Sexabhängigkeit

Sexabhängigkeit
Klassifikation nach ICD-10
F52.7 Gesteigertes sexuelles Verlangen
F52.8 Sonstige sexuelle Funktionsstörung, nicht verursacht durch eine organische Störung oder Krankheit
F52.9 Nicht näher bezeichnete sexuelle Funktionsstörung, nicht verursacht durch eine organische Störung oder Krankheit
F63.8 Störung der Impulskontrolle
ICD-10 online (WHO-Version 2006)

Als Hypersexualität wird in der Medizin, der Klinischen Psychologie und Sexualwissenschaft ein gesteigertes sexuelles Verlangen bzw. sexuell motiviertes Handeln bezeichnet, das unterschiedlichste Ursachen haben kann.

Inhaltsverzeichnis

Problematik der Abgrenzung

Obwohl es sich hier um einen neutraleren Begriff als jenen des Satyriasis bzw. „Donjuanismus“ des Mannes und der Nymphomanie der Frau zu handeln scheint, wird dieser heute dennoch von einigen Sexualwissenschaftlern abgelehnt, da eine Quantifizierung von sexuellen Motivationen oder Handlungsweisen nach deren Meinung als alleinige Grundlage für eine Normierung des Verhaltens im Bereich der Sexualität nicht ausschließlich herangezogen werden sollte. Wie oft ein Mensch in einer Woche oder an einem Tag sexuell aktiv sein darf, um damit ein noch normales Sexualverhalten an den Tag zu legen, ist mit solchen Angaben alleine nicht immer zu bestimmen. Dennoch ist die Anzahl von sexuellen Handlungen in den meisten Fällen ein zuverlässiger Indikator für das Krankheitsbild der Hypersexualität. [1] Was Alfred Charles Kinsey (1894-1956) 1953 im Kinsey-Report ironisch über die Nymphomanie sagte, gilt entsprechend abgewandelt auch für die Hypersexualität: Eine Hypersexualität kann bei einer Person festgestellt werden, die mehr Sex hat als Sie (A nymphomaniac is a woman „who has more sex than you do.“).[2] Dennoch bleibt festzustellen: Bei der „Hypersexualität“ kann es sich – sofern die Fallstricke einer subjektiven Wertung bei deren Diagnose erkannt wurden – um eine Störung handeln, die ein wirklich befriedigendes Leben des oder der Betroffenen aufgrund vielfältiger Ursachen eventuell verhindert – auch wenn in ähnlich erscheinenden Fällen der Lustgewinn aller Beteiligten erhöht ist.

Dieses Verlangen bzw. Verhalten kann sich in unkontrolliertem Genuss von sexuellen Kontaktmitteln wie Pornografie, Telefonsex oder übermäßiger Masturbation, übermäßigen Sexualkontakten (Promiskuität) bis hin zum von manchen Therapeuten konstatierten suchtartigem Sexualverhalten manifestieren. Manche „Sexsüchtige“ streben mehrmals täglich Orgasmen an, ohne tatsächlich Befriedigung zu erlangen. Dies alles kann so weit gehen, dass Familie, Beruf und sexfreie soziale Kontakte vernachlässigt werden.

Zum Begriff „Sexsucht“

Sucht“ ist ein äußerst inflationär benutzter Begriff, der dementsprechend von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) seit 1964 nicht mehr benutzt wird. Wenn er im folgenden verwendet wird, dann weil er immer wieder auftaucht, ansonsten aber auch gleichbedeutend von „Hypersexualität“ gesprochen wurde. So schränkt Patrick Carnes „Sexsucht“ nach Christian Schulte-Cloos (Sexualität und Sucht)[1] folgendermaßen ein: „Nur ein außer Kontrolle geratenes Verhalten, das einhergeht mit den klassischen Anzeichen für Sucht – Besessenheit, Machtlosigkeit und die Benutzung von Sex als Schmerzmittel – weisen auf sexuelle Sucht hin.“

Ursachen

Manche Spezialisten sehen die Ursache in einer hypersexualisierten Kindheit (beispielsweise hervorgerufen durch Missbrauch).

