Syndrom Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit

Syndrom Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit

Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (englisch: Group Focused Enmity) ist ein sozialwissenschaftlicher Begriff, der Einstellungen im Bereich Rassismus, Rechtsextremismus, Diskriminierung und Sozialdarwinismus mit einem integrativen Konzept neu zu fassen versucht.

Der von Wilhelm Heitmeyer geprägte Begriff bezeichnet zugleich ein Forschungsprogramm zur empirischen Langzeituntersuchung solcher Einstellungen in Deutschland. Die empirische Forschung findet in erster Linie im Rahmen eines Projekts des Bielefelder Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung sowie eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Graduiertenkollegs statt, an dem die Universitäten Bielefeld und Marburg beteiligt sind.

Inhaltsverzeichnis

Begriff und Forschungsprogramm

Der Begriff „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ basiert auf dem Bielefelder Desintegrationsansatz und zielt darauf, feindselige Einstellungen zu Menschen unterschiedlicher Herkunft sowie mit verschiedenen Lebensstilen in der deutschen Gesellschaft mit Hilfe eines Begriffs von großer Spannweite zu erfassen und zu systematisieren. Als gemeinsamer Kern der diesem Begriff zugeordneten Phänomene wird eine Ideologie der Ungleichwertigkeit angenommen – die Gleichwertigkeit und Unversehrtheit von spezifischen Gruppen der Gesellschaft werde in Frage gestellt. In die empirische Forschung werden offene und verdeckte Menschenfeindlichkeit einbezogen. Die federführende Forschergruppe spricht nicht von einem Phänomen, sondern von einem „Syndrom“. Die Bezeichnung „Syndrom“ für den Diskriminierungskomplex ist der Medizin entlehnt und bringt zum Ausdruck, dass die verschiedenen Symptome oft gleichzeitig oder korreliert auftreten.

Wesentliches Kennzeichen des Forschungsprogramms ist die Arbeit auf der Basis empirischer Sozialforschung, die mittels repräsentativer Langzeituntersuchungen die typischen Korrelationen der Teilphänomene herausarbeiten soll. Neben Fremdenfeindlichkeit und Rassismus wird auch die Abwertung des Religiösen betrachtet, d. h. Antisemitismus und Islamphobie. Einbezogen werden darüber hinaus die Herabsetzung sexuellen oder sozialen Andersseins, d. h. die Abwertung von Obdachlosen, Homosexuellen und Behinderten sowie die Demonstration von Sexismus und Etabliertenvorrechten. Jährlich wird in einer repräsentativen Befragung von 3000 Personen, die in Form von Telefoninterviews durch NFO Infratest vorgenommen wird, die Verbreitung dieser Einstellungen in der Bevölkerung Deutschlands erhoben. Ein Teil der Personen wird in mehreren aufeinanderfolgenden Jahren befragt, um Entwicklungen des Syndroms dokumentieren zu können. Für das Forschungsprogramm besonders wichtig ist die Untersuchung der statistischen Korrelationen zwischen den einzelnen Elementen.

Das Forschungsprojekt findet bis 2012 statt und wurde im Herbst 2008 neben der Etablierung einer internationalen Vergleichsuntersuchung um zwei weitere Forschungsschwerpunkte erweitert. So wird auch zur sozialräumlich differenzierten Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit in ost- und westdeutschen Gemeinden, Kleinstädten und Stadtteilen geforscht. Und es findet ein Forschungsprojekt zur gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit unter Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund statt. Dieses wird im Rahmen eines DFG-Graduiertenkollegs durch Dissertationen ergänzt, welches bis 2012 verlängert wurde.[1] Die Langzeituntersuchung wird von einem Stiftungs-Konsortium unter Federführung der VolkswagenStiftung finanziert.

Ergebnisse des Forschungsprojekts zur „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“

Das Syndrom Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit beinhaltet der Definition nach folgende Elemente: Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Homophobie, Abwertung von Obdachlosen, Abwertung von Behinderten, Islamophopie, Klassisischer Sexismus, Etabliertenvorrechte, Abwertung von Langzeitarbeitslosen. Die Ergebnisse der jährlich stattfindenden Erhebungen werden kontinuierlich berichtet.

