Solmisation

Solmisation
Die Guidonische Hand (Manuskript aus Mantua, spätes 15. Jh.)

Solmisation ist eine im Mittelalter entwickelte Verfahrensweise, die Tonstufen eines Gesanges auf bestimmte Silben zu singen, „um ihren Ort im Tonsystem (qualitas) zu erkennen“[1]. Vermutlich im 13. Jh. begann man, das Verfahren eigens zu benennen, und sprach u. a. von solfatio, abgeleitet von den Tonsilben sol und fa. Gegen Ende des 15. Jh. ist dann die mittellateinische Wortbildung solmisatio/solmizatio belegbar, abgeleitet von den Tonsilben sol und mi.[1] Heute wird zwischen der „relativen“ und der „absoluten“ Solmisation unterschieden.

Inhaltsverzeichnis

Historischer Abriss

Tonsilben wurden bereits im alten China verwendet, und in der indischen Musik sind sie bis heute lebendig. Das alte Griechenland kannte Tonsilben für das Tetrachord. Auch der syrische und byzantinische Gesang nutzte Silben, deren Funktion allerdings nicht mehr bekannt ist.[2]

Als „Vater“ der Solmisation gilt Guido von Arezzo (geboren etwa 992), der den sechs Tonstufen des mittelalterlichen Hexachordes sechs Tonsilben zuordnete: ut, re, mi, fa, sol und la. Der Abstand zwischen mi und fa betrug einen halben, der Abstand zwischen den übrigen Tonstufen jeweils einen ganzen Ton. Guido hatte die Tonsilben aus dem lateinischen Johannes-Hymnus[3] gewonnen; die möglicherweise eigens komponierte oder überarbeitete Hymnenmelodie[4] diente dem Memorieren der Tonsilben samt Tonstufen. Spätestens im 12. Jahrhundert wurde die so genannte Guidonische Hand benutzt, um dieses Tonsystem zu vermitteln.

Fast 600 Jahre lang bezeichneten die guidonischen Silben keine festen Tonhöhen, sondern bestimmte Orte im Tonsystem, nach heutigem Sprachgebrauch: „relative“ Tonhöhen. Um 1600 allerdings begannen französische Musiker, die Silben auf feste Tonhöhen anzuwenden – ut entsprach dem c, re dem d etc. Um die Tonstufen der diatonischen Leiter zu komplettieren, benannten sie die siebte Stufe si, vielleicht abgeleitet von den Initialen der Wörter Sancte Ioannes, mit denen die guidonische Hymne schließt.[5] Noch Jean-Jacques Rousseau war mit der neueren, „absoluten“ Praxis keineswegs einverstanden:[6]

„C und A bezeichnen bestimmte, unveränderliche Töne, die immer mit denselben Tasten angeschlagen werden. Ut und la sind etwas anderes. Ut ist immer Grundton (Tonika, erste Stufe) einer Durtonleiter und la immer Grundton einer Molltonleiter. Die französischen Musiker haben befremdlicherweise diese Unterschiede verwischt. Sie haben unnützerweise die Benennung für die Tasten und Töne verdoppelt und keine Zeichen für die Benennung der Stufen übriggelassen.“

Rousseau: Emile oder über die Erziehung

Ab Mitte des 17. Jh. wurde die eher unsangliche Silbe ut allmählich durch do ersetzt – die (C-)Dur-Tonleiter aufwärts hieß nun also do, re, mi, fa, sol, la, si, do.[5] Die Zweiteilung in eine ältere „relative“ und eine jüngere „absolute“ Tradition blieb bestehen; die Einbeziehung chromatischer Tonstufen führte in den beiden Systemen zu unterschiedlichen Konsequenzen.

Im deutschsprachigen Raum machten im 20. Jh. nacheinander zwei komplexere Konzepte Karriere (obgleich der einflussreiche Fritz Jöde die relative Solmisation propagierte): das „absolute“ Tonwort von Carl Eitz und Jale, ein „relatives“ System von Richard Münnich. Gegen Ende des 20. Jh. begann sich in der Musikpädagogik eine neue Blüte der relativen Solmisation abzuzeichnen.