Verhaltenssüchte

Eine neuere Sicht der Sexsucht erschließt sich in den letzten Jahren über die Hirnforschung. Hier wurden in einem entwicklungsgeschichtlich früh angelegten Teil des Gehirns Kerngebiete und Bahnen (z. B. im Mittelhirn der nucleus accumbens oder im limbischen System der Mandelkern) beschrieben, die zum Belohnungssystem des Gehirns gehören. Es zeigte sich dabei, dass eine Suchtform über die Ausschüttung bestimmter Neurotransmitter wie Dopamin zu einer besonderen Sensibilisierung und Übererregbarkeit in diesen Teilen des Gehirns führt. Dadurch entstehen mit der Zeit Veränderungen und Fehlfunktionen des Belohnungssystems, die mit einer Abhängigkeitsentwicklung einhergehen. Das Belohnungssystem im Gehirn wird durch stoffgebundene Abhängigkeiten (z.B. Alkohol und Drogen) aktiviert, aber genauso durch nicht stoffgebundene Suchtformen. Dem entsprechend handelt es sich bei der Sexsucht um eine Suchtform, die man den nicht stoffgebundenen Süchten zuordnet. Sie zählt genauso wie Glücksspiel-, Arbeits-, Computer-, Fernseh-, Kauf- oder Sportsucht zu den sogenannten „Verhaltenssüchten“. Hier wird die süchtige Entwicklung nicht durch einen Suchtstoff, sondern durch ein stimmungsveränderndes Verhalten hervorgerufen, von dem mit der Zeit eine zunehmende Abhängigkeit entsteht.

Phänomenologie

Sexsucht tritt unabhängig von der sexuellen Orientierung auf. Sie berührt also die Heterosexualität wie die Homosexualität. Auch können beinahe alle Spielarten der Sexualität davon betroffen sein. Kennzeichnend ist das süchtige Erleben der sexuellen Aktivitäten und der Kontrollverlust, d.h. der Betroffene ist nicht mehr in der Lage, sein Verhalten so zu kontrollieren und zu steuern, wie er es sich eigentlich wünscht. Diese eingeschränkte oder fehlende Selbstkontrolle bewirkt beispielsweise, dass sexuellen Versuchungssituationen nicht widerstanden werden kann, obwohl damit negative Auswirkungen für den Betroffenen verbunden sind. Meist handelt es sich dabei um sexuelle Aktivitäten, die von einer tieferen emotionalen Beziehung zum Partner losgelöst sind und denen heimlich nachgegangen wird. Sexualitätsformen wie sie virtuell durch Pornographie (z.B. Sexseiten im Internet) und käuflich mit Sexarbeit (z.B. in Bars, Clubs oder Prostitution) ermöglicht werden oder weitgehend anonyme Sexualitätsformen wie Treffen in Parks oder „Swinger Clubs“ oder „One-Night-Stands“ sind dafür besonders geeignet. Außergewöhnliche sexuelle Praktiken wie Paraphilien können dazugehören. Aber auch mehrere, gleichzeitige Partnerschaften können ein süchtiges Potenzial entfalten.

Verlauf

Entsprechend ist der Sexsüchtige jemand, der sich gedanklich zunehmend zwanghaft mit sexuellen Themen auseinandersetzt. Wie bei jeder Sucht kommt es dabei zur „Dosissteigerung“, d.h. um die gleiche Wirkung zu erzielen, werden immer größere sexuelle Reize gebraucht. Das sexuelle Thema wird immer vorherrschender und verdrängt das Interesse an anderen Lebensbereichen, die dann vernachlässigt werden. Im Zuge der Entwicklung kommt es zu der beschriebenen, verminderten Kontrollfähigkeit des sexuellen Verhaltens, die bis zum Kontrollverlust reichen kann. Oftmals wird das Ausmaß des Problems vom Betroffenen gar nicht erkannt. „Der innere Zwang, Substanzen zu konsumieren wird meist dann bewusst, wenn versucht wird, den Konsum zu beenden oder zu kontrollieren.“ (Zitat aus dem „Internationalen Klassifikationssystem für Krankheiten (ICD 10) zum „Abhängigkeitssyndrom“).

Folgen

Sexsucht führt oft zu Scham, Schuldgefühlen und Depressionen. Die Einsamkeit der Betroffenen ist groß und geht oftmals mit Hoffnungslosigkeit einher, die sich bis zur Suizidalität steigern kann. Zu den Folgen sexsüchtigen Verhaltens gehören an vorderster Stelle verständlicherweise auch Partnerschaftsprobleme, die von der Beeinträchtigung der Partnerschaft oder Trennung bis zum Verlust der Beziehungsfähigkeit führen. Sexsucht kann sehr kostenintensiv gelebt werden. In dem Fall können Schulden die Situation zusätzlich erschweren. Gesundheitliche Probleme durch Geschlechtskrankheiten können ebenfalls Teil des Schädigungsbildes sein genauso wie rechtliche Folgen, etwa wie solche, die aus dem kriminellen Umfeld resultieren, in dem Sex oft verkauft wird.

