Selbstpsychologie

Selbstpsychologie

Die Selbstpsychologie ist eine psychoanalytische Theorie, die von Heinz Kohut in den 1970er Jahren begründet wurde. Sie beschäftigt sich mit der Organisation und Aufrechterhaltung des Selbst in Abhängigkeit zu den Objekten der Umwelt, also den bedeutendsten Personen für das Individuum.

Das Selbst wurde zuerst von dem psychoanalytischen Ich-Psychologen Heinz Hartmann eingeführt. Es ergänzt das Strukturmodell der Psyche von Sigmund Freud. Er stellte das Modell der Psyche bestehend aus Es, Ich und Über-Ich auf.

Das Selbst ist im Gegensatz zum Ich eine übergreifende Instanz in der Persönlichkeit (wird aber auch teilweise als ein Teil des Ichs beschrieben), die alle Instanzen wie Über-Ich und Es sowie auch alle Objekte, also die Vorstellung von den nahe stehenden Personen einschließt. Seine Funktionen sind die Selbstwahrnehmung, Selbststeuerung, Kommunikation und Bindung. Das Selbst wird nur erfahrbar, indem es ein Gefühl des Wohlbefindens und des Selbstwertgefühls vermittelt.

Als Selbstrepräsentanz wird in der Objektbeziehungstheorie und der Selbstpsychologie das Selbst in Beziehung zu einem Objekt verstanden, also das Selbst in Relation zu einer anderen Person.

Daniel N. Stern, ein bekannter Selbstpsychologe und Säuglingsforscher, schreibt hierzu: „Auch wenn niemand recht weiß, was das Selbst eigentlich ist, haben wir doch als Erwachsene ein sehr reales Selbstempfinden.[1] Er beschreibt, dass das Selbst: als einzelner, abgegrenzter, integrierter Körper wahrgenommen wird; als Handlungsinstanz (in der wir selbst handeln); unsere Gefühle empfindet; unsere Absichten erfasst; unsere Pläne schmiedet; unsere Erfahrungen in Sprache umsetzt und unser persönliches Wissen mitteilt.

Dass das Ich realitätsgerecht zwischen den Ansprüchen des Es, des Über-Ich und der sozialen Umwelt zu vermitteln hat, besagt, dass es orientiert ist an seinen eigenen psychischen Fähigkeiten und Möglichkeiten und an den möglichen und realen Gegebenheiten der Naturwelt und der Kulturwelt. Den Wissenserwerb über die eigenen psychischen Fähigkeiten, Möglichkeiten und Realitäten und die Möglichkeiten von Natur- und Kulturwelt nennt man Selbsterkenntnis: Erkenne dich selbst! (Wahlspruch in der Griechischen Philosophie) Selbsterkenntnis ist also Voraussetzung nahezu jeder glückenden Selbstverwirklichung. – „Glück“ soll hier jetzt nur ganz allgemein bedeuten, dass ein Mensch am Ende seines Lebens von sich sagen kann, sein Leben sei ihm geglückt: sinnstiftend, produktiv, erfahrungsreich gewesen.

Das Ich benötigt also für seine Vermittlungs-Funktion realitätsgerechte Vorstellungen über sich selbst, die »Selbst« bzw. »Selbstrepräsentanzen« heißen. Aus den Selbstrepräsentanzen bezieht ein Mensch seine Selbstdefinition, seine psycho-soziale Identität.

Auf den ersten Blick scheint es, dass zwischen dem Ich und dem Selbst kaum Unterschiede bestehen. – Der Schein trügt, denn das Selbst, als die strukturierten Bilder über sich selbst, ist natürlich nicht reflexions- und kritikfähig. Nur das Ich mit seinen Funktionen des Wahrnehmens, Denkens und des Gedächtnisses vermag zu reflektieren und selbstkritisch zu sein. Die Ausbildung eines kritischen Selbst ist eine der Hauptfunktionen des Ich.

Ein Selbst kann man dann kritisch nennen bzw. die Selbstrepräsentanzen sind dann vom Ich kritisch erfasst und ausgebildet worden, wenn sie die Grenzen des Selbst (der Person) zureichend realistisch erfassen und dem Bewusstsein widerspiegeln können. Dass man sich realistisch wahrnimmt, setzt Selbsterkenntnis voraus. Selbsterkenntnis ist die oft demütigende und schmerzhafte Erkenntnis der realen Grenzen des Selbst. Schmerzhaft ist diese Erkenntnis, weil wir uns alle gerne ungefährdeter, bedeutender, sicherer … sehen, als wir in Wahrheit sind. Diesen Sachverhalt bezeichnet man als Narzissmus. Erwachsene sollten ein realistisches Bild von sich haben – am besten eines, das ihrer Realität am nächsten kommt. Und sie sollten sich lieben und annehmen lernen so wie sie sind – und nicht, wie ein unrealistisches Über-Ich - Ich-Ideal sie gerne hätte. Und sie sollten sich nicht kleiner sehen, als es ihren Möglichkeiten entspricht, sonst können sie nicht der werden, der sie sein könnten und sein sollten.

„Werde, der du bist“ (= von deinen Fähigkeiten und Möglichkeiten her, von deinen Wesens-Anlagen her und Wesens-Möglichkeiten her) ist zunächst scheinbar ein Anspruch, der nur von der erzieherischen Umwelt her einer Person angetragen und durch Belohnungs- und Bestrafungsmechanismen ins Über-Ich hinein sozialisiert wird. Aber es ist auch ein mehr oder weniger unbewusster Anspruch aus dem Es: Der psychosomatische Bewegungsdrang, der Neugierdrang (Wahrnehmungsinteresse) und Bestätigungs-Drang (Primär-Narzissmus) führen unbewusst – also wie automatisch – dazu, sich zu erproben, zu behaupten und Probleme lösen zu wollen. Das Ich muss jedoch die Handlungsimpulse und Handlungsansprüche aus dem Es, dem Über-Ich und aus der sozialen Umwelt kritisch und vor allem selbstkritisch prüfen und dann handlungsleitend einsetzen, so dass man sagen kann: „Werde, der du bist“ ist ein Anspruch des ichfunktional gebildeten Gewissens.

Die Herausbildung des Selbst ist ein Vorgang der Kompromissbildung, insofern das Ich bei der Selbstverwirklichung zwischen den Ansprüchen des Es, des Über-Ich und des Sozialaußen (Feedback) vermittelt. Das optimale Ziel der Kompromissbildung ist die Findung eines stabilen, d. h. konfliktfähigen Selbst: eines Selbst, das menschliches Handeln in einem konflikthaften Leben lebensentfaltend (konfliktauflösend und konfliktminimierend) zu organisieren vermag. Diese Kompromissbildung des Selbst ist mitunter ein schwer zu lösendes Lebensproblem. Die Frage ‚Wer bin ich‘ stellt sich oft manifest als Sinnkrise, wenn man nicht mehr sinnvoll sagen kann, warum man sich weiter abmühen soll, ob das, was man bisher glaubte, sinnvoll ist, wahr ist …, wenn man sich selbst zu einem unauslotbaren Abgrund wird.

Siehe auch: Selbstbild

Weblinks und Literatur


Einzelnachweise

  1. D. N. Stern: Die Lebenserfahrungen des Säuglings. Klett-Cotta, Stuttgart 1992.

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