Relative Solmisation

Handzeichen nach Curwen

1742 hatte Jean-Jacques Rousseau eine Ziffernmethode vorgestellt, die den Grundton mit der Ziffer 1 notierte, die zweite Stufe mit der Ziffer 2 etc.;[7] die sieben Ziffern wurden auf die traditionsreichen Silben ut, ré, mi, fa, sol, la, si gesungen.[8] Der Mathematiker Pierre Galin, sein Schüler Aimé Paris und dessen Schwager Emile Chevé arbeiteten die rousseausche Methode aus und machten die Galin-Paris-Chevé-Methode vorübergehend sehr erfolgreich.[9] Auch die Engländerin Sarah Ann Glover knüpfte an den alten Solmisationsgedanken an und entwickelte ihn weiter, nicht zuletzt, indem sie die Tonsilben anglizierte (doh, ray, me, fah, soh, lah, te) und abkürzte (d, r, m, f, s, l, t). In der Silbe soh wurde das guidonische sol an die übrigen mit Vokal endenden Silben angeglichen, das te verdankte sich dem Umstand, dass sich ein se in abgekürzter Form nicht vom soh unterschieden hätte.[8] 1842 veröffentlichte John Curwen, ein von Heinrich Pestalozzi geprägter Erzieher, einen ersten Artikel über Glovers Ansatz; in der Folge überarbeitete er diesen Ansatz mit viel Geschick und propagierte ihn als Tonic-sol-fa-System in ganz Großbritannien; 1870 schließlich ergänzte er die Methode durch Aimé Paris’ Taktsprache und durch selbst entwickelte Handzeichen.[10] Agnes Hundoegger adaptierte das Prinzip in der Tonika-Do-Methode für den deutschsprachigen Raum,[11] Zoltán Kodály in der Kodály-Methode für Ungarn, Edwin E. Gordon in der Music Learning Theory für die USA. Auf Kodály aufbauend entwickelte der estnische Chorleiter Heino Kaljuste eigene Solmisations-Silben für das Gebiet der UdSSR. Da in der UdSSR die Guidonischen Silben für die absolute Solmisation verwendet wurden, entwickelte Kaljuste für die relative Solmisation eigene Silben mit veränderten Konsonanten, aber unter Beibehaltung der Guidonischen Vokale. Von Heino Kaljuste wurden für die relative Solmisation die Silben jo, le, wi, na, so, ra, ti verwendet.[12]

In der „relativen“ Solmisation seit Sarah Ann Glover stehen die Tonsilben do, re, mi, fa, so, la, ti, do für jegliche Durtonleiter (sei es C-Dur, Des-Dur, D-Dur oder Es-Dur …), die Tonsilben la, ti, do, re, mi, fa, so, la für jegliche natürliche Molltonleiter (sei es a-Moll, gis-Moll, g-Moll oder fis-Moll …). In der harmonischen Molltonleiter mit ihrer erhöhten siebten Stufe wird aus dem so ein si, in der melodischen Molltonleiter zusätzlich aus dem fa ein fi – Erhöhungen werden also durch den helleren Vokal i angedeutet. Entsprechend stehen dunklere Vokale für Erniedrigungen, bei manchen Autoren a und o, bei anderen konsequent u. Die wichtigsten Hoch-Alterationen sind do→di, re→ri, fa→fi und so→si, die wichtigsten Tiefalterationen ti→ta, la→lo und mi→ma[13] bzw. ti→tu, la→lu und mi→mu.[14]

