Ein Bilderbuch für Verliebte trat der bis dahin als Publizist bekannte Kurt Tucholsky 1912 ans Licht der literarischen Öffentlichkeit. Ihr Erfolg beim zeitgenössischen Publikum ist neben der inhaltlichen Provokation vor allem dem leichten, ironischen Stil zuzuschreiben, mit dem der Autor den Wochenendausflug eines unverheirateten jungen Paares schildert.

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

Die kurze Erzählung handelt vom dreitägigen Ausflug zweier Verliebter, Claire und Wolfgang, die mit dem Zug ins ländliche Rheinsberg fahren, um ihrem monotonen Berliner Alltag zu entfliehen. Da die Reise eines unverheirateten Paares zu dieser Zeit als unziemlich galt, verwenden die Verliebten den Decknamen “Ehepaar Gambetta”. Am Reisesziel angekommen, geben sie sich mit einer Prise Ironie unschuldigen touristischen Vergnügungen hin. So besichtigen sie das Schloss Rheinsberg und machen Bootstouren auf den umliegenden Seen. Gemeinsam bewundern sie die unberührte Natur, die ihnen als Grossstadtmenschen völlig fremd erscheint. Auf ihrem Nachtspaziergang verfolgen sie durch ein Fenster den Ausschnitt aus einem Theaterstück. Am zweiten Tag unternehmen sie nach einem späten Frühstück einen Spaziergang durch die Stadt. Anhand der Läden fällt ihnen auf, dass die Modernität auch vor dem Landleben nicht halt macht. Danach gehen sie zusammen ins Kino („Kinematograph“), wobei Claire andauernd Fragen zu den Filmen stellt. Am letzten ihrer drei Tage unternehmen sie erneut eine Bootstour, bei der sie eine Medizinstudentin namens Lissy Aachner auf ihrem Boot mitnehmen. Nach einem Spaziergang durch den Park kehren sie mit dem Zug zurück “in die große Stadt, in der es wieder Mühen für sie gab, graue Tage und sehnsüchtige Telefongespräche, verschwiegene Nachmittage, Arbeit und das ganze Glück ihrer großen Liebe.”[1]

Form, Sprache

Obwohl Rheinsberg keine eigentlichen Bilder enthält, erinnert es – wie der Untertitel verspricht –an ein Bilderbuch. So verzichtet Kurt Tucholsky weitgehend auf den klassischen Spannungsaufbau. Vielmehr werden das idyllische Rheinsberg und die freie Liebe der Protagonisten in einer losen Folge impressionistischer Momentaufnahmen beschrieben. Dies geschieht in szenischer Darstellung, vor allem in Form von Dialogen, die durch ironische Kommentare angereichert werden. Es dominiert ein personales Erzählverhalten: Es ist unschwer erkennbar, dass es die männliche Hauptfigur ist, aus deren Sicht die Handlung wiedergegeben wird. Die Sprache der beiden Protagonisten ist sehr eigentümlich. Tucholsky bedient sich bei den Dialogen in Rheinsberg einer für die damalige Literatur unkonventionell wörtlich übernommenen Umgangssprache. Ausserdem verwendet das Liebespaar in seinen Konversationen oft Sarkasmus und eine übertrieben rosige Liebessprache.

»…nein…Sonne weeiit…Land…Seh mal: ’ne Akazie! ’ne blühende Akazie, lauter blühende Akazien«

»Ich habe ein außerordentlich feines Empfinden dafür, ich vermute, du bist gewillt, dich über mich lustig zu machen. Wird diese Vermutung zur Gewißheit, so schlage ich dich nieder.«

Figuren

Clarie

Claire ist mit ihrem ungebundenen Wesen und dem losen Mundwerk das pure Gegenstück zum konventionellen Frauenbild des Wilhelminischen Reiches. Sie ist eine Medizinstudentin aus gutem Hause, mit strengem Vater und einer Familie mit gutem Ruf. Damit ihre Eltern nichts von ihrem verlängerten Wochenende mit Wolfgang erfahren, fährt sie unter dem Vorwand, eine Freundin zu besuchen, in die Ferien. Sie fühlt sich als wichtiges und hübsches Mädchen und gibt ihre Überlegenheit auch dem Geliebten mehrfach zu verstehen. Trotzdem ist ihre Liebe aus der Mischung von Sticheleien und liebevollen Wörtern deutlich herauszulesen. Claire hat ihre ganz eigene Weise, mit Menschen umzugehen, redet mit ihnen scheinbar wirre Dinge, um sie zu irritieren, was ihren eigenen Humor ausmacht. Besonders auffallend ist, dass sie sich ihre eigene, wirre Sprache zurechtgelegt hat, die an die ersten Sprechversuche eines Kleinkindes erinnert: »Ach Gott, konnste auch besser mir nicht zu bekorrigieren zu gebrauchs gehabs habs!«.[2] Das reale Vorbild für die Figur der Claire war Else Weil, mit der Kurt Tucholsky im August 1911 ein Wochenende in Rheinsberg verbrachte.

