- Silbenschrift
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In Silbenschriften korreliert zumindest ein Teil der Syllabogramme genannten Grapheme aus dem Inventar von einigen Dutzend bis wenige hundert Zeichen mit Lauteinheiten, die größer sind als phonologische Segmente, also entweder mit ganzen Sprechsilben (σ) oder mit Kombinationen aus Anlaut und Gipfel (ων), aus Gipfel und Auslaut (νκ) oder nur aus dem Gipfel (ν). Sie gehören damit zu den phonographischen Schriften, bei denen einzelne Schriftzeichen nicht direkt für Bedeutungen (Morphem oder Lexem) stehen.
Inhaltsverzeichnis
Verbreitung
Die meisten der im Altertum, aber auch der bis in die mittlere Neuzeit autonom entwickelten Schriftsysteme verwenden Silbenzeichen, was darauf schließen lässt, dass dies der intuitivste Ansatz ist. Entsprechend hoch ist der Variantenreichtum der Silbenschriften. Durch die Vorherrschaft der Segmentalschriften in Europa und dem Nahen Osten sowie die von dort ausgehende Kolonisierung und Missionierung weiter Teile der Erde, die Schrift auch in bis dahin schriftlose Kulturen brachten, ist heute allerdings das lateinische Alphabet vorherrschend.
Phonographische Eigenschaften
diverse mögliche orthographische Regeln zur Kombination von CV-Syllabogrammen C1V1+C1V1 gleiche Konsonanten,
gleiche Vokale⇒ /C1V1C1V1/ Konkatenation ⇒ /C1V1V1/ = /C1V1:/ Synkope (und Fusion) ⇒ /C1C1V1/ = /C1:V1/ Elision (und Fusion) ⇒ /C1V1C1/ Apokope ⇒ /V1C1V1/ Aphärese ⇒ /C1V1C2C1V1/ Epenthese ⇒ /V2C1V1C1V1/ Prothese C1V1+C1V2 gleiche Konsonanten,
ungleiche Vokale⇒ /C1V1C1V2/ Konkatenation ⇒ /C1V1V2/ ∨ /C1V3/ Synkope (ggf. mit Fusion) ⇒ /V1V2/ ∨ /V3/ Elimination (ggf. mit Fusion) C1V1+C2V1 ungleiche Konsonanten,
gleiche Vokale⇒ /C1V1C2V1/ Konkatenation ⇒ /C1C2V1/ Elision ⇒ /C1V1C2/ Apokope ⇒ /C3V1(:)/ Fusion C1V1+C2V2 ungleiche Konsonanten,
ungleiche Vokale⇒ /C1V1C2V2/ Konkatenation ⇒ /C1C2V1V2/
∨ /C3V1V2/ ∨ /C1C2V3/Rekombination
(ggf. mit Fusion)⇒ /C1V3C2/ ∨ /V1C3V2/ Teilfusion ⇒ /C3V3/ Fusion Der segmentale Aufbau der Syllabogramme einer Silbenschrift hängt überwiegend von den phonologischen Eigenheiten der Sprache ab, für welche die Schrift (ursprünglich) geschaffen wurde. Manche Lautsprachen haben ein relativ regelmäßiges und beschränktes Silbeninventar, das bspw. (fast) nur aus offenen (/π ∨ ν/) oder optimalen Silben (/ων/) besteht oder (fast) nur Einzelkonsonanten in Onset und Koda erlaubt (/Cν/, /νC/, /CνC/, /ν/). Da dadurch die nötige Zahl an Syllabogrammen gering gehalten werden kann, bieten sich diese Sprachen, anders als etwa das Deutsche mit seinen Konsonantenclustern, besonders für Silbenschriften an. Um auch irreguläre Silben schreiben zu können oder die Schrift auf eine andere Sprache anzuwenden, entwickeln sich orthographische Regeln, die der Kombination von zwei Silbenzeichen eine neue Lautung zuweist.
In einer literalisierten Gesellschaft hat das verwendete Schriftsystem immer auch Einfluss auf die phonologische Wahrnehmung. So gibt es bspw. in den japanischen Silbenschriften nur ein einziges explizites Kodazeichen, das für einen nasalen Abschluss (/n, m, ŋ/ u.ä.) steht und meist als ‹n› transliteriert wird. Dadurch glauben viele Japaner, auch dann ein /u/ oder /i/ zu hören und zu sprechen, wenn ein Wort mit einem entsprechenden Syllabogramm endet, obwohl diese Vokale stumm sind (/CVC/), was auch in der Transkription anderer Sprachen genutzt wird.
