Schwertvers

Schwertvers

Als Schwertvers ( arabisch: āyat as-saif ) bezeichnet man im klassischen religiösen Gesetz und in der islamischen Koranexegese einen Koranvers, der als juristische Begründung für den Dschihad herangezogen wurde.[1] Der Schwertvers abrogiert gemäß der klassischen Koranexegese alle anderen Koranverse über den Umgang mit Nichtmuslimen.

Inhaltsverzeichnis

Die Bezeichnung des Koranverses

Diese Bezeichnung ist nicht koranisch und ist in den kanonischen Hadithsammlungen nicht belegbar. Sie taucht in der Koranexegese aber relativ früh, vor allem in den Werken der Abrogationsliteratur auf. Der ägyptische Gelehrte Abū Dschaʿfar an-Nahhās ( † 949), Verfasser eines Werkes über die Abrogationsfrage von Koranversen[2] stellt in einem eigens dafür gewidmeten Kapitel diejenigen einhundertdreizehn Koranverse zusammen, die durch den „Schwertvers“ abrogiert worden sind: Bayān al-mansūch fīl-Qurʾān bi-āyat as-saif / ‏بيان المنسوخ في القرآن بآية السيف‎ / Bayān al-mansūḫ fī ʾl-Qurʾān bi-āyat as-saif /‚Erläuterung des Abrogierten im Koran durch den Schwertvers‘.[3]

Der in Bagdad wirkende Hibatallāh ibn Salāma ibn Nasr († 1019) [4] weist in seinem Werk über die Abrogation darauf hin, dass der „Schwertvers“ insgesamt einhundertvierundzwanzig Koranverse abrogiert hat.[5]

Der andalusische Koranexeget al-Qurtubī, Muhammad ibn Abī Bakr († 1272)[6] verwendet in seinem 22 Bände umfassenden Korankommentar [7] diese Bezeichnung mehrfach und zitiert u. a. den frühen Koranexegeten Qatāda ibn Diʿāma († 736)[8], der bei der Exegese von Sure 2, Vers 83: „Und sprecht freundlich zu den Leuten“ ʿAbd Allāh ibn ʿAbbās († gegen 687) wie folgt zitiert: „das war am Anfang. Er (der Vers) ist durch den Schwertvers abrogiert worden.“

Der hanbalitische Jurist und Theologe Ibn al-Dschauzī († 1200) [9] verwendet diesen Begriff bei der Exegese von Sure 88, Vers 22 „und hast keine Gewalt über sie (so daß du sie etwa zum Glauben zwingen könntest“. Dieser Vers ist ebenfalls durch den „Schwertvers“ abrogiert worden.

Der Rechtsgelehrte asch-Schaukānī (* 1760; †1839), den man zu den Vorläufern des islamischen Modernismus zählt [10] und von Raschīd Ridā als Mudschaddid unter den Gelehrten der Neuzeit gelobt wird, ist der Ansicht, daß die Schlussworte in Sure 10, Vers 108 „...und wenn einer irregeht, zu seinem eigenen Nachteil. Ich bin nicht euer Sachwalter“ durch den „Schwertvers“ abrogiert worden sei.

Die Exegese

Der Schwertvers ist nur ein Teil des fünften Verses der 9. Sure (Surat at-Tauba) des Korans. Dort heißt es:

„Und wenn nun die heiligen Monate abgelaufen sind, dann tötet die Heiden, wo (immer) ihr sie findet, greift sie, umzingelt sie und lauert ihnen überall auf!“

In der Fortsetzung heißt es dann:

„Wenn sie sich aber bekehren, das Gebet verrichten und die Almosensteuer geben, dann lasst sie ihres Weges ziehen!“

– Übersetzung: Rudi Paret

Bei at-Tabari, in einem der wichtigsten Korankommentare der klassischen islamischen Literatur, wird die zitierte Stelle in ihren einzelnen Satzteilen genau erläutert:

Und wenn nun die heiligen Monate abgelaufen sind, ...:

Kommentar: für diejenigen, die keinen Vertrag (mit den Muslimen) haben, oder einen Vertrag haben, diesen aber durch ihre Feindschaft gegenüber dem Gesandten Gottes und seinen Gefährten verletzt haben, oder für diejenigen, die entweder einen befristeten oder unbefristeten Vertrag hatten...

dann tötet die Heiden, ...:

Kommentar: Tötet sie „wo immer ihr sie findet“, d.h. wo ihr sie antrefft, im heiligen Bezirk oder im nicht heiligen Bezirk, in den heiligen oder nicht heiligen Monaten.

greift sie, ...:

Kommentar: Nehmt sie gefangen.

umzingelt sie...:

Kommentar: Hindert sie daran, sich im Land des Islams frei zu bewegen und Mekka zu betreten.

und lauert ihnen überall auf.:

Kommentar: Lauert ihnen auf, um sie zu töten oder gefangen zu nehmen - überall, wo ihr seid, d.h. an jedem Wegrand und an jeder Beobachtungsstelle (...).