Wolfgang (“Wölfchen”)

Über seinen Hintergrund ist noch weniger bekannt als über jenen von Claire. In dem gebildeten jungen Mann kann man indes unschwer das Alter Ego des jungen Kurt Tucholsky identifizieren. Er spricht Latein ("Ne quis animadvertat! Prost.") und kennt sich in Biologie aus. Des Weiteren liebt er es zu philosophieren. »›Wie merkwürdig‹, sagte Wolfgang, ›draußen ist es totenstill, der Mond scheint, und hier drinnen spielen sie ein Scheinleben. Und wir kommen hinzu, wissen nichts von den Voraussetzungen des ersten Akts und bleiben ernst.‹« [3] Im Gegensatz zu Claire wirkt er seriös und überlegt. Er stellt das typische Mannsbild dar: stark, beschützerisch und rechthaberisch. Meist ist er es, der sagt, was man tut und wohin man geht. Wenn Clarie ihm widerspricht, wird er wütend und droht ihr spielerisch, sie zu schlagen.

Weitere Personen

Herr Adler

Herr Adler ist der übergewichtige Kastellan des Schlosses und führt das junge Paar herum. Stolz gibt er sein Wissen über das Gebäude preis und wundert sich, dass die Besucher nicht mehr Bewunderung zeigen.

Lissy Aachner

Lissy Achner ist eine sehr ambitionierte Medizinstudentin. Das verliebte Paar nimmt sie mit auf dem Boot und unterhält sich mit ihr. Lissy Achner spricht sehr viel und teilt Claire und Wölfchen ihre unkonventionellen Ansichten über Gott und die Welt mit. Sie scheint sehr stur zu sein und alles im Leben im Griff zu haben.

Deutung

Nach dem biografischen Interpretationsverfahren kann die Erzählung Rheinsberg als Aufarbeitung eines wirklich so geschehen Ausfluges von Tucholsky mit seiner Freundin (Else Weil) in die Natur ausgelegt werden.

Tucholsky verspottet mit der lockeren, unschuldigen Liebe der beiden Protagonisten und deren frechen Spässchen die Prüdheit des Bürgertums bezüglich Sexualität und unverbindlichen Beziehungen, wie dies viele Künstler der Weimarer Republik getan haben. Der Stil der neuen Sachlichkeit der mit einer ironischen Lockerheit grosse Gefühle zum Ausdruck bringt, ist in diesem Werk sehr schön ersichtlicht.

Gleichsam im Vorbeigehen verspottet der Satiriker Tucholsky in der Schilderung des Liebesidylls das Bürgertum, dessen Sexualmoral und Sprache sowie das Militärwesen mit seinem Märtyrertum. ("Sehssu, mein Affgen, das is nu deine Heimat. Sag mal: würdest du für dieselbe in den Tod gehen?")[4]

Rezeption

Das Buch hat sich seit seinem Erscheinen im Jahr 1912 zu einem Klassiker für Verliebte entwickelt. [5] Dem Autor zufolge wurde das Werk von den Rezensenten gut aufgenommen. Zusammen mit Mr. X eröffnete Tucholsky auf dem Kurfürstendamm eine ‘Bücherbar’, in der sie billig Bücher und Alkohol verkauften. Wer in dieser Bar eine Ausgabe von Rheinsberg erstand, erhielt dazu gratis ein alkoholisches Getränk. Tucholsky schrieb zur 50’000 Ausgabe des Buches in der Weltbühne: “Die Presse brachte sich um. Die ›Breslauer Zeitung‹ war dagegen, die ›Vossische‹ dafür, Prag und Riga verhielten sich neutral – die Ausschnitte sind noch da – und der ›Sankt Petersburger Herold‹ vom achtzehnten Dezember 1912 schrieb, wer einen Wilde erstehe, der bekäme Whisky Soda, und wer Ibsen kaufte, einen nordischen Korn. Das stimmte aber nicht – wir tranken selber. Und verkauften schrecklich viele ›Rheinsbergs‹.”[6]

Verfilmung

Das Buch wurde 1967 unter der Regie von Kurt Hoffmann in Deutschland verfilmt. Die Rolle von Claire und Wolf übernahmen Cornelia Froboess und Christian Wolff.

Den Soundtrack des Films konzipierte Hans-Martin Majewski.

Hauptartikel: Rheinsberg (Film)

Hörbücher

Einzelnachweise

  1. Kurt Tucholsky: Rheinsberg. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2006, S. 51.
  2. Kurt Tucholsky: Rheinsberg. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2006, S. 24.
  3. Kurt Tucholsky: Rheinsberg. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2006, S. 26.
  4. Kurt Tucholsky: Rheinsberg. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2006, S. 22.
  5. Rheinsberg. Ein Bilderbuch für Verliebte. Buchrezension
  6. Textlog - Rheinsberg

Weblinks


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