Gruppenbezogene Ergebnisse

Rassismus

Zum Phänomen des Rassismus zählt nach Ansicht der Forscher z. B. die von 12,6 % der Befragten im Jahr 2007 vertretene Auffassung, dass die Weißen zu Recht führend in der Welt seien. (2002: 16,4 %; 2004: 13,1 %). Der Aussage, Aussiedler sollten besser gestellt werden als Ausländer, da sie deutscher Abstammung seien, schlossen sich 18,5 % der Befragten an (2002: 22 %; 2004: 21,9 %).

Fremdenfeindlichkeit

Fremdenfeindlichkeit drückt sich nach Ansicht der Forscher u. a. darin aus, dass 54,7 % der Befragten im Jahr 2007 der Auffassung waren, dass zu viele Ausländer in Deutschland leben würden (2002: 55,4 %; 2004: 60 %). Zudem, so die Auffassung von 29,7 %, sei es richtig, Ausländer zurückzuschicken, wenn die Arbeitsplätze knapp würden (2002: 27,7 %; 2004: 36 %).

Antisemitismus

Hinsichtlich des Antisemitismus wurde von 15,6 % der Befragten im Jahr 2007 zu viel Einfluss von Juden in Deutschland konstatiert (2002: 21,7 %; 2004: 22 %). Etwa 17,3 % waren überzeugt davon, dass Juden durch ihr eigenes Verhalten eine Mitschuld an der Judenverfolgung trügen (2002: 16,6 %; 2004: 12,8 %).

Homophobie

Bezüglich der Homophobie äußerten 31,3 % der Befragten im Jahr 2007 Ekel, wenn Homosexuelle sich in der Öffentlichkeit küssen (2005: 34,8 %). Dass Homosexualität unmoralisch sei, antworteten 15,3 % (2005: 16,6 %). Gegen die Möglichkeit der Ehen zwischen Frauen und zwischen Männern sprachen sich 35,4 % aus (2005: 40,5 %)

Abwertung von Obdachlosen

Zur Frage hinsichtlich der Obdachlosenabwertung sagten 2007 38,8 %, dass ihnen Obdachlosen in Städten unangenehm seien (2005: 38,9 %). Der Aussage, Obdachlose seien arbeitsscheu, stimmten 32,9 % zu (2005: 22,8 %). Der Forderung, bettelnde Obdachlose sollten aus den Fußgängerzonen entfernt werden, schlossen sich 34 % der Befragten an (2005: 35 %).

Abwertung von Behinderten

Hinsichtlich der Behindertenabwertung gaben 7,7 % der Befragten im Jahr 2007 an, dass viele Forderungen von Behinderten „überzogen“ seien (2005: 8,3 %). Ebenso meinen 12,7 % der Befragten, dass für Behinderte in Deutschland zu viel Aufwand betrieben werde (2005: 15,2 %). Dass Menschen mit Behinderungen zu viel Vergünstigungen erhalten würden, wurde von 8 % behauptet (2005:7,5 %).

Islamophobie

Islamophobie drückt sich in einer generell ablehnenden Haltung gegenüber muslimischen Personen und allen Glaubensrichtungen, Symbolen und religiösen Praktiken des Islams aus. So sind 2007 29 % der Befragten der Auffassung, dass Muslimen die Zuwanderung nach Deutschland untersagt werden sollte (2004: 24 %). Und 39 % der Befragten fühlen sich durch „die vielen Muslime“ wie Fremde im eigenen Land (2004: 35,1 %).