Wenn sie sich aber bekehren, ...:

Kommentar: Wenn sie sich davon abwenden, was ihnen untersagt war, d.h. dem einzigen Gott andere beizugesellen (schirk) und die Prophetie seines Propheten Muhammed - Gott segne ihn und gebe ihm Heil - leugnen, und dafür zum Glauben an den einzigen Gott und zu seiner aufrichtigen Verehrung zurückkehren, ohne andere Gottheiten zu verehren, und die Prophetie Muhammeds bestätigen.

das Gebet verrichten, ...:

Kommentar: Sie verrichten das, was Gott ihnen als göttliche Verordnung des Gebets auferlegt hat, sie entrichten Almosensteuer, die Gott ihnen aus ihrem Vermögen zur Pflicht gemacht hat.

„dann lasst sie ihres Weges ziehen!“

Kommentar: Dann lasst sie sich frei in ihren Siedlungen bewegen und das Heiligtum betreten.

Der Hinweis auf die vier heiligen Monate der Friedenspflicht (Muharram, Radjab, Dhu 'l-Qa´da und Dhu'l-Hiddja) bedeutet zudem, dass die Kampfhandlungen danach wieder aufgenommen werden sollen. Die alternative Übersetzung zu wenn sie sich bekehren heißt nämlich: wenn sie reuevoll umkehren.

Zu Beginn dieser Sure sind die wichtigsten Verse erhalten - darunter auch der Schwertvers - die Ali ibn Abi Talib während der Pilgerfahrt bei Arafat im März 631 auf Anordnung von Mohammed vortrug.[11]

Muslimische Autoren der Moderne sehen ausschließlich Kriege als legitim an, die der Verteidigung islamischer Staaten, der Freiheit der Muslime, den Islam außerhalb dieser zu verkünden, und des Schutzes der Muslime unter nicht-islamischer Herrschaft dienen.[12] Deshalb liefern sie eine andere Interpretation von 9:5 als die klassischen Korankommentare, indem sie den Vers in einen historischen Kontext stellen: Den ersten Versen dieser Sure entsprechend beziehe sich der Vers auf die Quraisch, die ihr Waffenstillstandsabkommen mit Mohammed gebrochen hatten, und stelle somit - entgegen klassischer Korankommentare - kein Gebot zu einem allgemeinen Kampf gegen Andersgläubige dar.[13] Die maßgeblichen Koranverse für die Beziehung von Muslimen mit Nicht-Muslimen seien solche wie zum Beispiel 8:61:[14]

„Und wenn sie (d.h. die Feinde) sich dem Frieden zuneigen, dann neige (auch du) dich ihm zu (und laß vom Kampf ab)! Und vertrau auf Gott! Er ist der, der (alles) hört und weiß.“

Übersetzung nach Paret

Literatur

Einzelnachweise

  1. Rudolph Peters: Islam and colonialism. The Doctrine of jihad in Modern History. Mouton Publishers, 1979. S. 14
  2. Carl Brockelmann: Geschichte der arabischen Litteratur. Zweite den Supplementbänden angepasste Auflage. Brill. Leiden 1943. Bd. 1. S. 138
  3. 2. Auflage. Beirut 1996. S. 267
  4. Fuat Sezgin: Geschichte des arabischen Schrifttums. Brill. Leiden. 1967. Bd. 1. S. 47-48
  5. Abū ʿUbaid al-Qāsim b. Sallām's K. al-nāsikh wa-l-mansūkh. (Hrsg.): John Burton. Cambridge 1987. S. 131 (Editor's commentary on the text)
  6. The Encyclopaedia of Islam. New Edition. Brill. Leiden. Bd. 5. S. 512
  7. 1. Auflage. Beirut 2006
  8. Fuat Sezgin (1967), S. 31-32
  9. The Encyclopaedia of Islam. New Edition. Brill, Leiden. Bd. 3, S. 751
  10. The Encyclopaedia of Islam. New Edition. Brill, Leiden. Bd. 9, S. 38
  11. Theodor Nöldeke: Geschichte des Qorāns. Bd. 1, S. 222: Rudi Paret (1980), S. 193-194
  12. Rudolph Peters: Jihad in Classical and Modern Islam. Markus Wiener Publishers, 2005. S. 125
  13. Rudolph Peters: Islam and colonialism. The Doctrine of jihad in Modern History. Mouton Publishers, 1979. S. 129
  14. Rudolph Peters: Islam and colonialism. The Doctrine of jihad in Modern History. Mouton Publishers, 1979. S. 128

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