Absolute Solmisation

Klaviatur mit französischen Tonnamen

Die „absolute“ Solmisation kommt u. a. im italienischen Solfeggio-Unterricht und im französischen Solfège-Unterricht zur Anwendung,[15] insbesondere also in Ländern, die die Solmisationssilben als Tonnamen verwenden. In diesem Solfeggio- oder Solfège-Unterricht, der vor allem studienvorbereitend stattfindet, werden Tonfolgen aller Schwierigkeitsgrade auf Solmisationssilben gesungen, wobei die abgeleiteten Töne die Silbe der Stammtöne erhalten.[16] So werden beispielsweise die H-Dur-Tonleiter, die unterschiedlichen h-Moll-Tonleitern, die B-Dur-Tonleiter und die unterschiedlichen b-Moll-Tonleitern allesamt si, do, re, mi, fa, sol, la, si gesungen. C-Dur, c-Moll, Cis-Dur und cis-Moll heißen do, re, mi, fa, sol, la, si, do, A-Dur, a-Moll, As-Dur und as-Moll la, si, do, re, mi, fa, sol, la.

Literatur

  • Malte Heygster und Manfred Grunenberg: Handbuch der relativen Solmisation. Schott, Mainz 1998, ISBN 3-7957-0329-8.
  • Axel Christian Schullz: do, re, mi – was ist das? Relative Solmisation kompakt und übersichtlich erklärt. GNGP, Duisburg 2008, ISBN 3-9809790-3-2.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. a b Hans Heinrich Eggebrecht (Hrsg.): Riemann Musiklexikon. Sachteil. Schott, Mainz 1967. Stichwort „Solmisation“.
  2. Vorgeschichte gemäß Willi Apel: Harvard Dictionary of Music.Heinemann, London 1976. Stichwörter „Solmization“ und „Echos“.
  3. Ut Queant Laxis Resonare Fibris, Artikel auf newadvent.org, Stand 4. Dezember 2010 (englisch).
  4. Claude V. Palisca: Guido of Arezzo. In: Stanley Sadie (Hrsg.): The New Grove Dictionary of Music and Musicians. Macmillan, London 1989: ‘Although the text of the hymn Ut queant laxis is found in an MS of c800 (I-Rvat Ottob. 532) and by an old tradition is ascribed to Paulus Diaconicus, the melody in question was unknown before Guido’s time and never had any liturgical function. It is probable that Guido invented the melody as a mnemonic device or reworked an existing melody now lost.’
  5. a b Willi Apel: Harvard Dictionary of Music.Heinemann, London 1976. Stichwort „Solmization“.
  6. Zitiert gemäß Malte Heygster und Manfred Grunenberg: Handbuch der relativen Solmisation. Schott, Mainz 1998. S. 7.
  7. The New Grove Dictionary of Music and Musicians. Macmillan, London 1989. Artikel „Rousseau, Jean-Jacques“.
  8. a b Agnes Hundoegger: Leitfaden der Tonika-Do-Lehre. Tonika-Do-Verlag, Berlin und Hannover 1925 (5. Auflage). S. 3.
  9. The New Grove Dictionary of Music and Musicians. Macmillan, London 1989. Artikel „Galin, Pierre“.
  10. John Curwen. Artikel auf mflp.co.uk, Stand 4. Dezember 2010.
  11. Agnes Hundoegger. Biografie auf fembio.org, Stand 4. Dezember 2010.
  12. Вейс, П. Ступеньки в музыку. – М.: Советский композитор, 1980.
  13. Heike Trimpert: Solmisation: Musik erleben von Anfang an! Referat auf musikschulen.de, Stand 4. Dezember 2010.
  14. Malte Heygster und Manfred Grunenberg: Handbuch der relativen Solmisation. Schott, Mainz 1998. S. 13.
  15. http://woerterbuch.reverso.net/englisch-definitionen/solfeggio
  16. Henry Siler: Toward An International Solfeggio. In: Journal of Research in Music Education, Frühjahr 1956, S. 40: ‘For example, in the French solfège, if we depart from the pure key of ut or C-major (read: do re mi fa sol la si do) and go into the key of sol or G-major (read: sol la si do re mi fa sol), or into the key of fa or F-major (read: fa sol la si do re mi fa), there is no terminology to indicate those tones not in the “holy key of C-major.” So one sings fa and thinks fa-sharp, sings si and thinks si-flat, so that by the time one arrives at seven sharps or flats everything one is saying is different from what one is thinking!’

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