Tabula rasa

Tabula rasa

Tabula rasa (lat. wörtlich „abgeschabte Schreibtafel“) bedeutet eigentlich: unbeschriebene Tafel (auch: Unbeschriebenes Blatt, leere Tafel).

Hiermit wurde im übertragenen Sinne die Seele (als Ort der Erkenntnis der Menschen) in ihrem ursprünglichen Zustand bezeichnet, das heißt bevor sie Eindrücke von der Außenwelt empfing. Im buchstäblichen Sinn war tabula rasa in der Antike eine wachsüberzogene Schreibtafel, von der nach dem Beschreiben die Schrift wieder vollständig entfernt werden konnte.

Inhaltsverzeichnis

In der Antike

Der Vergleich der Seele mit prägbarem Wachs tritt zuerst in Platons Dialog Theaitetos auf:

Sokrates: So setze mir nun, damit wir doch ein Wort haben, in unsern Seelen einen wächsernen Guß, welcher Abdrücke aufnehmen kann, bei dem einen größer, bei dem andern kleiner, bei dem einen von reinerem Wachs, bei dem andern von schmutzigerem, auch härter bei einigen und bei andern feuchter, bei einigen auch gerade so, wie er sein muß [...] Dieser, wollen wir sagen, sei ein Geschenk von der Mutter der Musen, Mnemosyne; und wessen wir uns erinnern wollen von dem Gesehenen oder Gehörten oder auch selbst Gedachten, das drücken wir in diesen Guß ab, indem wir ihn den Wahrnehmungen und Gedanken unterhalten, wie beim Siegeln mit dem Gepräge eines Ringes. Was sich nun abdrückt, dessen erinnern wir uns und wissen es, solange nämlich sein Abbild vorhanden ist. Hat sich aber dieses verlöscht oder hat es gar nicht abgedruckt werden können, so vergessen wir die Sache und wissen sie nicht.[1]

Im Kontext wird erörtert, was taugliche Erkenntnis eigentlich sei. Die dabei gewonnenen Thesen werden am Ende von Sokrates sämtlich zurückgewiesen. Im Hintergrund steht die platonische Anamnesis-Lehre.

Auch bei Aristoteles, einem Schüler und Kritiker Platons in vielfacher Hinsicht, auch bezüglich dessen Erkenntnistheorie, findet man in seinem Buch Über die Seele einen Vergleich zwischen der Seele und einer Wachstafel:

„Insofern es (das Denken) mit seinem Gegenstand etwas gemein hat, scheint doch der eine Teil (des Denkens) tätig zu sein, der andere empfangend. Das folgt auch, wenn sie selbst (die denkende Seele) gedacht werden kann. [...] die Vernunft [fällt] der Anlage nach mit ihren Gegenständen zusammen [...], aber in Wirklichkeit mit keinem, bevor sie denkt. Man muß sich das vorstellen wie bei einer Tafel, auf der noch nichts wirklich geschrieben steht.[2]

Auch bei den Stoikern findet sich der Vergleich der Seele mit einer Wachstafel.

Mittelalter und Neuzeit

Ab dem Mittelalter wird dieser Gedanke von mehreren Philosophen aufgegriffen, so von Albertus Magnus, Franciscus Mercurius van Helmont und Pierre Gassendi.

Konstruktion bei John Locke

Der Philosoph John Locke verwendet diese Vorstellung als Metapher für den menschlichen Verstand bei der Geburt („ein unbeschriebenes Blatt“). Dieser wird im Verlauf des Lebens durch die Erfahrung geprägt.[3]

Lockes materialistischer Sensualismus nutzte diese These gegen die Lehre von den angeborenen Ideen (ideae innatae), wobei er konkret an die idealistischen Philosophen der Cambridger Schule (Cambridger Platonismus: Henry More, Ralph Cudworth), aber auch an Herbert von Cherbury sowie Descartes und seine Anhänger wie überhaupt an die von Platon und der Stoa beeinflussten Philosophen dachte, die das Vorhandensein angeborener Begriffe und Prinzipien mit Nachdruck vertreten hatten.