Zeichentypen
Die Zeichen in synthetischen Silbenschriften sind teilweise motiviert, indem sie sich innerhalb einer Kern-/Vokalreihe oder innerhalb einer Silbenrandspalte (i.d.R. Onset) gleichen. Die Silbenschrift ist darüber hinaus systematisch, wenn alle lautlichen Segmente mit graphischen Eigenschaften korrespondieren. So könnten sich bspw. einerseits die Silbenzeichen für /ka/ und /ku/ in derselben Weise ähneln wie die für /ta/ und /tu/ und andererseits könnten diejenigen für /ka/ und /ta/ sowie die für /ku/ und /tu/ eine graphische Gemeinsamsamkeit aufweisen – oder beides. Diese systematischen Veränderungen können durch das Hinzufügen von Teilglyphen (z.B. Gəʿəz) oder durch geometrische Translationen wie Drehen und Spiegeln (z.B. Cree) erzeugt werden. Andere Silbenschriften nutzen arbiträre Syllabogrammen und heißen analytisch (z.B. Kana).
In einer echten Silbenschrift steht jedes Zeichen für eine Silbe der entsprechenden Sprache (z.B. Cherokee), d.h. ein echtes Syllabogramm deckt alle Teile einer Silbe ab, also (nach westlicher Phonologie) Anlaut, Gipfel und Auslaut. Da sowohl Anfangs- als auch Endrand, also die gesamte Silbenschale, zumindest in manchen Sprachen optional ist, gibt es Start- ων/β, Kern- ν, End- νκ/ρ und Vollsyllabogramme ωνκ/σ, wobei in den meisten Silbenschriften nur einfache Start- CV und Kernsyllabogramme V verwendet werden. In den unechten Silbenschriften müssen die Syllabogramme zum Teil kombiniert werden, um eine Sprechsilbe zu bilden, z.B. im japanischen Schriftsystem 〈CV〉 + ん 〈n〉 = /CVn/ oder 〈CijV〉 = /CjV/. Insbesondere Kana wird daher auch als Morenschrift bezeichnet, denn ihre Silbenzeichen können ohne Kombination weder einen Langvokal oder Diphthong noch eine nasale Koda und auch kein Cluster aus Konsonant und Halbvokal im Onset enthalten.
Ein Syllabar ist vollständig, wenn es alle möglichen Silben einer korrespondierenden Lautsprache abdeckt, ohne dass im Schriftsystem auf weitere graphematische Regeln zurückgegriffen werden muss. In der Praxis wird dieses Ziel, welches den flachen alphabetischen Orthographien ähnelt, nie ganz erreicht, sondern es gibt bspw. für die einfache Silbe /C1V1C2/ unter anderem Varianten mit impliziter Koda 〈C1V1〉, (End-)Konsonantenzeichen 〈C1V1C2〉, stummem Vokal 〈C1V1C2V2〉, Echovokal 〈C1V1C2V1〉 oder Koppelvokal 〈C1V1V1C2〉 .
Grenzfälle
Einigen wenigen Schriften, z.B. dem koreanischen Hangeul, liegen zwar segmentale Alphabete zugrunde, aber die Segmentzeichen werden silben- oder morphemweise in Frames gruppiert, sodass die Leseeinheit syllabisch oder morphemisch ist. Sie werden manchmal zu den Silbenschriften gezählt.
Bei vielen indischen Schriften wird der jeweils häufigste Vokal (meist /a/) nicht mit einem eigenen Zeichen geschrieben, sondern es gibt im Gegenteil oft ein spezielles Zeichen (bspw. Virama), mit dem dieser inhärente Vokal unterdrückt werden kann. Es gibt je nach Herangehensweise an diese Grapheme ohne Vokalzeichen zwei verschiedene Klassifizierungen dieser Schriften:
Interpretation von Abugidas Silbenschrift Phonem Segmentalschrift 〈C1aC2a〉 /C1C2a/ 〈C1C2〉 〈CaV〉 /CV/ 〈CV〉 〈CaX〉 /C/ 〈CX〉 〈Ca〉 /Ca/ 〈C〉 - Silbenschrift
- Es ist ein Silbenzeichen Ca, bei dem der inhärente Vokal entfällt, wenn es mit anderen Syllabogrammen oder einem Vokaldiakritikum kombiniert wird.
- Segmentalschrift
- Es ist ein Konsonantenzeichen C, das einen impliziten Vokal erhält, wenn es nicht mit anderen Konsonanten oder einem Vokaldiakritikum kombiniert wird.
Viele Schriftsysteme mit Buchstabenschriften haben ebenfalls einen kleinen syllabischen Anteil, indem bei der Worttrennung am Zeilenende mit dem nur dann sichtbarem Trennstrich nur nach vollständigen Silben oder Morphemen eine Trennung erfolgen kann (Silbentrennung).
Beispiele
Folgende Schriften sind Silbenschriften:
Literatur
- Christa Dürscheid: Einführung in die Schriftlinguistik. 3., überarbeitete und ergänzte Auflage. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2006, ISBN 3-525-26516-6 (Dieses Lehrbuch geht auch auf mehrere Silbenschriften ein.).
- Harald Haarmann: Universalgeschichte der Schrift. Campus, Frankfurt am Main, New York 1990, ISBN 3-593-34346-0 (Dieses Handbuch geht auch auf mehrere Silbenschriften ein.).
Siehe auch
Weblinks
Wiktionary: Silbenschrift – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
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