Klassischer Sexismus

Das Phänomen des „klassischen Sexismus“ bezieht sich auf geschlechtsdiskriminierende Vorstellungen. So sollen sich Frauen nach der Auffassung von 28,5 % der Befragten im Jahr 2007 wieder auf die „angestammte“ Rolle der Ehefrau und Mutter besinnen (2002: 29,4 %; 2004: 29,3 %). Und 18 % stimmten der Aussage zu, dass es für eine Frau wichtiger sein sollte, ihrem Mann bei seiner Karriere zu helfen, als selbst Karriere zu machen (2004: 15,6 %).

Etabliertenvorrechte

Etabliertenvorrechte umfassen die von Alteingesessenen, gleich welcher Herkunft, beanspruchten raum-zeitlichen Vorrangstellungen, die auf eine Unterminierung gleicher Rechte hinauslaufen und somit die Gleichwertigkeit unterschiedlicher Gruppen verletzen. Für 35,1 % der Befragten im Jahr 2007 sollten diejenigen, die schon immer hier leben, mehr Rechte haben als solche, die später zugezogen sind (2002: 40,9 %; 2004: 35,5 %). Und wer neu sei, solle sich erst mal mit weniger zufrieden geben; 52,8 % vertreten eine solche Auffassung (2002: 57,8 %; 2004: 61,5 %).

Abwertung von Langzeitarbeitslosen

2007 wurde erstmals die Diskriminierungsform Abwertung von Langzeitarbeitslosen erhoben. Der Aussage, dass die meisten Arbeitslosen nicht wirklich daran interessiert seien, einen Job zu finden, schlossen sich 49,3 % der Befragten an. 60,8 % fänden es empörend, wenn Langzeitarbeitslose sich auf Kosten der Gesellschaft ein bequemes Leben machten.

Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland

2008 wurden die Ergebnisse aus Anlass des 20jährigen Bestehens der Vereinigung von West- und Ostdeutschland im Sammelband „Deutsche Zustände. Band 7″ unter dem Aspekt der Wiedervereinigung interpretiert. In einem Artikel für Die Zeit betonte Wilhelm Heitmeyer, dass Ost- und Westdeutschland noch immer gespalten seien und dass sich viele Ostdeutsche benachteiligt fühlten. Dies habe fatale Auswirkungen für “Minderheiten". Wilhelm Heitmeyer gibt zu bedenken:

„Betrachtet man die Entwicklung des Syndroms der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit für den Zeitraum von 2002 bis 2008 aus der Ost-West Perspektive, dann zeigen sich differenzierte Verläufe. Bei fünf der insgesamt zehn Elemente sind die Werte im Osten 2008 höher als in Westdeutschland. Dagegen sind in der westdeutschen Bevölkerung sexistische Einstellungen, wenngleich mit abnehmender Tendenz, nach wie vor stärker vertreten.“[2]

Literatur

Die Ergebnisse des Forschungsprogramms werden jährlich in einer von Heitmeyer herausgegebenen Buchreihe im Suhrkamp Verlag unter dem Titel Deutsche Zustände veröffentlicht. Bisher sind sechs Folgen der Buchreihe erschienen (2002–2007).

  • Folge 1, ISBN 3-518-12290-8
  • Folge 2, ISBN 3-518-12332-7
  • Folge 3, ISBN 3-518-12388-2
  • Folge 4, ISBN 3-518-12454-4
  • Folge 5, ISBN 3-518-12484-6
  • Folge 6, ISBN 3-518-12525-7
  • Folge 7, ISBN 3-518-12552-4

Zudem wird jährlich ein Forschungsbericht in der Wochenzeitung Die Zeit publiziert. Berichte von 2003, 2005, 2006, 2007 und 2008.

Einzelnachweise

  1. Wilhelm Heitmeyer: Vorwort: Deutsche Zustände. Die siebte Folge: 20 Jahre – Komplizierte Vereinigungsprozesse, in: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.): Deutsche Zustände. Band 7, Frankfurt a. M. 2008: edition suhrkamp, S. 9
  2. Wilhelm Heitmeyer: Ein Land, zwei Gesellschaften. DIE ZEIT, Ausgabe 50, 2008 [1]

Weblinks


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