Vor allem Grundbegriffe der Mathematik und Logik wurden als angeborene Ideen betrachtet. Mit seinen Auffassungen vertiefte Locke den materialistischen Empirismus von Francis Bacon. Sie übten auf die philosophische Entwicklung des 18. Jahrhunderts und 19. Jahrhunderts einen bedeutenden Einfluss aus. Da aber die vornehmlich materialistischen Anschauungen Lockes sehr widersprüchliche Momente in sich bargen, konnten so verschiedene Philosophen wie George Berkeley und Denis Diderot an seinen Sensualismus anknüpfen.

Kant

Diese Annahmen bei Locke widersprechen der etwa von Immanuel Kant vertretenen Auffassung, gewisse Vorstellungen, wie die Vorstellung des euklidischen Raumes oder die des Gottesbegriffes, seien dem Menschen angeboren.

Neuzeit

In der Neuzeit hat Sigmund Freud den Begriff in seiner Abhandlung „Notiz über den Wunderblock“ (1925) verwendet.

Einige moderne Wissenschaftsdiziplinen haben die Vorstellung von der Tabula rasa in Frage gestellt. Kognitionswissenschaftler haben verschiedene angeborene Mechanismen identifiziert, die Voraussetzung für Lernen sind (z.B. einen Sinn für Objekte und Zahlen, eine Theory of Mind). Laut der Evolutionspsychologie gibt es eine Reihe von kulturellen, gesellschaftlichen, sprachlichen, verhaltensbezogenen und psychologischen Merkmalen, die sich in allen menschlichen Populationen finden. Zweitens können viele menschliche Charakteristika (z.B. Appetit, Rache, Attraktivität) nur als evolutionäre Anpassungen im Kontext der Jäger und Sammler verstanden werden. Die Neurowissenschaft hat gezeigt, dass das pränatale Gehirn komplexe Verschaltungen durchläuft, die genetisch gesteuert werden. Auch verträgt sich die Tabula rasa nicht mit der Erkenntnis der Verhaltensgenetik, dass alle menschlichen Verhaltensmerkmale teilweise erblich sind.[4]

Verwendung im Völkerrecht – Tabula-rasa-Theorie

Dieses Prinzip, auch Clean slate rule, wird im Zuge von Dekolonialisierungsprozessen verwendet, um den „Neustart“ des dekolonialisierten Staats gegenüber anderen Staaten zu erleichtern. Man wollte es dem neuen Staat nicht zumuten, die alten Rechtspositionen der ehemaligen Kolonialherren zu übernehmen. Man spricht hier von der so genannten Spezialsukzession und überlässt dabei dem Gebietsnachfolger die Wahl, welche Rechtspositionen er übernehmen will und welche nicht. Ausgenommen sind hier Verträge über den Grenzverlauf und anderer Hoheitsakte im Grenzgebiet. Im Bereich der Vermögenswerte gehen Schulden des Vorgängers nur in einem bestimmten Anteil über (gerechter Anteil). Eine Ausnahme hiervon ist die Dekolonisierung von Haiti, das nach seiner Unabhängigkeit enorme Abgaben an Frankreich zu leisten hatte, die das Land ruinierten.

Redewendung

Eine übliche Redewendung im Deutschen („Tabula rasa machen“, analog zu „reinen Tisch machen“) bezieht sich auf die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs in der Antike als wiederbeschreibbare Wachstafel. Die Redewendung beschreibt dementsprechend die Intention, mit einer Sache abzuschließen und einen Neuanfang zu wagen – also im übertragenen Sinne die Schreibtafel abzuschaben und ihren Ursprungszustand wiederherzustellen.

Einzelnachweise

  1. Platon: Theaitetos 191c (Übersetzung Friedrich Schleiermacher 1805)
  2. Aristoteles: De anima (Über die Seele) III 4, 429b29-430a2
  3. John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand 1690. Buch 2 Kapitel 1 § 2: (Alle Vorstellungen kommen von der sinnlichen und Selbst-Wahrnehmung.) Wir wollen also annehmen, die Seele sei, wie man sagt, ein weißes, unbeschriebenes Blatt Papier, ohne irgend welche Vorstellungen; wie wird sie nun damit versorgt? (Übersetzung Julius von Kirchmann 1872/73)
  4. Steven Pinker (2006): The Blank Slate. The General Psychologist. Vol. 41, Nr. 1, S. 1-8.

Literatur


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