Therapie und Selbsthilfe

In den USA gibt es Fachkliniken (Tageskliniken oder vollstationär), die sich auf die Behandlung dieser Störung spezialisiert haben. In Deutschland wurden bisher noch keine spezifischen Therapieprogramme für Sexsüchtige entwickelt. Es existieren aber Selbsthilfegruppen, die von Betroffenen meist als sehr hilfreich empfunden werden. Die „Anonymen Sexaholiker“ (AS) und „Anonyme Sex- und Liebessüchtige“ (SLAA[3]) gehören zu den verbreitetsten Gruppen, die in allen deutschsprachigen Ländern in vielen Großstädten vertreten sind.

Häufigkeit

Zur Häufigkeit des Vorkommens gibt es bislang keine repräsentativen Erhebungen. In den USA wird von einem Anteil von ca. 4 % der Gesamtbevölkerung ausgegangen, während man in Deutschland von höchstens einem Prozent ausgeht.

Geschichte

Das Phänomen Sexsucht ist keineswegs neu. Süchtiges sexuelles Erleben wurde in der Literatur auch früher beschrieben. Medizinisch wurde es erstmals von den zwei französischen Psychiatern Esquirol und Pinel (ca.1830) als Störung gesehen und mit „Erotomanie“ bezeichnet. Im weltweit ersten wissenschaftlichen Lehrbuch über Störungen der Sexualität wird es von Krafft-Ebing (1896) aufgeführt und „sexuelle Hyperästhesie“ genannt. Sexualsucht, Hyperlibido, Perversion, Hypererotizismus, Sexualzwang und Sexualabhängigkeit sind einige der benutzten Begrifflichkeiten, die seither gefunden wurden, um dieses Phänomen zu benennen. Geschlechtsspezifische Bezeichnungen der Sexsucht haben auch Eingang in die Umgangssprache gefunden. So wird bei der Frau von Nymphomanin, beim Mann vom Casanova oder Don Juan gesprochen.

Einordnung nach ICD-10

In der Krankheiten-Klassifizierungsliste der Weltgesundheitsorganisation namens ICD-10 kann die Hypersexualität unter verschiedenen Diagnoseschlüsseln kategorisiert werden. Die wichtigsten werden unter dem Kapitel F52 („Sexuelle Funktionsstörungen, nicht verursacht durch eine organische Störung oder Krankheit“) erwähnt:

  • F52.7 als „Gesteigertes sexuelles Verlangen“ bzw. als Satyriasis (Mann) oder Nymphomanie (Frau)
  • F52.8 als „Sonstige sexuelle Funktionsstörung, nicht verursacht durch eine organische Störung oder Krankheit“
  • F52.9 als „Nicht näher bezeichnete sexuelle Funktionsstörung, nicht verursacht durch eine organische Störung oder Krankheit“
  • F63.8 als „Störung der Impulskontrollen“

Siehe auch

Quellen

  1. a b Christian Schulte-Cloos: Sexualität und Sucht
  2. Love and Romantic Relationships
  3. Sex and Love Addicts Anonymous www.slaa.de

Literatur

  • Carnes, Patrick: Wenn Sex zur Sucht wird. München, 1992
  • Carnes, Patrick: Zerstörerische Lust. München, 1987
  • Roth, Kornelius: Sexsucht. Krankheit und Trauma im Verborgenen. Berlin, 2007
  • Roth, Kornelius: Sexsucht. Therapie und Praxis. In: Nicht nur Drogen machen süchtig. Poppelreuter, Stefan / Gross, Werner (Hrsg.). Weinheim, 2000
  • Schneider, Bernd / Funke, Wilma: Sexsucht. Theorie und Empirie. In: Nicht nur Drogen machen süchtig. Poppelreuter, Stefan / Gross, Werner (Hrsg.). Weinheim, 2000
  • Sigusch, Volkmar: Leitsymptome süchtig-perverser Entwicklungen. Dtsch Arztebl 2002; 99: A 3420–3423 [Heft 50] PDF
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